Ist ein spezielles Ausbildungskonzept nötig?

Die Entschlüsselung des humanen Genoms und die Entwicklung hocheffizienter, bioinformatischer Methoden haben zu einem exponentiellen Wachstum des biomedizinischen Wissens geführt. Zu den Gebieten, die hiervon am meisten profitieren, gehören insbesondere die Hämatologie und die Onkologie. Aufgrund der wissenschaftlichen Errungenschaften können nun mehr Patienten mit kurativem Ansatz behandelt werden. Komplexe und aggressive Therapiestrategien ermöglichen es, auch betagte Patienten mit Komorbiditäten erfolgreich zu behandeln. Eine Reihe von Tumorerkrankungen bleibt zwar weiterhin unheilbar, viele maligne Erkrankungen werden aber wahrscheinlich durch eine personalisierte Medizin zu chronischen Krankheiten transformiert1.

Kritisch kranke Tumorpatienten vernachlässigt

Die zunehmende Komplexität der Krebsmedizin hat zur Entwicklung von so genannten Comprehensive Cancer Centers geführt, um in einem multidisziplinären Ansatz möglichst viel Kompetenz an das Krankenbett zu bringen. Nach unserer Einschätzung vernachlässigen die gängigen Konzepte allerdings die kompetente Versorgung von kritisch kranken Tumorpatienten. Wir glauben, dass dieses Feld erschlossen werden muss. Denn wir werden uns zukünftig ganz ungewohnten klinischen Szenarien stellen müssen. Hier nur ein Beispiel: Durch den Einsatz von Small Molecules gelingt es, die Lebenserwartung eines Patienten von 6 auf 36 Monate zu verlängern. Es stellt sich nun die Frage, wie dies unsere Einstellung zur invasiven Beatmung des Patienten und zum intensivmedizinischen Management allgemein verändert. Wie viele Beatmungstage sind sinnvoll? Sollten diese Patienten nur mit nichtinvasiven Beatmungsverfahren behandelt werden oder kommt in ausgewählten Fällen eventuell sogar eine extrakorporale Oxygenierung in Frage2? Ist eine Sepsistherapie mit mehreren Vasopressoren für einen definierten Zeitraum sinnvoll oder prinzipiell abzulehnen? Um diese Fragen kompetent zu beantworten, brauchen wir die Expertisen von Vertretern zahlreicher Fachdisziplinen wie des gastroenterologischen Onkologen, des pulmologischen Onkologen, des Hämatologen, des Internisten, des Intensivmediziners und auch des Palliativmediziners. Solche Expertisen müssen wir am Patientenbett auf der Intensivstation vorhalten, wenn wir diese Patienten richtig versorgen wollen.

Brückenschlag zwischen Onkologie und Intensivmedizin

Hierzu fehlt es allerdings an einer gezielten Ausbildung, die entsprechendes Wissen zusammenführt und eine Brücke zwischen diesen zum Teil sehr unterschiedlichen Fachdisziplinen baut. Tatsache ist, dass das Outcome vieler Tumorpatienten, insbesondere in der Hämatologie, während eines stationären Aufenthaltes viel mehr durch Komorbiditäten, Infektionen, akute Notfallsituationen etc. bestimmt wird, als durch das Tumorstadium per se3. Erfreulicherweise konnte gezeigt werden, dass sich das Überleben von Tumorpatienten auf Intensivstationen im Laufe der vergangenen Jahre verbessert hat, dies selbst im Falle stattgehabter Reanimationen4. Trotzdem bleibt es schwierig, eine Prognose für diese Patienten zu erstellen, da etablierte Risikostratifizierungen, wie zum Beispiel APACHE 2 oder SOFA für dieses Patientengut nicht ausreichend validiert sind5. Dies ist insbesondere von Bedeutung, da gezeigt werden konnte, dass die Wahrnehmung der Prognose eines Patienten durch seinen behandelnden Arzt auf dem Gebiet der Intensivmedizin einen direkten Einfluss auf das Überleben hat.
Als Konsequenz verwehren viele Institutionen Tumorpatienten prinzipiell die Aufnahme auf Intensivstationen oder sind mit der Indikationsstellung sehr zurückhaltend6. Eine aktuelle Studie zeigt aber, dass Tumorpatienten, die als zu fit für die Intensivstation angesehen wurden, eine hohe akute Mortalität haben können, während bei Patienten, die als zu krank beurteilt wurden, um noch von einem Intensivaufenthalt zu profitieren, erstaunliche Therapieerfolge auf der Intensivstation erzielt werden konnten.

