Diese unterschiedlichen Weltzugänge werden durch verschiedenartige Denkformen, Denkarten, Denkmuster bzw. Denkfiguren bestimmt, die ihrerseits dann nicht selten von ihren Proponenten als unterschiedliche „wissenschaftliche Methoden“ bezeichnet werden. Diese unterschiedlichen Denkarten und -formen, wie z. B. das aphoristische, das ästhetische, das logische, das metaphorische, das metaphysische, das naturwissenschaftliche, das phänomenologische, das poetische, das tiefenpsychologische, das rechnerische oder das systemorientierte Denken und viele andere mehr lassen sich zum Teil gut voneinander abgrenzen.
Zum Teil finden sich hier aber auch wesentliche Überlappungen und Überschneidungen, die eine klare Trennung erschweren bzw. sogar unmöglich machen. Unterschiedliche Weltzugänge und ihre Auswirkungen müssen sich auch nicht zwangsläufig ausschließen, selbst dann nicht, wenn sie auf den ersten Blick in diametral entgegengesetzte Richtungen weisen. In den meisten Fällen bergen sie gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit die Chance zu einer weiterführenden sinnvollen Ergänzung.
Leider werden sie aber auch nicht selten als Machtmittel verwendet, um den anderen in seinem Weltzugang und in seinen Interpretationen des Naturgegebenen zu entwerten – beliebtestes Machtmittel ist dabei die Behauptung, die eigene Methode wäre eine objektive, während die des anderen als „bloß subjektiv“ desavouiert wird.
Auch die Medizin ist in ihren fachlichen Diskursen nicht frei von solchen Machtspielen. Über Jahrzehnte bestimmte so das in den Naturwissenschaften vorzugsweise angewandte „rechnerische Denken“ den Diskurs, so auch in der Psychiatrie. Mit zunehmender Bedeutung der Psychotherapie fanden allerdings auch andere Denkarten, -muster und -figuren, wie z. B. tiefenpsychologisches, phänomenologisches, systemorientiertes, soziologisch-politisches Denken etc. Eingang in die Fachdiskussionen. Mit der Ausweitung humanwissenschaftlicher Zugänge zum kranken Menschen mit seinen Leiden sind wir heute sogar mit Denkformen und -geweben konfrontiert, die dem einen oder anderen in der Medizin Tätigen als „exotisch“ fremd erscheinen. Eine dieser neuen Denkarten wurde vom Philosophen und Anthropologen Wolfgang Welsch in seinem gleichnamigen im Jahre 2003 erschienenen Werk als ästhetisches Denken benannt.
Diese Denkart steht in deutlichem Gegensatz zum „rechnerischen Denken“, also jener Denkform, die heute noch immer die medizinischen Diskurse bestimmt. Die Bezeichnung „rechnerisches Denken“ geht auf Martin Heidegger zurück. Heute versteht man aber über die Heidegger’sche Anschauung hinausreichend unter rechnerischem Denken einen im Wesentlichen kognitiven Weltzugang, der in einem ersten Schritt auf Beobachtung (also auf Sinneswahrnehmung bzw. technisch erweiterter Sinneswahrnehmung) von naturgegebenen Ereignissen und Umständen beruht.
Diese Beobachtungen werden dann in einem zweiten Schritt im Rahmen von „Messverfahren“ in Zahlen transformiert. Die so gewonnenen Zahlen sind Ausgangspunkt für die den dritten Schritt des rechnerischen Denkens ausmachenden „Berechnungen“, wobei diese „Berechnungen“ sich heute im Wesentlichen auf Wahrscheinlichkeitsanalysen beschränken. Im vierten Schritt werden dann die „Signifikanzen“ vom Untersucher interpretiert, wobei hier durchaus weit über die Zahlenergebnisse hinausreichende Spekulationen als wissenschaftliche Diskussion von „objektiven Berechnungen“ ausgegeben werden. Diese Spekulationen dienen dann wiederum als Ausgangspunkt zu neuen „Beobachtungs- bzw. Experimentreihen“.
