SPECTRUM PSYCHIATRIE: Wie häufig ist die Arbeitssucht, und wie etabliert ist der Begriff?
Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek: Arbeitssucht ist ein auch heute noch unüblicher Terminus, auf Englisch wird als Pendant zu „alcoholism“ der Begriff „workaholism“ verwendet. Im deutschen Sprachraum gibt es zur Arbeitssucht nur wenige – vor allem arbeitspsychologische – Publikationen, wie überhaupt die so genannten Verhaltenssüchte eher stiefmütterlich behandelt werden.
Wir unterscheiden vier Verhaltenssüchte oder substanzunabhängige bzw. stoffungebundene Suchtformen: die Glücksspielsucht, die Kaufsucht, die Onlinesucht und die Arbeitssucht. In den ICD-10-Diagnosekriterien wird dem Umstand, dass es sich bei stoffungebundenen Suchtformen um Suchterkrankungen handelt, noch nicht Rechnung getragen, und sie finden sich aus Formalgründen in der Restkategorie „Impulskontrollstörungen“. Es ist aber durchaus wahrscheinlich, dass dies in absehbarer Zukunft dahingehend verändert wird, dass die stoffungebundenen Suchterkrankungen in der derzeit noch in Ausarbeitung befindlichen ICD-11 in die Hauptkategorie der Abhängigkeitserkrankungen aufgenommen werden.
Wie viele Menschen arbeitssüchtig sind, wissen wir nicht, denn dazu gibt es keine Untersuchungen. Auch zum Burn-out haben wir keine seriösen Zahlen, wie es überhaupt in Österreich keine einzige repräsentative Untersuchung zur Prävalenz von psychischen Erkrankungen gibt.
Wie ist Arbeitssucht definiert, und bei welchen Patienten ist diese Diagnose zu stellen?
Vor allem wenn die Störung schon länger besteht, weisen Patienten mit Arbeitssucht praktisch alle Suchtkriterien auf, ganz so wie bei stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen. Man könnte Arbeitssucht – oder besser: pathologisches Arbeiten – relativ einfach so definieren, indem man in den Suchtkriterien die psychotrope Substanz durch Arbeiten ersetzt.
Suchterkrankungen treten in 6 Störungsbereichen in Erscheinung: im Craving, in der Toleranzentwicklung, im Kontrollverlust, in einem körperlichen Entzugssyndrom und in zwei weiteren psychischen Abhängigkeitszeichen, nämlich einerseits dem Umstand, dass das Suchtmittel weiter eingenommen wird, obwohl man sich der unmittelbaren schädigenden Wirkung bewusst ist, und andererseits der völligen Zentrierung auf das Suchtmittel.
Auf die Arbeitssucht umgelegt heißt dies, dass sie dann zu diagnostizieren wäre, wenn zumindest drei der folgenden Symptomcluster über mehrere Monate hinweg zu beobachten sind:
Zwischen Arbeitssucht und Burn-out besteht ein enger Zusammenhang: Es gibt kaum einen Arbeitssüchtigen, der nicht auch Zeichen eines Burn-out hat, und umgekehrt. Man kann davon ausgehen, dass ca. 90 % der Menschen mit einem schweren Burn-out auch Zeichen einer Arbeitssucht haben, hier gibt es extrem große Überschneidungen. Weitere häufige Komorbiditäten bei Arbeitssucht sind Depressionen, Angststörungen, auch Essstörungen und alle anderen Suchterkrankungen. Denn oft werden Medikamente eingenommen, Stimulanzien oder Tranquilizer bzw. Alkohol, damit man die Arbeitsüberlastung und Erschöpfung „kompensiert“ bzw. dass man wieder „runterkommt“.
Wenn 3 der 6 zuvor genannten Kriterien zutreffen, liegt eine Arbeitssucht vor. In Frühstadien würde man von problematischem Arbeiten sprechen. Eine Übergangsform ist beispielsweise, wenn die Arbeit zwar im Zentrum steht, aber doch auch noch andere Aktivitäten unternommen werden. Sind jedoch 3 Kriterien erfüllt, handelt es sich um eine Arbeitssucht, und bei schweren Formen sind in der Regel alle 6 Kriterien erfüllt; die meisten Patienten, die aufgrund eines Burn-out in das Anton-Proksch-Institut kommen und zusätzlich alkoholkrank sind, erfüllen alle 6 Kriterien.