Neue Konzepte zur Triage und Prognoseerstellung nötig

Wir benötigen daher dringend neue Konzepte zur Triage und Prognoseerstellung von Tumorpatienten mit intensivpflichtigen Krankheitsbildern. Solche Entscheidungen und Beurteilungen können nur durch ein interdisziplinäres Team mit entsprechender Expertise in der Behandlung kritisch kranker Tumorpatienten getroffen werden.
Eine weitere Herausforderung ist die global steigende Lebenserwartung, die dazu führt, dass wir zunehmend ältere Patienten mit signifikanten Komorbiditäten behandeln werden. Dass dies möglich ist, zeigen zum Beispiel die Erfolge der dosisreduzierten Konditionierung in der allogenen Stammzelltransplantation. Aus dem veränderten Szenario ergeben sich neue Herausforderungen. Inzwischen werden bereits regelhaft Patienten mit über 70 Jahren mit bestehender chronischer Nieren- und Herzinsuffizienz erfolgreich transplantiert. Es stellt sich nun unter anderem die Frage, wie ein Patient mit Sepsis und Neutropenie zu behandeln ist, der mehrere Fremdkörper in sich trägt, die für ihn vital erforderlich sind (Schrittmacher, PTFE-Shunts etc.)? Vollkommen unklar ist auch, wie die Pharmakodynamik von Small Molecules durch moderne Dialyseverfahren (SLEDD) beeinflusst wird.

Transfer von Wissen zwischen den Fachbereichen

Um diesen sich ändernden Ansprüchen mittelfristig Rechnung zu tragen, muss die intensivmedizinische Kompetenz für Tumorkranke schrittweise weiterentwickelt werden. Dazu gehört einerseits die Verstärkung einer interdisziplinären Behandlungskultur analog zu den Comprehensive Cancer Centers, aber auch die Identifikation und Entwicklung einer fachlichen Spezialisierung: Wie kann also das onkologische Fachwissen am besten auf die Intensivstation transferiert und wie kann die Intensivmedizin für Tumorpatienten optimiert werden?
Momentan ist die Versorgungslage sehr heterogen. Zahlreichen Krebspatienten wird intensivmedizinische Versorgung nicht angeboten, weitere werden mit vollkommen uneinheitlichen Konzepten auf ganz unterschiedlichen Intensivstationen (chirurgische, medizinische oder neurochirurgische Intensivstation etc.) versorgt. Onkologen und Intensivmediziner sind in aller Regel sehr unterschiedliche Charaktere. Onkologen haben in der Regel Zeit, ausreichende Gespräche mit den Patienten zu führen und die optimale Behandlungsstrategie in Ruhe zu recherchieren. Dabei haben sie häufig die Gelegenheit, auf der Basis von validierten Informationen in Ruhe Entscheidungen zu treffen. Im Gegensatz dazu haben Intensivmediziner wenig Möglichkeit für Kommunikation und müssen häufig schnelle, komplexe Entscheidungen treffen, ohne genug Zeit zu haben, Grundlagen oder Hintergründe ausreichend zu explorieren.

Zunehmendes Interesse an dualer Qualifikation

Aufgrund dieser Unterschiedlichkeit hat es Sinn, über eine gemeinsame Zusatzweiterbildung nachzudenken, die nach abgeschlossener Facharztausbildung Intensivmedizinern Grundlagen der Hämatoonkologie und Onkologen Grundkenntnisse der Intensivmedizin nahebringt und darüber hinaus beiden Gruppen Einblicke in die jeweils andere Herangehensweise und Kultur ermöglicht.
Einen anderen Ansatz verfolgen wir in unserem Klinikum, wo jungen Ärzten eine duale Ausbildung in Onkologie und Intensivmedizin angeboten wird. Zunächst durchlaufen alle eine Weiterbildung zum Facharzt für Innere Medizin, danach besteht die Möglichkeit sowohl zur Spezialisierung in Onkologie als auch in Intensivmedizin. Während Assistenten in onkologischer Weiterbildung früher kaum an der Intensivmedizin interessiert waren, erleben wir in den vergangenen Jahren ein zunehmendes Interesse an einer dualen Qualifikation.

