Onkologie (er)fordert Herz und Hirn

Wir haben Professor Preusser als neuen Abteilungsleiter zu seinen Konzepten, Zielsetzungen und seiner persönlichen Wahrnehmung der Onkologie befragt und dabei feststellen können: Die Onkologie bietet eine wissenschaftliche Dynamik, die für junge Menschen als beschleunigendes Moment in der Karriereplanung dienen kann. Zudem bietet sie Raum für Reflexion und zum Nachdenken, weil Onkologie nicht nur nach Kochrezepten funktioniert. Diese leichte Entschleunigung wiederum kann zunehmend wichtiger werden, je älter man wird.

SPECTRUM Onkologie: Herr Professor Preusser, Sie haben mit 1. Oktober dieses Jahres eine sehr verantwortungsvolle und herausfordernde Position übernommen, Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie. Eigentlich faszinierend und ein Zeichen Richtung Zukunft, dass heute junge Menschen in Positionen berufen werden, die früher vielleicht älteren Generationen vorbehalten waren?

Univ.-Prof. Dr. Matthias Preusser: Es ist schon eine besondere Auszeichnung, ein so renommiertes und international anerkanntes Institut übernehmen zu können. Mit dem Antreten einer jüngeren Generation ergibt sich in langfristiger Perspektive aber auch die Chance, Angelegenheiten in Ruhe und mit Konsequenz zu managen. Die Onkologie ist zwar ein schnelllebiges Feld, in dem aber auch Stabilität und Kontinuität gefragt sind.

Mit welchen Konzepten treten Sie Ihr Amt an?

Es gibt zwei Aspekte, die grundsätzlich erfüllt sein müssen: Wir haben einerseits einen Auftrag für den Patienten hier und jetzt, eine möglichst gute Patientenversorgung auf Basis der aktuell verfügbaren Evidenz sicherzustellen. Wir haben als Universität aber auch den Auftrag, uns um den Patienten der Zukunft zu kümmern. Das heißt, wir müssen in Forschung investieren, das gilt speziell für den Bereich der translationalen Forschung, aber natürlich auch für die klinische Forschung. Hier sehe ich einen Schwerpunkt im Bereich von Phase-I-Studien bzw. im Aufbau von frühen klinischen Studienphasen, zusätzlich zu dem bei uns ja schon bestehenden Angebot an Phase-II/III-Studien. Die Ausbildung junger Kollegen an unserer Abteilung ist mir persönlich ein großes Anliegen, ich denke, dafür gibt es breiten Spielraum. Das alles verknüpft damit, dass wir zu mehr Corporate Identity finden müssen im Sinne einer konstruktiven und harmonischen Zusammenarbeit untereinander, aber auch zwischen den Berufsgruppen.

Die Klinische Abteilung für Onkologie am AKH ist ja die größte klinische onkologische Abteilung in Wien und hat parallel dazu den Auftrag der Forschung. Das Spannungsfeld, sich nicht in der Routineversorgung der onkologischen Patienten „abzuarbeiten“, sondern wirklich noch konkurrenzfähige Forschung zu betreiben, ist, sagen wir, herausfordernd. Gibt es Konzepte, die eine Neupositionierung andenken, oder soll das System in der aktuellen Form aufrecht bleiben?

