Gerechtigkeit ist für die meisten Menschen sehr wichtig – Untersuchungen zeigten sogar die höhere Wertigkeit der Verteilungsgerechtigkeit gegenüber dem absoluten Einkommen.1 Die Vorstellungen, wie konkret verteilt werden soll, gehen aber oft diametral auseinander. Denken wir nur an die Diskussionen im amerikanischen Gesundheitssystem bzw. zwischen Sozialisten und Anhängern einer liberalen Marktwirtschaft.
Wenn es um die Verteilung von gesellschaftlichem Vermögen geht, konkurrieren mit der Medizin andere wichtige Teilbereiche wie Bildung, Soziales, inklusive Pensionen, Infrastruktur etc.
Die Gesundheit ist wohl die Voraussetzung für alle anderen, ein „transzendentales Gut“2 – „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“. Andererseits sind aber auch die anderen genannten Teilbereiche wichtig und haben sogar Rückwirkungen auf die Gesundheit – ich nenne nur die Abhängigkeit der Gesundheit von Bildung und sozialem Status. Höffe sprach von Gesundheit als transzendentalem Gut im „schwachen Sinn“, d. h. ein gelungenes Leben (Glück im Sinne von „Eudaimonie“ 3 bei Aristoteles) ist von vielen Faktoren abhängig.
Somit ist bei der Verteilung von knappen Gütern eine Rationierung von Geldmitteln auch im Bereich der Medizin nicht prima vista als „unethisch“ zu bezeichnen, wenn auch Konflikte von Medizinern und Ökonomen oft auf dieser moralischen Ebene ausgetragen werden. Wesentlich ist das „Wie“ der Rationierung:
Primär ist man geneigt, angesichts der Wichtigkeit von Gesundheit für ein gelungenes Leben den Ansprüchen Recht zu geben. Andererseits ist auch an eine gewisse Unersättlichkeit (griech. pleonexia) im Umgang mit frei verfügbaren Gütern als menschliches Faktum zu denken – mit O. Höffe können wir es als „Buffetverhalten“ bezeichnen. Medizin als ständig und kostenlos verfügbares Gut verliert seinen Wert, die für die Gesundheit ebenso wichtige Eigenverantwortung nimmt direkt proportional ab. Von der Tugend der Besonnenheit (bei den alten Griechen sophrosyne) ist sowohl im Bereich der Patienten als auch der Mediziner oft wenig zu erkennen.
Im Konflikt „alt“ versus „jung“ steckt natürlich gesellschaftlicher Sprengstoff, siehe die Diskussion, die Pensionen betreffend, und um einen Ausgleich bemüht sich die „intergenerationale Gerechtigkeit“ im Sinne eines Gebens und Nehmens.
Andererseits: Darf Alter ein Vorwand für Rationierung sein?
Tom Kirkwood, ein britischer Altersforscher, empfahl, das Alter als Kriterium einfach wegzulassen und sich alleine auf den biologischen Zustand zu beziehen.5 Und der Begriff „geriatrische Onkologie“ trifft eigentlich auf den Großteil (60 bis 80 % beträgt der Anteil der > 65-Jährigen bei den häufigsten Tumoren6) der onkologischen Patienten zu. Studiendaten zur onkologischen Therapie geriatrischer Patienten gibt es sehr wenige (lediglich 1–3 % der über 75-Jährigen werden innerhalb von Studien betreut7).
Ich halte mich hierbei an die Thesen meines Lehrers an der Universität Klagenfurt, Peter Heintel. Im persönlichen Gewissen hat Ethik zwar fast immer einen Ort, aber innerhalb von Institutionen bleibt das Gewissen oft ohnmächtig. Dies bedeutet, dass Ethik (die „Frage nach dem Guten“) organisiert werden muss (Prozessethik).8, 9
Dies gilt auch für die Verteilungsgerechtigkeit: Sie muss innerhalb der Gesellschaft, speziell der Institution der Medizin, organisiert werden, d. h. einen Ort und Zeit bekommen, wo sie stattfinden kann.
Wichtig ist auch die Erweiterung des oft etwas eingeengten onkologischen Blicks, von „den Tumor bekämpfenden“ Maßnahmen in Richtung Palliativmedizin. Zum „gelungenen Leben“ gehört nämlich auch ein würdevoller Abschluss.
1 Siehe auch: Wilfried Schönbäck, „Sozioökonomie als multidisziplinärer Forschungsansatz: Eine Gedenkschrift für Egon Matzner“, Springer 2008
2 Siehe auch: O. Höffe, Medizin ohne Ethik? Suhrkamp 2002
3 Siehe auch: Aristoteles, Nikomachische Ethik
4 Ökonomie und Medizinethik, Annemarie Gethmann-Siefert und Felix Thiele, Hrsg., Verlag Neuzeit und Gegenwart 2008; S 127ff, S 290f
5 siehe auch T. Kirkwood 1999: Time of our lives. The Science of Human Ageing, London
6 Arbeitsgemeinschaft bevölkerungsbezogener Krebsregister in Dt: Krebs in Dt., Saarbrücken 2002
7 Hutchins et al., „Underrepresentation of patients 65 years of age and older in cancer-treatment trials“, NEJM 1999; 341:2061–67
8 P. Heintel, L. Krainer: Prozessethik
9 M. Kanatschnig, Kritik der medizinischen Vernunft, Dissertation an der Universität Klagenfurt 06/2009
10 P. Heintel