Zum Geleit: Crossing Entity Borders – Personalisierte Medizin 


Die richtige Therapie beim richtigen Patienten verbessert das klinische Ergebnis

Man kann immer wieder nur festhalten, dass die Theorie der Klinik oft weit vo­raus ist, dennoch haben Kliniker einen wesentlichen Vorteil, indem das „proof ­ of concept“ grundlagenforschender Erkenntnisse nur in klinischen Studien erfolgen kann. Studien sind nicht nur gut für Patienten, weil neue Therapien zugelassen werden, sondern auch Beweis dafür, dass unsere Annahmen in der Biologie die richtigen waren. In dieser Hinsicht lernen wir mit jeder Studie kontinuierlich dazu. In den letzten Jahren wurden neue Targets identifiziert, von denen wir lernen konnten, dass sie therapeutisch beeinflussbar sind. Wir haben lernen können, dass die Spezifität eines Medikaments für ein definiertes Target und die Anwendung bei selektionierten Patienten den therapeutischen Index verbessern: Gegenüber einer früher in Phase-I-Studien erzielten durchschnittlichen Ansprechrate von 5 % bei nichtselektionierten Patienten erhöhen sich Remissionsraten mit dem Antikörper-Zytostatika-Konjugat TDM1 beim HER2-positiven Mammakarzinom auf 44 % (Krop, J Clin Oncol 2010), mit einer Substanz wie Vemurafenib bei BRAF-V600E-mutierten Melanomen auf 75 % (Flaherty, NEJM 2010); oder es erhöhen sich Remissionsraten mit einer Substanz wie Crizotinib beim nichtkleinzelligen Bronchialkarzinom mit EML4-ALK-Translokation auf 57 % (Kwak, NEJM 2010).

Fragmentierung großer Tumorentitäten

Gleichzeitig wird ersichtlich, dass ursprünglich große Tumorentitäten zunehmend in kleinere Erkrankungen fragmentiert werden. Mammakarzinome zerfallen in immer mehr Subentitäten, die anatomisch zwar an der Brust lokalisiert sind, aber mit verschiedenen molekularen Markern und Genprofilen unterschiedliche Erkrankungen darstellen. Man findet EGFR-aktivierende Mutationen bei 10–15 % der Patienten mit Bronchialkarzinom, EML4/ALK-Translokationen bei 5 %. Zuletzt wurde mit ROS1 ein mögliches zusätzliches Target für den ALK-Inhibitor Crizotinib identifiziert, das bei NSCLC mit einer Häufigkeit von 1,5 % auftritt. Das Szenario entspricht zunehmend einer Fragmentierung von Tumoren in Subentitäten. Das heißt zugleich, dass zielgerichtete Therapien im Unterschied zur Chemotherapie mit limitierten Indikationen einhergehen und für immer kleiner werdende Subpopulationen in Frage kommen (Tab. 1). Es wird sich, vielleicht abgesehen von Bevacizumab, nicht so schnell eine neue Substanz finden, die ähnlich wie etwa Docetaxel in 12 Indikationen bei 5 verschiedenen Tumorentitäten im Rahmen großer klinischer Studien zugelassen wird. Man kann sich fragen, welches Unternehmen eine Substanz bei einer Mutationshäufigkeit von 1,5 % für einen speziellen Tumor entwickeln würde, bei dem von 100 gescreenten Patienten prinzipiell nur mehr 1,5 Patienten therapeutisch in Frage kommen oder 3 von 200 Patienten usw. Bei jedem Patienten muss aber eine Testung durchgeführt werden. Das heißt, auch wenn wir vieles dazulernen und verstehen, hilft es uns in der derzeitigen Herangehensweise in der Klinik nicht weiter. Praktisch lässt sich das vorhandene therapeutische Potenzial nur im Rahmen neuer Konzepte der personalisierten Medizin ausschöpfen (Tab. 2).