Wir müssen ganz klar daran arbeiten, dass wir mehr Routinepatienten auslagern und uns im Kern auf universitäre Fragestellungen fokussieren – auf seltene Entitäten, schwierige Konstellationen. Es muss nicht jede eindeutig adjuvante oder klar vorgegebene Erstlinientherapie bei uns am Haus laufen. Die Vorstellung ist, dass wir solche Patienten bzw. deren Nachsorge mittelfristig an assoziierte Spitäler auslagern. Das ist auch das Bestreben des Vienna Cancer Centers, VCC, daher ist es wichtig, dass unsere Abteilung sich in diese Initiative einbringt. Man darf dabei die verschiedenen Einflussfaktoren, auch seitens der Industrie, nicht unterschätzen: Wenn wir weiterhin große internationale Studien machen wollen, dann brauchen wir entsprechende Strukturen zur besseren Vernetzung der klinischen Forschung.
Patienten kommen aus den umliegenden Bundesländern, wollen aber eine wohnortnahe Versorgung, was zum Konzept der „Community Oncology“ geführt hat, bei dem eine Vernetzung mit lokalen und regionalen Schwerpunktspitälern mit einer Art Consulting-Funktion durch das AKH Wien stattfindet. Ein gutes Modell?
Aus meiner Sicht ein attraktives Modell, weil wir immer mehr vor der Herausforderung stehen, mit zunehmend komplexeren Therapieformen auch einen adäquaten Wissenstransfer sicherzustellen. Das ist die eine Seite. Es ist aber auch für Patienten nicht immer einfach, einen weiten Weg an die Klinik zurückzulegen, immer wieder mit Wartezeiten konfrontiert zu sein, und gleichzeitig sollen Studienprotokolle und Therapieschemata exakt eingehalten werden. Daher sehe ich darin eine wichtige Initiative, die sich um einen Brückenschlag zwischen spezialisierter Expertise und wohnortnaher Versorgung bemüht.

Ist der Spagat weiterhin zu schaffen, nämlich zwischen dem berechtigten Anspruch des Patienten, die wirksamsten, besten, modernsten Therapien zu bekommen, und dem politischen Druck, kostengünstig agieren zu müssen? Aus der Sicht des Arztes, würde man meinen, sind Medizin und Ökonomie nicht gut kompatibel, weil die Zielsetzungen ganz andere sind?

Das ist richtig, aber auch ein Thema, bei dem eine einzelne Abteilung nicht autonom agieren kann, hier spielen politische Prozesse eine Rolle. Die Bestrebungen müssen aber dahin gehen, die Versorgung flächendeckend sicherzustellen. Es muss klar geregelt sein, welche Therapien indiziert sind, mit einem entsprechenden klinischen Benefit, das muss dann für jedes Spital gelten, und welche Therapien nur in Ausnahmefällen oder vielleicht auch gar nicht eingesetzt werden. Es gibt ausgehend von der Europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie, ESMO, Bestrebungen, internationale Standards zu definieren, woran wir mitarbeiten. Letztlich ist es eine gesellschaftspolitische Frage, in die verschiedene Stakeholder ihre Sicht einbringen, die es dann gesellschaftlich zu lösen gilt. Wir stehen aber nicht immer nur vor Kostensteigerungen, es gibt auch kostendämpfende Aspekte wie etwa die Entwicklung von Biosimilars, die man sinnvoll nutzen kann.

Wann ist Ihre Work-Life-Balance erfüllt? 50 : 50, 70 : 30, wo pendelt sich die Waage bei Ihnen ein?

Das Konzept der Work-Life-Balance ist auf mich schwierig anzuwenden, weil die Arbeit für mich ein wesentlicher Teil meines Lebens ist, die mich auch erfüllt. Der Begriff suggeriert ja einen gewissen negativen Touch der Arbeit gegenüber dem Leben, also eine Trennung der beiden, was auf mich so nicht zutrifft.

Die Arbeit ändert sich aber, wenn man vom Wissenschafter zum Manager wird und sich mit Belangen beschäftigt, die bislang weniger ein Thema waren?

In dieser Hinsicht muss ein Umdenken stattfinden, das stimmt und ist tatsächlich eine Herausforderung, die von mir aber gerne angenommen wird. Ich denke, ich habe das auf meinem Weg schon unter Beweis gestellt, etwa durch den Wechsel von der Neuropathologie in die Klinik, noch dazu aus einer etablierten Position heraus, das erfordert auch ein Umdenken. Ich sehe darin aber vor allem neue Chancen und freue mich darauf, konkrete Vorstellungen umsetzen zu können. Ein sichtbares Zeichen ist von mir bereits gesetzt worden, indem ich meine Ordination geschlossen habe und auch nicht in Belegspitälern arbeite, um mich vollständig auf die akademische Arbeit und die Entwicklung der Abteilung zu konzentrieren.

Sie sind gemeinsam mit Professor Christoph Zielinski Herausgeber der Zeitschrift ESMO Open, einem Fachjournal der Europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie, und haben sich innerhalb der ESMO stark für junge Onkologen eingesetzt. Für diese ist Work-Life-Balance vielleicht doch ein Thema, der Begriff wurde ja von jüngeren Menschen geprägt?

