Genetische Vorbelastung (erblich bedingte „Vulnerabilität“), biologische und psychosoziale Parameter sowie bestimmte Lebensgewohnheiten erhöhen das Erkrankungsrisiko, die genaue Ursache einer bipolaren Erkrankung ist jedoch nicht bekannt. Zu den Faktoren, die sich als günstig oder ungünstig für den Ausbruch bzw. die Prognose der Erkrankung erweisen können, gehören u. a. familiäres und soziales Umfeld, Stress, Lifestyle etc.
Wichtig bei der Diagnose und Therapie ist, dass behandelnde Psychiater/Therapeuten die bipolare Erkrankung als wiederkehrenden, zyklisch ablaufenden Prozess wahrnehmen und entsprechend behandeln. Im Gegensatz zum Pathomechanismus der Unipolarität ist nicht eine Störung auf der Ebene der Neurotransmitter ausschlaggebend, sondern möglicherweise eine Störung der Second-Messenger-Systeme.
Betroffene und ihre Angehörigen sind einem hohen Leidensdruck ausgesetzt – eine entsprechende Therapie vermag diesen zu lindern. Der Verlauf der Erkrankung kann durch individuelle Medikamenteneinstellung, spezielle psychotherapeutische Techniken und durch umfassende Information verbessert werden.
Derzeit gehen Experten jedoch davon aus, dass immer noch rund die Hälfte der Betroffenen nicht diagnostiziert ist. Ein Zustand, der dringend geändert werden sollte, denn unzureichende oder gar keine Behandlung einer bipolaren Erkrankung kann schwerwiegende Folgen haben. Ohne Therapie erleben z. B. nur 5–10 % keine weitere Episode. Auch ist es für die Betroffenen wichtig, über ihre psychische Verfassung Bescheid zu wissen, da sich aus Unwissenheit viele unreflektiert in Stresssituation begeben, wodurch neue Krankheitsepisoden ausgelöst werden können. Eine entsprechende Diagnose – möglichst frühzeitig – ist daher von großer Bedeutung, um mittels Therapie die psychische Stabilität des Betroffenen wiederherzustellen und Rückfälle zu verhindern.
„Life events“: Auffällig ist, dass bei gegebener genetischer Disposition ein erster Krankheitsschub signifikant häufig 3–6 Monate nach einem subjektiv als belastend erlebten Ereignis ausgelöst wird. Zu diesen Geschehnissen gehören beispielsweise negative Erlebnisse wie Jobverlust, Scheidung, Trennung oder Todesfall, aber auch Arbeitswechsel, Karriereaufstieg, Verliebtheit, Übersiedlung und im Besonderen die Geburt eines Kindes bei Frauen, aber auch bei Männern.
Wichtig für den behandelnden Arzt ist, im Nachhinein zu ergründen, ob ein solch einschneidendes Erlebnis eine neuerliche Episode ausgelöst hat. Denn für eine wirkungsvolle Rückfallverhütung ist es nötig, zu wissen, auf welche Stressfaktoren der Patient sensibel reagiert. Die Grenzen der Belastbarkeit sind bekanntlich individuell sehr verschieden.
Alkohol und Drogen führen zu einer Stimmungsaufhellung bzw. bremsen die Getriebenheit der Manie. Doch dieser Effekt ist nur von kurzer Dauer, langfristig werden die Krankheitssymptome verstärkt. Zusätzlich kann das Problem eines Substanzmissbrauchs oder einer Abhängigkeit den Behandlungsverlauf erschweren.
Schlafstörungen: Für die psychische Gesundheit ist ein geregeltes Schlafverhalten generell von großer Bedeutung. Für bipolar Erkrankte ist ein geregelter Tag-Nacht-Rhythmus besonders wichtig. Schlafstörungen liefern erste Hinweise auf die Erkrankung: Manischen oder depressiven Phasen geht im Normalfall ein verändertes Schlafverhalten voraus (Ein- und Durchschlafstörungen), bei Manien kommt es als eines der ersten Symptome zu einer Schlafverkürzung gegenüber dem üblichen Schlafverhalten. Schichtarbeit, Nachtdienste, Fernreisen mit Jetlag oder chronischer Lichtmangel wirken sich bei bipolar Erkrankten ungünstig aus.