 

 

 

Anderer Tumor, gleicher Signalweg – Crossing Entity Borders

Als wesentliches Merkmal der personalisierten Medizin haben wir lernen können, dass molekularbiologische Signalwege nicht an anatomische Grenzen gebunden sind. Eine zielgerichtete Therapie kommt nicht an einer anatomischen Tumorgrenze optimal zur Anwendung, sondern im entsprechenden molekularbiologischen Kontext einer Tumorzelle. So hat die Entwicklung von Trastuzumab beim HER2-positiven Mammakarzinom dazu geführt, dass aus einem negativen Prognosemarker ein prädiktiver Marker für die Therapie wurde. Trastuzumab kann aber auch beim HER2-positiven Magenkarzinomen zur Wirkung kommen. Vemurafenib wirkt beim Melanom, wirkt aber auch bei anderen Tumoren mit BRAF-V600E-Mutation wie dem Schilddrüsenkarzinom. Gleiches gilt für Crizotinib in der Anwendung bei anaplastisch-großzelligen Lymphomen mit ALK-Translokation. MET-Inhibitoren bieten sich auf Grundlage einer Amplifikation, Mutation oder Rezeptorüberexpression bei unterschiedlichen Tumoren wie dem papillären Nierenzellkarzinom oder bei Adenokarzinomen des Magens an. Im Konzept der personalisierten Medizin orientieren sich zielgerichtete Therapien grundlegend am molekularen Profil eines Tumors. Die Hypothese ist, dass sich mit genetischen und molekularen Analysen Biomarker bei unterschiedlichen Tumoren finden lassen, die für eine bestimmte – vielleicht in einer anderen Indikation etablierte – Therapie geeignet sind. Wir können in der personalisierten Medizin an einen Punkt kommen, an dem Patienten mit spezifischer BRAF-Mutation, aber mit völlig unterschiedlichen Tumorentitäten, von einer Therapie profitieren. Die Prognose ist weiters, dass zielgerichtete Substanzen in Zukunft nicht mehr aufgrund einer anatomischen Tumorlokalisation, sondern orientiert an der Bedeutung eines veränderten Signalwegs zugelassen werden (Tab. 3). Der organüberschreitende Zugang wird umso wichtiger, je weiter die Fragmentierung von Tumorerkrankungen fortschreitet, bei der in letzter Konsequenz jede Erkrankung zu einer „orphan disease“ wird – mit so wenigen Prozentsätzen an Veränderungen, dass innerhalb des Lungenkarzinoms im Extremfall nur mehr 1 % aller Patienten eine gewisse Eigenschaft aufweist. Diese Entwicklung ist zwar für die Entschlüsselung der Tumorbiologie wünschenswert, für die derzeitigen Rahmenbedingungen der Medikamentenzulassung aber pro­blematisch: Einerseits stößt man an Kapazitätsgrenzen, was das Screening von Patienten betrifft, andererseits sind die Sicherheitsauflagen für die Medikamentenentwicklung, die Entwicklungs- oder Zulassungskosten die gleichen wie für „Blockbuster“-Indikationen.

 

 

„Moving Targets“, multiple vernetzte molekulare Pathways und Escape-Routen

Das Hauptproblem in der Behandlung von Krebs ist die Entwicklung von Resistenzen. So gelingt es in vielen Fällen nicht, eine anhaltende Wirkung zu erzielen, was letztlich ausschlaggebend dafür ist, warum Patienten am Tumor sterben. BRAF-Mutationen beim Melanom sprechen initial zwar außerordentlich gut auf BRAF-Inhibitoren an. Resistenzmechanismen können aber schon in kurzer Zeit und oft auf dramatische Weise überwiegen. Es gibt verschiedenste Gründe für das Versagen einer Therapie. So ist nicht immer klar, ob ein Biomarker für die Erkrankung tatsächlich repräsentativ ist, z. B. aufgrund einer im Metastasierungsprozess zunehmenden Anzahl genetischer Aberrationen im Sinne der Tumorheterogenität. Nicht zuletzt deswegen sind „Real time“-Tumorbiopsien unmittelbar vor einer biomarkergematchten Therapie eine der wesentlichen Voraussetzungen für die personalisierte Medizin, weil molekulare Veränderungen zum Zeitpunkt der Diagnose nicht unbedingt jene Veränderungen sind, die den Metas­tasierungsprozess vorantreiben (klonale Evolution oder Selektionsdruck durch vorangegangene Therapien). In letzter Konsequenz bietet die Tumorheterogenität im metastasierten Setting aber auch Chancen durch das Auffinden verschiedener Targets für damit gematchte Therapien.