Welche Faktoren begünstigen die Entstehung einer Arbeitssucht?
Es gibt eine Reihe von prädisponierenden Faktoren. Zum einen muss die Arbeit für den Betroffenen in der Regel attraktiv sein und Spaß machen. Zum anderen sind es Menschen, die sehr hohe Leistungsansprüche an sich selbst stellen. Häufig ist Leistung für sie der höchste Wertmaßstab überhaupt, quasi: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste, ich mag mich nur, wenn ich Erfolg habe.“ Besonders prädestiniert sind Berufe, bei denen Erfolg das Wichtigste ist sowie Berufe mit einem hohen ethischen Anspruch wie beispielsweise Ärzte, Pflegepersonen oder Lehrer, übrigens ganz ähnlich wie beim Burn-out.
Arbeitssucht wird freilich nicht nur in übermäßigem Arbeiten sichtbar, sondern es handelt sich dabei um eine komplexe Suchtstörung, die sich vor allem auch in einem fehlenden oder zumindest in hohem Maße eingeschränkten Erholungsverhalten äußert.
Wir leben in einer Gesellschaft, wo wir von Arbeitszeit versus Freizeit sprechen, was eigentlich bedeutet, dass die Arbeitszeit keine freie Zeit ist. Das verweist übrigens auf das antike Griechenland, wo als Arbeit jene Tätigkeiten bezeichnet wurden, die als „unfrei“ galten und von Sklaven verrichtet wurden. Völlig absurd wird es beim Ausdruck „work-life-balance“, wo quasi die Arbeit mit dem Leben nichts mehr zu tun hat und die beiden als Gegensätze gesehen werden: auf der einen Seite „work“, auf der anderen Seite „life“. Diese Begriffe verdeutlichen unsere Einstellung zur Arbeit: Auf der einen Seite muss man arbeiten; alle, die nicht arbeiten, sind suspekt und Menschen, die nicht am bürgerlichen Projekt teilnehmen. Auf der anderen Seite wird Arbeit als Mühsal gesehen, eine Haltung, die auf den Protestantismus zurückgeht, wo man diese Mühsal auf sich nehmen musste, weil sie gottgewollt war.
Was wir heute dringend brauchen, ist ein Diskurs über die Arbeit. Wir lernen ja nicht, wie man richtig arbeitet, und auch nicht, wie man sich erholt. Viele der heute angebotenen Freizeitaktivitäten bieten keine Erholung, sondern man muss nur wieder arbeiten, wieder erfolgreich sein, wieder Leistung bringen. Dabei kommt man nicht in einen Zustand der Entspannung und schon gar nicht in einen Zustand, in dem man Schönheit erleben kann. Denn das Schönheitserleben ist eine der wesentlichsten Kraftquellen, und wenn ich diese in meiner Mußezeit nicht mehr habe, kann ich mich auch nicht mehr erholen.
Wir brauchen also einen öffentlichen Diskurs, um zu lernen, was Erholung ist und wie wir Arbeit so gestalten, damit sie auch zur Selbstentfaltung beitragen kann. Ein einfaches Beispiel: Von drei Menschen, die den gleichen Beruf haben, sagt der eine, er stellt den ganzen Tag Steine aufeinander, der zweite, er baut eine Mauer und der dritte, er baut an einem Haus mit. Alle drei sind Maurer, aber der Dritte hat zweifellos eine höhere Arbeitsqualität als der Erste. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft haben wir natürlich das Problem, dass viele unserer Tätigkeiten für sich alleine nichts Besonderes sind. Aber wenn wir uns in den Gesamtkontext eingebettet fühlen, macht es einen Unterschied. Das ist auch eine Frage der Identifikation.
Gibt es bestimmte Bedingungskonstellationen, oder ist Arbeitssucht primär ein Problem des einzelnen Arbeitnehmers?