Im Gegensatz dazu wird im „ästhetischen Denken“ die Basis für die wissenschaftlichen Interpretationen nicht nur mittels Sinneswahrnehmung, sondern darüber hinaus auch mittels sinnlicher Wahrnehmung gelegt. Schon Aristoteles hat uns in seiner Schrift „Die politischen Dinge“ bei der Beschreibung der Besonderheiten des Menschen als zoon logon echon aufgezeigt, dass der Mensch nicht nur durch seine Vernunft, sondern vor allem auch durch eine ihm besondere aisthesis ausgezeichnet ist. Diese menschliche aisthesis ist nicht auf bloß animalisch-emotionales Fühlen zu reduzieren, sie ist eine zutiefst menschlich-emotionale Zugangsform zur Weltenkenntnis. Als besondere Möglichkeit der Erlebnisfähigkeit ist sie auch ganz wesentliche Basis für ästhetisches Denken.
In einem weiteren Schritt wird ästhetisches Denken geprägt von einer „generalisierten wahrnehmungshaften Sinnvermutung (ästhetisch-imaginative Expansion)“, wie es Wolfgang Welsch im oben genannten Opus ausdrückte. Diese ist dann wiederum Ausgangspunkt und Grundstein für das reflexive Ausloten und Prüfen des Wahrgenommenen im dritten Schritt. Die Konsolidierung der auf diese Weise reflexiv erhärteten Wahrnehmung zu einer „phänomenologischen Gesamtsicht“ erfolgt dann im vierten Schritt, der nicht nur von Wahrheitsliebe, sondern vor allem auch von Redlichkeit geleitet ist.
Nietzsche wies uns in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ auf die zentrale Rolle der Redlichkeit und Wahrhaftigkeit in der Erforschung der uns gegebenen Welt hin. Er stellte diese dem hochmütigen und letztendlich doch lebensfremden Ansinnen des forschenden Menschen gegenüber, der in der Überzeugung verhaftet bleibt, dass es dem Menschen doch möglich wäre, die objektive Wahrheit der Natur erkennen zu können. Eine solche allgemeine, letztgültige Wahrheit bleibt uns als Menschen aber letztlich immer unzugänglich; auch eine Objektivität vortäuschende mathematische Artistik kann uns eine solche „Wahrheitsfindung“ nicht ermöglichen.
An Stelle eines dogmatisch eingeforderten, aber doch nie zu erreichenden „Wahrheitsgewinns“ braucht es in der Forschung eine sich in Redlichkeit und Wahrhaftigkeit manifestierende Wahrheitsliebe. Eine solche die heute so weit verbreitete Wahrscheinlichkeitsliebe ersetzende Wahrheitsliebe ermöglicht uns dann auch, neue Dimensionen des Weltverständnisses zu eröffnen.
Unter diesem Blickwinkel kann auf Wahrheitsliebe basierendes ästhetisches Denken auch unser medizinisches Verständnis nur bereichern. Überall dort, wo nicht nur Fragen nach dem Was (wie z. B.: Was habe ich therapeutisch zu tun?), sondern vor allem auch Fragen nach dem Wie (wie z. B.: Wie habe ich die Kontaktaufnahme zu gestalten?) zu stellen und zu beantworten sind, also überall dort, wo wir das Forschungsfeld der medizinischen Sozialästhetik betreten, wird ästhetisches Denken zur unverzichtbaren Methodik. So sind etwa Fragen, wie solche nach der Schaffung von angstfreien und gesundheitsfördernden Atmosphären in Diagnose- und Behandlungseinrichtungen oder Fragen zur Entwicklung von differenzierten Begegnungsformen mit dem Fremden in Gastfreundschaft, unter Verzicht auf ästhetisches Denken kaum zielführend zu beantworten.
Ästhetisches Denken ist aber trotz aller methodischer Gegensätzlichkeit zum rechnerischen Denken nicht als dessen Alternative anzusehen. Es handelt sich dabei vielmehr um eine komplementäre Denkform, die eine Erweiterung des medizinischen Verständnisses ermöglicht. In jedem Fall – ob man nun mittels rechnerisches Denkens oder mittels ästhetischen Denkens (oder mittels einer anderen etablierten Denkart) auf den Kranken und seine Problematik zugeht – braucht es in der Forschung Redlichkeit und Wahrhaftigkeit statt Objektivitätsideologie; es braucht demütige Wahrheitsliebe statt hochmütigem Wahrheitsdogmatismus, ganz nach dem uns vom französischen Nobelpreisträger André Gide mitgegebenen Motto: „Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben!“
Mit meinen besten Wünschen
Herzlichst Ihr