Herausforderungen an die Medikamentenentwicklung

Man kann an dieser Stelle festhalten, dass das ganze Wissen der tumorbiologischen Grundlagenforschung bislang nur zum Teil in der Klinik angekommen ist. Es gibt hervorragende Beispiele für prädiktive Biomarker, es gibt nur im Vergleich zu den bereits verfügbaren Substanzen immer noch viel zu wenige, die in der Klinik zur Anwendung kommen. In einer ESMO-Sitzung zum Thema „Personalized medicine: hype or hope“ wurde etwa festgehalten, dass in den Jahren 2000–2009 lediglich 25 neue onkologische Substanzen zugelassen wurden und nur 6 prädiktive Biomarker verfügbar sind. Es bedarf hier einer tragfähigen Beschleunigung des Erkenntnisprozesses mit einer substanziell gesteigerten Umsetzung der verfügbaren Evidenz. Tatsache ist zugleich auch, dass sich derzeit 930 Substanzen in klinischer Entwicklung befinden, von denen die meisten dem Konzept der „oncogene addiction“ folgen. Kapazitätsgrenzen und Grenzen zur Ausschöpfung des Potenzials neuer Substanzen werden zunehmend evident. Die bisherige Form der Studienführung wird den Herausforderungen der Zukunft vielfach nicht gewachsen sein, weshalb die Versprechen der personalisierten Medizin – die richtige Therapie für den richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt – und die derzeitige Realität oft noch auseinanderklaffen. Allerdings sind Lösungsansätze bereits vorhanden.

Innovative Protokolle der personalisierten Medizin

In einer in das Jahr 2006 zurückreichenden Phase-I-Studie zur personalisierten Medizin wurden am MD Anderson Cancer Center über 1.000 Tumorpatienten biopsiert und entsprechend ihrer molekularen Tumorcharakteristika (PIK3CA, KRAS, NRAS, BRAF, EGFR, CKIT, PTEN, c-MET, ALK) selektiv mit Substanzen behandelt, die in den jeweiligen Indikationen bei Weitem nicht zugelassenen waren, oder nicht selektiv mit Protokollen, wie sie in klinischen Studien bereits verwendet wurden. Patienten hatten median zumindest 5 Therapielinien hinter sich. Mit dem Pathway-orientierten Ansatz wurden die Ansprechraten verfünffacht, die Rate an Tumorstabilisierungen wurde verdoppelt, die Zeit bis zum Therapieversagen signifikant verkürzt und das Gesamtüberleben wurde von median 9 auf 13,4 Monate verlängert – obwohl Tumormaterial nur von der initialen Diagnose stammte, nicht der gesamte Tumor biopsiert wurde, kurz, sämtliche Limitationen einer in das Jahr 2006 zurückreichenden Studie angeführt werden können (Tsimberidou AM, ASCO 2011; #CRA2500). Besonders interessant ist eine Studie von Von Hoff, die ebenfalls in das Jahr 2006 zurückreicht und 2010 im „Journal of Clinical Oncology“ publiziert wurde.1 Auch in dieser Studie konnte man Patienten nichts mehr anbieten, was mit konventionellen Maßstäben noch irgendwie sinnvoll gewesen wäre. Es wurde eine Tumorbiopsie vorgenommen, eine molekularbiologische Analyse durchgeführt, und am Schluss wurden die Patienten in Abhängigkeit von den Ergebnissen dieser Analyse behandelt. Dabei zeigte sich, dass Patienten, die nach molekularbiologischen Kriterien wie Genexpression oder Mutation behandelt wurden, auf gewisse Therapien ansprechen und in vielen Fällen ein längeres progressionsfreies Überleben hatten als unter der letzten verfügbaren Standardtherapie – was insofern bemerkenswert ist, als man in der Onkologie bislang die Erfahrung machen musste, das das progressionsfreie Überleben bei fortschreitenden Therapielinien kürzer und nicht länger wird. Die Ergebnisse sind absolut spannend und zeigen beispielsweise, dass beim Kolorektalkarzinom mit Temozolomid eine Chemotherapie zur Wirkung kommt, die man sonst nur bei Hirntumoren anwenden würde (Tab. 4). Ohne das heutige molekularbiologische Verständnis bzw. ohne molekularbiologische Analyse hätte man niemals den Versuch unternehmen oder dieses Ergebnis erwarten können. Es sind das Initiativen von globaler Bedeutung, die einen Paradigmenwechsel im therapeutischen Zugang hervorrufen werden, ähnlich wie die Einführung der Chemotherapie einen Paradigmenwechsel bedeutet hatte. Eine solche Studie wurde an meiner Abteilung ebenfalls aufgelegt und kann – entgegen einem eklatanten Unverständnis im Wissenschaftsministerium zur Bedeutung personalisierter Medizin – allein aufgrund der außerordentlichen Bemühungen im Kollegenkreis umgesetzt werden.