Wie jede Suchterkrankung ist die Arbeitssucht ein komplexes Geschehen, sowohl hinsichtlich der Pathogenese als auch der Bedingungsfaktoren. Immer wieder wird diskutiert, wer der „Schuldige“ ist. Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Die Antwort ist, keiner von beiden, es ist immer eine Wechselwirkung zwischen äußeren Anforderungen und den Merkmalen der betroffenen Person. Es wäre ungefähr das Gleiche, sich die Frage zu stellen, wer ist der Schuldige: der Alkoholproduzent oder der, der den Alkohol trinkt?
Prinzipiell ist es keine Frage, dass es eine Mitwirkung äußerer Bedingungen gibt. Hier ist meiner Meinung nach auch die Gesellschaft aufgerufen. Wir leben ja nicht in einer Leistungs-, sondern in einer Erfolgsgesellschaft, honoriert wird nicht die Leistung, sondern der Erfolg. Das führt wiederum dazu, dass nicht mehr die Leistung oder die Arbeit im Mittelpunkt steht, sondern nur mehr die Arbeitskraft, und zwar nur jene, die zum Erfolg führt. Hat jemand keinen Erfolg, muss er immer mehr tun, um Erfolg zu haben, und damit wird der Arbeitssucht Vorschub geleistet. Es ist kein Zufall, dass wir in unserer Gesellschaft dieses Problem haben. Aber es ist natürlich auch die Einzelperson, die in die Arbeitssucht hineinschlittert, wobei die Verschuldensfrage beim Arbeitssuchtpatienten etwa so groß ist wie beim Alkoholsuchtkranken oder Diabetes-2-Patienten oder Hypertoniker. Natürlich trägt der Einzelne zur Entstehung der Alkoholkrankheit, des Diabetes oder der Hypertonie bei, und doch hat sich keiner dieser Patienten diese ausgesucht. Alle sind diesen Erkrankungen dann auch in einem hohen Maße ausgeliefert.
Wie ist der Verlauf einer Arbeitssucht?
Im Umkreis der Arbeitssucht gibt es wie bei anderen Suchterkrankungen normales Arbeiten, übermäßiges Arbeiten, problematisches Arbeiten – die Arbeit wird zum Selbstzweck – und zuletzt die Arbeitssucht. Zumeist führt die Arbeitssucht in ein Burn-out-Leiden bis hin zu einer schweren Burn-out-Erkrankung mit völligem Leistungsverlust, Zusammenbruch, Depression und innerer Leere. Die Betroffenen sehen keine Möglichkeit des Auswegs mehr. Das ist auch ein wichtiger Ansatzpunkt für die Therapie.
In der Therapie müssen alle Bedingungskonstellationen behandelt und natürlich auch auf die Sucht selbst eingegangen werden. Ganz wesentlich ist dabei, dass auch eine Lebensneugestaltung erfolgt. Denn jede einfache und rasche Lösung, ein bisschen Urlaub, Wellness oder Ähnliches ist zu kurz gegriffen. Man muss eine komplexe Behandlung anbieten, deren Kernstück die Lebensneugestaltung ist Diese kann ganz unterschiedlich sein, muss aber vor allem zwei Fokussierungen aufweisen: Die eine ist, dass es für den Betroffenen wieder möglich wird, selbst zu gestalten und nicht mehr nur Getriebener zu sein. Denn wie der Alkoholsüchtige vom Alkohol getrieben wird, wird auch der Arbeitssüchtige von der Arbeit getrieben. Und die zweite ist, dass alles Schöne Kraft gibt. Das Schöne muss man jedoch zulassen können, man muss wieder erlernen, es zu erleben – denn in den späteren Burn-out-Stadien kann man das Schöne nicht mehr erleben, beides, das Schöne und das Mögliche kommen den Betroffenen abhanden.
Wir haben das Orpheusprogramm des Anton-Proksch-Instituts, das ursprünglich für Suchtkranke entwickelt wurde, jetzt auch für Arbeitssuchtkranke und Burn-out-Kranke modifiziert.
Gibt es im Orpheusprogramm gemeinsame Gruppen von Alkoholkranken und Arbeitssucht- bzw. Burn-out-Kranken?