Es gibt einen spürbaren Unterschied zwischen den Generationen, aber nicht pauschal, das sehe ich deutlich an meiner Abteilung. Es gibt sicher Unterschiede in der Art der Herangehensweise, das empfinde ich aber nicht als Nachteil, sondern als Aufgabe, sich auf jüngere Kollegen und ihre Denk
weise einzulassen. Mein Eindruck ist, dass es der nachkommenden Generation wichtig ist, in dem was sie tun, einen Sinn zu sehen. Ich denke gerade in einem Fachgebiet wie der Onkologie, das häufige Erkrankungen betrifft und sich um schwer kranke Menschen kümmert, kann man einen gesellschaftlich hohen Nutzen auch sehr gut darstellen. Man kann deutlich machen, dass das eigene Tun hier und jetzt Menschen in schwierigen Situationen hilft, aber auch zukünftigen Generationen durch Forschung und Lehre. Diese Aspekte, wenn man sie vermittelt, werden auch sinnstiftend und erfüllend wahrgenommen. Das sollte eigentlich generationsübergreifend gelten.

Also mehr Heart-Brain-Balance als Work-Life-Balance. Ist die universitäre Onkologie für junge Menschen attraktiv, oder sollte sie attraktiver gestaltet werden?

Prinzipiell ist sie sehr attraktiv. Es gibt in der Medizin, und ich sage das bewusst aus meiner persönlichen Prägung heraus, kein mit der Onkologie vergleichbares Fachgebiet, in dem derart tiefgreifende Veränderungen stattfinden, was ganz einfach spannend ist. Man darf nicht vergessen: Unsere Abteilung ist im europäischen Raum eine der größten onkologischen Abteilungen, an der wir mit Ausnahme des Melanoms alle onkologischen Erkrankungen behandeln. Das unterscheidet uns von anderen Ländern, in denen die internistisch medizinische Onkologie nicht derart breit aufgestellt ist, sondern wo onkologische Patienten oft in den Organfächern behandelt werden. Daraus resultiert ein gewisser Wettbewerbsvorteil, was klinische Studien, aber auch was die Ausbildung betrifft. Wir haben hohe Fallzahlen in seltenen Indikationen und gerade auch bei diesen international renommierten Spezialisten, z. B. bei Sarkomen, neuroendokrinen Tumoren oder auch Hirntumoren. Vielleicht müssen wir besser werden, diese Voraussetzungen jungen Kollegen entsprechend zu kommunizieren. Wichtig jedenfalls ist eine gut strukturierte Ausbildung, mit der man Kollegen noch besser abholen kann, ihre Karrierechancen von Anfang an klar vorzeichnet.

 

 

Matthias Preusser ist deutscher Staatsbürger, lebt seit seiner Schulzeit in Wien, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Internistische Onkologie. Nach einem einjährigen Studienaufenthalt an der University of Southwestern Louisiana (USL), Lafayette, USA, studierte Matthias Preusser Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, wo er 2003 auch promovierte und seine Ausbildung zum Facharzt für Internistische Medizin begann.

2009 habilitierte er sich auf dem Gebiet der Experimentellen Onkologie und 2016 auf dem Gebiet der Inneren Medizin. 2011 erfolgte ein Forschungsaufenthalt am Deutschen Krebsforschungszentrum der Universität Heidelberg. 2013 absolvierte er einen Ausbildungsaufenthalt an der Upper Gastro-Esophageal Tumors Unit des Memorial Sloan Kettering Cancer Center, New York. Preusser ist in Leitungsfunktionen für internationale Fachgesellschaften wie der European Society for Medical Oncology (ESMO), der European Association of Neuro-Oncology (EANO) und der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) tätig, ist Stellvertretender Chefredakteur der Fachzeitschrift ESMO Open und Herausgeber eines Lehrbuchs für Innere Medizin. Forschungsschwerpunkt von Matthias Preusser sind Hirntumoren. Er koordiniert die Central Nervous System Tumor Unit (CCC-CNS) und leitet das Tumorboard Immunonkologie am CCC Wien.