 

 

Selbstlernende bayesianische Statistik

Die Studie von Von Hoff ist eines der ersten „proof of principles“, dass die auf molekularbiologischer Evidenz beruhende gezielte Behandlung das klinische Ergebnis um ein Drittel verbessert. Und das ist erst der Anfang. Es zeichnet sich ab, dass mit Hilfe der selbstlernenden bayesianischen Statistik von Patient zu Patient mit zunehmender Verdichtung der empirischen Evidenz eine niedrigere Hazard Ratio, d. h. ein besserer Therapieerfolg möglich wird. Prinzipiell kann eine neue Computergeneration (bayesianische Maschine) auf Basis der vortherapeutischen Evidenz (d. h. dem verfügbaren biologischen Wissen, z. B. aus Studiendaten, Metaanalysen, Fallberichten) die spätere Wahrscheinlichkeit des Therapieerfolgs errechnen, wobei die Vorhersage umso besser wird, je mehr Patientendaten eingegeben werden. In Kooperation mit dem Institut für Wissenschaft Komplexer Systeme der Medizinischen Universität Wien und dem Center for Molecular Medicine of the Austrian Academy of Sciences (CeMM) versuchen wir derzeit, ein Programm zu erarbeiten, das die Therapieentscheidung auf Basis von Mutationsdaten, Daten zur Wirksamkeit von Substanzen und der Patientenpräferenz unterstützen kann.*

Status quo „Massenpersonalisierung“

Wir verfügen derzeit über „drugable“ Targets in einer definierten Population, was etwa dem Phänomen einer „Massenpersonalisierung“ entspricht und auch wichtig ist, weil wir nicht dorthin kommen können, dass eine Substanz nur für einen Patienten entwickelt wird. Wir können aber mit dem verfügbaren Wissen den Versuch unternehmen, unser ärztliches Handeln am individuellen Patienten auszurichten. Im Sinne der personalisierten Medizin erfolgt das heute noch im fortgeschrittenen palliativen Setting, morgen kann das schon ganz anders sein. Andere Länder sind hier wesentlich weiter und Österreich hinkt deswegen nach, weil es hierzulande keine Wissenschaftspolitik gibt: Es gibt ein Wissenschaftsministerium, aber keine Vorgaben. Frankreich gründet am Institut Gustave Roussy ein Zentrum für personalisierte Medizin um 50 Millionen Euro. Das Karolinska-Institut gründet ein Zentrum für personalisierte Medizin. Harvard hat eine Stiftung für personalisierte Medizin in der Höhe von 10 Millionen Euro. Das Land Nordrhein-Westfahlen hat bereits vor etlichen Jahren 5 Millionen Euro in personalisierte Medizin investiert, die in Köln umgesetzt wird. In Österreich gibt es von Seiten des Wissenschaftsministeriums nicht die geringste Idee zur personalisierten Medizin, keinerlei Schwerpunkte oder Präferenzen. Was dorthin führt, dass wir Patienten nicht das anbieten können, was im Grunde verfügbar ist, aber einer tragfähigen wissenschaftlichen Basis bedarf, wie sie im Rahmen der personalisierten Medizin zu schaffen ist. Glücklich der, dessen Krankenanstaltenträger klug genug sind, das Konzept zu durchschauen – es kann aber nicht jedes politische Manko ausgeglichen werden. Wenn Österreich in der Onkologie an der Spitze bleiben will, wird ein Verständnis von personalisierter Medizin unumgänglich sein – offenbar besteht hier noch unglaublicher Aufklärungsbedarf. Es gibt zwei positive Aspekte: Zum einen ist es eine Herausforderung, zum anderen unumgänglich.

 

* An dieser Stelle der Hinweis auf eine kommende Sonderbeilage der Zeitschrift „Universum Innere Medizin“, die sich den Herausforderungen der personalisierten Medizin widmet; die Beiträge werden auch in die nächsten Ausgaben von Spectrum Onkologie einfließen. 


1 Daniel D et al., Pilot Study Using Molecular Profiling of Patients’ Tumors to Find Potential Targets and Select Treatments for Their Refractory Cancers. J Clin Oncol 2010; 28:4877–4883.