Im Spannungsfeld von Ökonomie, Ethik und gesellschaftlichen Ansprüchen – Verteilungsgerechtigkeit in der Therapie geriatrischer onkologischer Patienten

Widersprüche/ethische Problemstellungen

Verteilungsgerechtigkeit

Gerechtigkeit ist für die meisten Menschen sehr wichtig – Untersuchungen zeigten sogar die höhere Wertigkeit der Verteilungsgerechtigkeit gegenüber dem absoluten Einkommen.1 Die Vorstellungen, wie konkret verteilt werden soll, gehen aber oft diametral auseinander. Denken wir nur an die Diskussionen im amerikanischen Gesundheitssystem bzw. zwischen Sozialisten und Anhängern einer liberalen Marktwirtschaft.
Wenn es um die Verteilung von gesellschaftlichem Vermögen geht, konkurrieren mit der Medizin andere wichtige Teilbereiche wie Bildung, Soziales, inklusive Pensionen, Infrastruktur etc.
Die Gesundheit ist wohl die Voraussetzung für alle anderen, ein „transzendentales Gut“2 – „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“. Andererseits sind aber auch die anderen genannten Teilbereiche wichtig und haben sogar Rückwirkungen auf die Gesundheit – ich nenne nur die Abhängigkeit der Gesundheit von Bildung und sozialem Status. Höffe sprach von Gesundheit als transzendentalem Gut im „schwachen Sinn“, d. h. ein gelungenes Leben (Glück im Sinne von „Eudaimonie“ 3 bei Aristoteles) ist von vielen Faktoren abhängig.
Somit ist bei der Verteilung von knappen Gütern eine Rationierung von Geldmitteln auch im Bereich der Medizin nicht prima vista als „unethisch“ zu bezeichnen, wenn auch Konflikte von Medizinern und Ökonomen oft auf dieser moralischen Ebene ausgetragen werden. Wesentlich ist das „Wie“ der Rationierung:

  • Eine explizite (offene) Rationierung liegt vor, wenn die Leistungsbegrenzung nach anerkannten Regeln, Leitlinien erfolgt. Ein Beispiel ist die Priorisierung4 (Prioritätensetzung) im Sinne einer Rangfolge von den wichtigsten bis zu den weniger wichtigen Leistungen im Gesundheitswesen. Schwere Krankheiten stehen in Priorisierungs – listen meist ganz oben – eine Leis – tungsbegrenzung würde hier auch mehr der Pflicht zur Hilfeleistung widersprechen als jener der Gerechtigkeit.
  • Von impliziter (verdeckter) Rationierung spricht man, wenn z. B. das Budget des Krankenhauses gedeckelt ist und damit die Rationierung auf die Ebene der Arzt-Patienten-Beziehung heruntergebrochen wird. Dies führt nicht nur zur Verletzung des Prinzips der Gleichbehandlung, einem Grundsatz der Gerechtigkeit, sondern auch zu massiver Belastung der Arzt-Patienten- Beziehung und des ärztlichen Gewissens.

Gesellschaftliche Ansprüche

Primär ist man geneigt, angesichts der Wichtigkeit von Gesundheit für ein gelungenes Leben den Ansprüchen Recht zu geben. Andererseits ist auch an eine gewisse Unersättlichkeit (griech. pleonexia) im Umgang mit frei verfügbaren Gütern als menschliches Faktum zu denken – mit O. Höffe können wir es als „Buffetverhalten“ bezeichnen. Medizin als ständig und kostenlos verfügbares Gut verliert seinen Wert, die für die Gesundheit ebenso wichtige Eigenverantwortung nimmt direkt proportional ab. Von der Tugend der Besonnenheit (bei den alten Griechen sophrosyne) ist sowohl im Bereich der Patienten als auch der Mediziner oft wenig zu erkennen.

Geriatrische Onkologie

Im Konflikt „alt“ versus „jung“ steckt natürlich gesellschaftlicher Sprengstoff, siehe die Diskussion, die Pensionen betreffend, und um einen Ausgleich bemüht sich die „intergenerationale Gerechtigkeit“ im Sinne eines Gebens und Nehmens.
Andererseits: Darf Alter ein Vorwand für Rationierung sein?
Tom Kirkwood, ein britischer Altersforscher, empfahl, das Alter als Kriterium einfach wegzulassen und sich alleine auf den biologischen Zustand zu beziehen.5 Und der Begriff „geriatrische Onkologie“ trifft eigentlich auf den Großteil (60 bis 80 % beträgt der Anteil der > 65-Jährigen bei den häufigsten Tumoren6) der onkologischen Patienten zu. Studiendaten zur onkologischen Therapie geriatrischer Patienten gibt es sehr wenige (lediglich 1–3 % der über 75-Jährigen werden innerhalb von Studien betreut7).