Duale Qualifizierung durch Aus- und Fortbildung

Unsere onkologische Abteilung ist Teil eines regionalen Comprehensive Cancer Centers und die internistische Intensivstation, die derselben Abteilung angehört, Teil eines Portals für Notfall- und Intensivmedizin. Daraus ergibt sich eine sehr enge Zusammenarbeit mit den Nachbarspezialitäten wie Radiotherapie, Gastroenterologie, Palliativmedizin, Chirurgie und Psychologie auf der einen Seite und Anästhesie und Notfallmedizin sowie spezialisierten Intensivabteilungen auf der anderen Seite. Die Leitung der Intensivstation liegt in den Händen eines Internisten mit dem Abschluss Intensivmedizin sowie Hämatoonkologie, als Stationsärzte sind Fachärzte in Weiterbildung tätig, die die Zusatzausbildungen anstreben. Aus diesem Pool rekrutieren sich zunehmend Mitarbeiter für Hintergrunddienst-Tätigkeiten.
Auffallend ist, dass früher onkologisch interessierte Ärzte der Intensivmedizin sehr ablehnend gegenüberstanden und vice versa. Heute profitieren Patienten von der Kombination der Tugenden eines Onkologen (vorsichtiges Abwägen, Interesse an molekularer Medizin, Gesprächsführung) mit den Kernqualitäten eines Intensivmediziners (Entscheidungsfreude, hohes Arbeitstempo, interventionelle Kompetenz) durch einer optimierte Versorgung.
Ein dritter Ansatz ist die fokussierte Weiterbildung in den Fachrichtungen Intensivmedizin oder Hämatoonkologie mit einem Curriculum, das über einzelne Kurse und kürzere Aufenthalte an den jeweils anderen Stationen bzw. Kliniken für die übergreifende Tätigkeit qualifiziert.
Nach unserer Einschätzung sollte für den wirklich Interessierten eine fundierte, curriculare Ausbildung mit Prüfung und Abschluss angeboten werden, die ein definiertes Berufsbild reflektiert. Sinnvoll erscheint eine Ausbildung zunächst zu einem Facharzt, dann zu einer primären Subspezialität (Schwerpunkt), gefolgt von einer sekundären Subspezialität, z. B. für 18 Monate. Die sekundäre Subspezialität „hämatoonkologische Intensivmedizin“ sollte von beiden Schwerpunktfächern – Intensivmedizin und Hämatoonkologie – gemeinsam konzipiert werden. Je nach Vorbildung sollten die Schwerpunkte differenziell gesetzt werden. Wichtig ist, dass im Rahmen einer solchen Ausbildung das jeweilige Fach nicht nur unter Berücksichtigung des zukünftigen Patientenguts, nämlich kritisch kranke hämatoonkologische Patienten, sondern darüber hinaus auf den jeweiligen anderen Normalstationen gelehrt wird. Ein Intensivmediziner zum Beispiel sollte auf einer hämatoonkologischen Normalstation das hämatoonkologische Handwerk kennen lernen, während ein Hämatoonkologe auch auf einer nicht hämatoonkologischen Intensivstation, z. B. einer Cardiac ICU, tätig sein sollte. Nur so wird es möglich sein, seltene oder komplexe Krankheitsbilder wirklich umfassend zu würdigen und kompetent zu behandeln.

Den Weiterbildungserfolg messbar machen

Der Erfolg einer solchen Weiterbildung muss messbar sein, beispielsweise anhand von Endpunkten wie verbesserte Qualität der Patientenversorgung (Mortalitätsraten, Aufenthaltsdauer etc.). Sinnvoll wäre es, in einem Zentrum vor und nach Einführung einer solchen Ausbildung eine Evaluation durchzuführen. Dies ist aus mehreren Gründen essenziell. Denn erstens kostet eine solche Ausbildung Geld und muss daher gerechtfertigt sein. Zweitens stellt sie einen erheblichen Aufwand für die Ärzte dar, für die diese Weiterbildung die relativ unselbständige Tätigkeit verlängert. Drittens muss vor dem Hintergrund der notwendigen Verbesserung der Versorgung hämatoonkologischer Patienten auf der Intensivstation auch ein qualitativer Zugewinn nachweisbar sein.
Eine solche Maßnahme könnte eine sinnvolle Basis dafür darstellen, die eigene Subspezialität „Intensivmedizin für onkologische Patienten“ zu definieren und Algorithmen für die Weiterentwicklung eines solchen Faches zu identifizieren.

Resümee

Die Anzahl von Tumorpatienten, die einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen, steigt dramatisch an. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von unbeantworteten Fragen zum optimalen Management dieser Patienten. Es bedarf dringend nicht nur neuer Versorgungsstrategien, sondern auch neuer Konzepte, um Ärzte auf die Versorgung dieses Patientengutes im Spannungsfeld zwischen Onkologie und Intensivmedizin gut vorzubereiten. Diese Herausforderung kann nur gemeistert werden, wenn die Fächer Onkologie und Intensivmedizin eine gemeinsame Kultur sowie gemeinsame Diagnose- und Behandlungsstrategien entwerfen.

1 Murdoch D et al., Curr Opin Oncol 2008; 20:104–111
2 Pène F et al., J Clin Oncol 2006; 24:643–649
3 Massion PB et al., Crit Care Med 2002; 30:2260–2270
4 Soares M et al., Crit Care Med 2010; 38:9–15
5 Soares M et al., Crit Care 2004; 8:R194–203
6 Pène F et al., Intensive Care Med 2008; 34:790–792