Die immer billiger werdende Sequenzierung des gesamten Genoms und aussagekräftige genomische Biomarker sind derzeit die wichtigsten Instrumente auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin. Erste Erfolge konnten bereits verbucht werden. Die Onkologie ist ein Schrittmacher bei der Entwicklung hin zu individuellen, maßgeschneiderten Therapiestrategien für den einzelnen Patienten.
Bisher erbrachten 18 genomweite Assoziationsstudien (GWAS) signifikante Assoziationen zwischen Genetik und dem Ansprechen auf Medikamente, 7 GWAS verliefen diesbezüglich enttäuschend. Wie Prof. Dr. Urs A. Meyer vom Biozentrum der Universität Basel ausführte, liegt der Wert von GWAS derzeit aber weniger in der Prädiktion eines individuellen Erkrankungsrisikos, als in der Entdeckung neuer biologischer Mechanismen, die die Pathophysiologie von Erkrankungen erklären und so Hinweise auf neue Therapiestrategien liefern können.
Immerhin kennt man mittlerweile unter anderem den Zusammenhang zwischen einer Variation von CYP2C19 und dem plättchenhemmenden Effekt von Clopidogrel oder Variationen von CYP2C9, CYP4F2, VKORC1 und der Warfarin- sowie der Acenocoumarol-Dosis, oder auch der Variation von IL28B und dem Ansprechen einer HCV-Infektion auf Peginterferon-alpha.
Mit Hilfe von genomischen Biomarkern kann mittlerweile der Respons auf 13 Substanzen besser vorhergesagt werden, darunter Abacavir, Carbamazepin, Codein, Iridodecan oder auch Mercaptopurin. Und einige solcher Biomarker wie Hormonrezeptoren (ER, PR), HER2 (ERBB2), BCR-ABL, KIT (c-KIT), KRASwt, EGFT, EGFR, EML4-ALK-Fusion und B-raf V600E gelten bereist als „standard of care“.
Durch Genotyping bzw. Phänotyping bereits vor Therapiebeginn erhofft man sich in Zukunft, Patienten unwirksame Therapien ersparen zu können und ihnen die individuell wirksamsten Medikamente anbieten zu können. Idealerweise würde das Typing auch die Information liefern, ob mit einer niedrig oder einer hoch dosierten Behandlung begonnen werden sollte.
Univ.-Prof. Dr. Christoph Zielinski, Klinische Abteilung für Onkologie, Universitätsklinik für Innere Medizin, MU Wien, verwies auf die offene Frage, wie weit das Typing gehen sollte: „Im Krankheitsverlauf sind wir mit einer steigenden Heterogenität der Tumoren und mit sekundärer Therapieresistenz konfrontiert. Eine zweite Frage ist, wie weit es uns möglich sein wird, nicht zugelassene Substanzen zu verwenden. Sollen wir in Zukunft vielleicht sogar Substanzen aufgrund ihres Einflusses auf bestimmte Signalwege zulassen, anstatt aufgrund ihrer Wirkung bei spezifischen Krankheiten?“ Noch lasse sich allerdings nicht vorhersehen, ob sich der Effekt auf einen Signalweg in eine klinische Wirkung ummünzen lässt.
Die neuen Anforderungen der personalisierten Medizin beschäftigen nicht nur Mediziner, sie werden auch einen großen Einfluss auf die Medikamentenentwicklung und -zulassung haben. Denn Medikamente für definierte Patientengruppen zu entwickeln ist ein Zugang, der sich in einigen Aspekten von der bisherigen Arbeit an Blockbustern unterscheidet. Bei der Entwicklung von „niche buster“ muss sich die forschende Pharmaindustrie auf einen neuen Umgang mit Studien und möglicherweise auch auf etwas modifizierte Zulassungsprozesse einstellen.
Francesco Pignatti von der EMA in London wertet den Fortschritt auf dem Gebiet der personalisierten Medizin als sehr positiv. Noch seien die Entwicklungsprozesse allerdings nicht perfekt und die Zahl der problematischen Post-hoc-Analysen und der explorativen Studien hoch. Er hielt fest: „Als zulassende Behörde machen wir wie alle Beteiligten das Beste daraus – wir wollen die Entwicklung nicht behindern. Der Schwund in Phase III ist noch sehr groß, und wir hoffen alle, dass sich das Risiko verringern wird.“ In den zwangsläufig kleineren Patientenkollektiven von Zulassungsstudien für individuelle Therapien sieht Pignatti kein Problem: „Den Ausschlag gibt der Nachweis eines statistisch signifikanten Vorteils.“ Bevor die Entwicklung der „niche buster“ billig und einfach wird, und viele neue Medikamente auf den Markt kommen, sei es aber ganz besonders wichtig, die Tür für die frühzeitige Kommunikation zwischen allen Beteiligten offen zu halten. Zulassungsbehörde, Pharmaunternehmen und Vertreter des Health Technology Assessment sollten sich schon früh im Entwicklungsprozess an einen Tisch setzen. Das Angebot von Seiten der EMA bestehe.