Lösungsansätze

Ich halte mich hierbei an die Thesen meines Lehrers an der Universität Klagenfurt, Peter Heintel. Im persönlichen Gewissen hat Ethik zwar fast immer einen Ort, aber innerhalb von Institutionen bleibt das Gewissen oft ohnmächtig. Dies bedeutet, dass Ethik (die „Frage nach dem Guten“) organisiert werden muss (Prozessethik).8, 9
Dies gilt auch für die Verteilungsgerechtigkeit: Sie muss innerhalb der Gesellschaft, speziell der Institution der Medizin, organisiert werden, d. h. einen Ort und Zeit bekommen, wo sie stattfinden kann.

  • Auf der Ebene der Politik ist ein transparenter, offener Diskurs mit der Bevölkerung zu fordern, wo Fragen der Verteilung, der Rationierung und Priorisierung, der Eigenverantwortung, der intergenerationalen Gerechtigkeit, des „guten Lebens“ etc. diskutiert werden.
  • Auf der Ebene der Wissenschaft ist die Inklusion geriatrischer Patienten in onkologische Studien zu fordern, um ausreichend Daten aus der Evidencebased Medicine für Priorisierungen zu haben.
  • Auf der Ebene der medizinischen Fachgesellschaften sollten Leitlinien und Empfehlungen für landesweite Standards ausgearbeitet und ständig aktualisiert werden, um lokale Ungerechtigkeiten im Sinne impliziter Rationierungen im Bereich einzelner Krankenhäuser oder im niedergelassenen Bereich zu vermeiden.
  • Auf der Ebene der Patientenversorgung (Krankenhäuser, niedergelassener Bereich) gehört die Etablierung von Tumorboards bereits zum Standard, vielleicht nicht überall mit entsprechenden Zeitressourcen ausgerüstet zur Optimierung der Patientenbetreuung.

Wichtig ist auch die Erweiterung des oft etwas eingeengten onkologischen Blicks, von „den Tumor bekämpfenden“ Maßnahmen in Richtung Palliativmedizin. Zum „gelungenen Leben“ gehört nämlich auch ein würdevoller Abschluss.

  • Eine weitere Möglichkeit ist die Etablierung von „Ethikboards“, u. a. mit dem Angebot von Ethikberatung direkt am Ort der Patientenbetreuung, also an den Krankenstationen, aber auch als Gremium für Gespräche zwischen Medizin und Ökonomie – in den letzten Monaten wurde ein solches am Klinikum Klagenfurt initiiert. Es soll ein Ort sein für „Systemtranszendenz“ 10, also für den „Blick über den Tellerrand“ der eigenen Institution.
  • Auf der Ebene der Arzt-Patienten-Beziehung gibt es keine Gerechtigkeit ohne das Schaffen von entsprechenden Zeitressourcen, damit die Verbindung von Evidence-based Medicine auf der einen Seite mit Empathie und Intuition („ärztlichem Blick“) auf der anderen Seite, von Scientia (Wissenschaft) und Ars (Kunst) stattfinden kann.

1 Siehe auch: Wilfried Schönbäck, „Sozioökonomie als multidisziplinärer Forschungsansatz: Eine Gedenkschrift für Egon Matzner“, Springer 2008
2 Siehe auch: O. Höffe, Medizin ohne Ethik? Suhrkamp 2002
3 Siehe auch: Aristoteles, Nikomachische Ethik
4 Ökonomie und Medizinethik, Annemarie Gethmann-Siefert und Felix Thiele, Hrsg., Verlag Neuzeit und Gegenwart 2008; S 127ff, S 290f
5 siehe auch T. Kirkwood 1999: Time of our lives. The Science of Human Ageing, London
6 Arbeitsgemeinschaft bevölkerungsbezogener Krebsregister in Dt: Krebs in Dt., Saarbrücken 2002
7 Hutchins et al., „Underrepresentation of patients 65 years of age and older in cancer-treatment trials“, NEJM 1999; 341:2061–67
8 P. Heintel, L. Krainer: Prozessethik
9 M. Kanatschnig, Kritik der medizinischen Vernunft, Dissertation an der Universität Klagenfurt 06/2009
10 P. Heintel