Teils, teils. Es gibt natürlich für Alkoholkranke spezielle Gruppen, in denen es um den Umgang mit der Substanz Alkohol geht. Bei den Lebensneugestaltungsgruppen sind aber gemeinsame Gruppen möglich, denn es geht darum, wieder Achtsamkeit, Aufmerksamkeit zu lernen, Schönes wieder erleben, wahrnehmen zu können, beispielsweise wieder spüren lernen, wie es ist, über einen Steinboden, einen Rasen zu gehen, die Unterschiede zu spüren und dann in einem nächsten Schritt zu überlegen: Gefällt mir das eine besser als das andere? So kommt man dann auf einer sehr einfachen Ebene zu einem Schönheitserleben.
Ähnliches kann man in den Natur- oder Kunstgruppen machen. Letztlich geht es darum, das Leben wieder genießen zu lernen und freudvoll und selbstbestimmt zu leben, nicht ein Getriebener zu sein, sondern selbst zu gestalten – das Mögliche möglich machen und das Schöne erleben.
Seit wann bietet das Anton-Proksch-Institut die Therapie für Burn-out-Kranke und Arbeitssüchtige an?
Seit Oktober 2011 haben wir in der Abteilung 1 einen Schwerpunkt für Burn-out- und Arbeitssuchtkranke geschaffen. Nicht jeder Arbeitssuchtkranke hat ein Burn-out oder jeder Burn-out-Kranke eine Arbeitssucht, aber die Überschneidungen liegen etwa bei 90 %. Andere häufige Komorbiditäten sind Depression mit 40–60 %, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und insbesondere auch andere Suchterkrankungen.
Kommen die Arbeitssuchtpatienten primär aufgrund ihrer Suchterkrankung oder wegen Burn-out?
Derzeit kommen die Patienten hauptsächlich über andere Suchterkrankungen, oder sie kommen in die Ordination wegen Depression oder Burn-out, weil es kein Bewusstsein hinsichtlich Arbeitssucht gibt. Wir haben heute ein ganz gutes Bewusstsein hinsichtlich der Glücksspielsucht, wir beginnen langsam ein Bewusstsein hinsichtlich der Onlinesucht zu entwickeln, wir haben noch sehr wenig Bewusstsein hinsichtlich der Kaufsucht – diese Patienten kommen extrem spät, weil es als Krankheit nicht erkannt wird –, und wir haben leider noch fast keine Kompetenz, Arbeitssucht zu erkennen, speziell nicht in den frühen Stadien.
Wir haben ein ähnliches Problem wie beim Alkohol, wo vor allem bei Männern, die schon längst einen problematischen Konsum haben, gesagt wird: „Wahnsinn, was der alles verträgt.“ Auch beim Arbeiten wird gesagt: „Wahnsinn, wie viel der arbeitet“ oder „Wie leistungsfähig der ist“. Allerdings kann der Arbeitssuchtkranke keine Leistung mehr bringen. Auch wenn er bis in den frühen Morgenstunden im Büro ist, kommt kaum mehr ein Output zustande. Daher wäre es gerade für Arbeitgeber wichtig, Arbeitssucht früh zu erkennen.
Hat die Diskussion der letzten Jahre um Burn-out dazu geführt, dass das Bewusstsein größer geworden ist?
Ja, im Zuge der Burn-out-Diskussion wurde Arbeit wieder zum Thema, und man beginnt jetzt, sich mit der Arbeitssucht zu befassen. In den USA spielt „workaholism“ in der psychologischen Forschung seit Längerem eine gewisse Rolle. Auch in Japan gibt es eine Tradition mit dem „karoshi“, das ist der plötzliche Tod am Arbeitsplatz durch Überarbeitung, dazu wurde viel publiziert.
Hier zu Lande beginnt langsam eine Bewusstseinsbildung, allerdings sind wir noch immer weit davon entfernt, dass die Bevölkerung über Arbeitssucht Bescheid weiß. Wie auch der deutsche Philosoph Axel Honneth vor Kurzem beklagt hat, gibt es keinen öffentlichen Diskurs über die Arbeit, trotz ihrer großen Bedeutung für jeden Einzelnen. Man redet über Pensionsalter oder Sonntagsarbeit, aber über Arbeitsqualität und vor allem auch, wie man sich erholen kann, redet man nicht – hier müssen wir ansetzen!