Beim Design von Studien wird man sich in Zukunft unter anderem sehr früh Gedanken über entsprechende Biomarker machen müssen, wie Wolfgang Wein, Merck Serono, betonte. Ihr Stellenwert ist bereits jetzt sehr hoch. Martin Weber, Leiter der Business Unit Molecular Diagnostics des Austrian Institute of Technology (AIT), Health & Environment Departments, kennt die Situation aus der Sicht der größten außeruniversitären Forschungseinrichtung und auch von Seiten der Industrie aus seiner Arbeit als Head of Corporate Research & Innovation Management eines deutschen Biotech-Unternehmens. Sein Plädoyer: „Diagnostika-Firmen und pharmazeutischen Firmen müssen zusammenarbeiten. Denn Therapien und Biomarker müssen parallel getestet werden.“ Für diese Zusammenarbeit müssen noch Modelle entwickelt werden.
Heute sucht man nach Biomarkerpanels, deren Testung in prospektiven Studien sehr teuer sei, so Weber: „Daher stoppt die Forschung hier oft und es müssen Wege der Finanzierung gefunden werden.“ Ein zentrales Thema für die Testung von Biomarkern ist die ausreichende Gewinnung von Gewebe, hielt Univ.-Prof. Dr. Michael Micksche, Leiter des Instituts für Krebsforschung der Medizinischen Universität Wien, fest. Dringend nötig ist darüber hinaus die Verknüpfung von Gewebe und Daten – wenn möglich Outcome-Daten, sagte Univ.-Doz. Dr. Martin Filipits, Institut für Krebsforschung, MU Wien: „Wir brauchen prospektiv gesammelte Gewebe aus Phase-II-Studien. Von 10 Jahre alten Geweben fehlt der ,informed consent‘.“
Ein relevanter Kostenfaktor ist auch die Auswertung der großen Datenmenge, die durch molekulargenetische Methoden generiert wird. Die Datenanalyse ist mittlerweile weit teurer als die Sequenzierung des gesamten Genoms, das bald nur mehr 1.000 Dollar kosten und dessen Preis in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht sogar auf 100 Dollar fallen wird. Es werde darum gehen, aus der Datenflut jene Informationen herauszufiltern, die für den individuellen Patienten von Bedeutung sind, erklärte Filipits: „Die Diagnostik muss sich hier entsprechend verbessern. Diagnostika werden in der nahen Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Wir haben bereits jetzt viele Möglichkeiten, die aber in der Praxis noch nicht zum Einsatz kommen. Ich wünsche mir mehr Translation aus der Wissenschaft in die Klinik.“
In Wien arbeitet man derzeit an einem Computersystem, mit dem der Nutzen einzelner Substanzen für den individuellen Patienten evaluiert werden kann. Es handelt sich um ein lernfähiges, interaktives Interface, das die bestmögliche Therapie aus der Summe aller verfügbaren Daten zu den einzelnen Substanzen herausfiltert. Mit dem System soll es in Zukunft möglich sein, alle Medikamente zu bewerten, zu denen Daten aus dem onkologischen Setting vorliegen, also nicht nur Medikamente, die für die jeweilige Tumorentität zugelassen sind. Wie Stefan Thurner, Institut für Wissenschaft Komplexer Systeme, MU Wien, erläuterte, soll sogar die Patientenpräferenz – mehr Lebensqualität oder höhere Lebenserwartung – als Bewertungskriterium einbezogen werden können.
Schon heute werden auf onkologischem Sektor vereinzelt mit Substanzen Therapieerfolge erzielt, die nicht für die entsprechende Indikation bestimmt sind. Bis in die Laienpresse hatte es der Fall eines Patienten mit kutanem T-Zell-Lymphom geschafft, der vom Einsatz des CTL4-Antikörpers Ipilimumab profitierte.
Das immer komplexer werdende Szenario mache, wie Zielinski betonte, validierte Zentren notwendig: „Eine der großen europäischen Gesellschaften wird eine entsprechende European Cancer Patient Charta herausgeben.“ Auch Onkologen sei es unmöglich, die gesamte Onkologie zu überblicken. Derzeit seien, so Zielinski, 920 Substanzen in klinischer Entwicklung, die an jeweils 1.000 Patienten getestet werden sollten. Es stelle sich die Frage, wo die Studien gemacht werden und wer sie machen wird.
Abschließend wünschte sich Micksche, dass sich die Hoffnung der Patienten in die personalisierte Medizin erfüllen: „Schon jetzt müssen Öffentlichkeit und Ärzte über die neuen Möglichkeiten informiert werden. Patienten informieren sich bereits im Internet und sind manchmal besser informiert als Ärzte.“