Zumeist wird in der Fachliteratur der Beginn des bipolaren Krankheitsgeschehens um das 20. Lebensjahr angegeben, deutliche Abweichungen sind jedoch möglich. So gibt es z. B. Beschreibungen von bipolaren Episoden, die bereits im 5. Lebensjahr aufgetreten sind. Falls Kinder sozial auffälliges Verhalten oder ein Hyperaktivitätssyndrom aufweisen, sollte daher im weiteren Verlauf der Beginn eines manisch-depressiven Krankheitsgeschehens in Betracht gezogen werden. Auch bei älteren Patienten kann es hilfreich sein, für eine genauere Diagnose nach solchen eventuellen frühen Episoden zu fragen.
Auch zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr, im Jugend- und Adoleszenzalter, treten in manchen Fällen die ersten manischen oder depressiven Episoden auf (25 % vor dem 20. Lebensjahr). Da die Pubertät häufig generell als „Krise“ erlebt wird, werden psychische Auffälligkeit oftmals jedoch auf das Alter geschoben, wodurch erste Anzeichen einer Depression vielfach übersehen werden. Extreme Niedergeschlagenheit, chronische Müdigkeit, völlige Unlust zu lernen oder die Beendigung der Ausbildung sollten aber als Warnsymptome ernst genommen und weiter abgeklärt werden. Auch eine erste manische oder hypomanische Episode kann in die Zeit der Pubertät fallen. Die stärker auftretenden Auslenkungen der Stimmungslage sind allerdings in der Intensität nur schwer vom so genannten „normalen“ Entwicklungsverhalten Heranwachsender abzugrenzen, vor allem, wenn zusätzlich soziale oder interfamiliäre Konfliktsituationen wie Scheidung, Todesfall oder Erkrankung eines Familienmitglieds etc. bestehen.
Und noch eine besondere Gruppe gilt es zu erwähnen: Gerade bei Krankenhauspatienten ist ein Altersgipfel zwischen dem 45. und dem 55. Lebensjahr zu beobachten. Die hormonelle Umstellung vor allem bei Frauen, aber auch bei Männern, sowie die sozialen Veränderungen in dieser Lebensphase (wenn z. B. die Kinder ausziehen) könnten eine mögliche Erklärung für einen Auslöser dieses bestehenden Prozesses sein. Zudem bleiben die ersten, leichteren Episoden der bipolaren Erkrankung oftmals unbemerkt.
Erste Hinweise auf die Erkrankung können sein:
Sollte es sich beim Patienten um ein Kind oder einen Jugendlichen handeln, kann es vorkommen, dass Eltern mit Widerstand auf die Diagnose reagieren („Sie wollen mein Kind nur krank machen.“, „So etwas ist in dem Alter doch normal, deswegen muss mein Kind nicht gleich Medikamente einnehmen.“). Hier gehört es zur ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Aufgabe, nicht nur die Diagnose genau zu erläutern, sondern auch auf die empirischen Daten über mögliche Folgen einer unzureichenden Behandlung der Erkrankung hinzuweisen. In aller Ruhe sollte erklärt werden, dass es nicht nötig ist, sich dem Leiden auszusetzen, sondern dass durch eine medikamentöse Behandlung Lebensqualität erhalten bzw. zurückgewonnen werden kann.
Zyklischer Verlauf: Bei einer Manie mit voll ausgeprägten Symptomen spricht man bereits von einem bipolaren Verlauf, da eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass irgendwann im Laufe der nächsten Monate oder Jahre ein Rückfall auftritt. So gesichert die Wiederholung der Episoden ist, so unklar ist der weitere Verlauf, der zum einen individuell sehr unterschiedlich aussehen kann, zum anderen auch in Intensität und Anzahl der auftretenden Episoden nicht vorhersagbar ist.
Die derzeit wichtigsten gängigen Diagnosesysteme sind einerseits das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-IV-TR 1994) der amerikanischen Psychiatervereinigung sowie jenes der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10).
Bei den Bemühungen der modernen Diagnostik geht es immer um eine möglichst präzise Beschreibung eines Krankheitsbildes. Dabei besteht auch heute noch die starke Tendenz, Menschen in Kategorien einzuteilen. Diese Kategorisierung ist für Forschung, Verwaltung und die Kommunikation zwischen Ärzten und Therapeuten auch zugegebenermaßen sehr wichtig, kann jedoch die Realität des individuellen Krankheitsbildes manchmal nur ungenau abbilden. Das Erfassen der Beweggründe eines Menschen und die wertschätzende Anteilnahme eines Psychiaters/Therapeuten stehen in keinem Widerspruch zur ICD-10- oder DSM-IV-Diagnostik.
Anamnese und Diagnostik: Die Diagnostik wird zu einem Großteil von den Symptomen der letzten Tage oder Wochen bestimmt. Patienten und deren Angehörige nehmen oft nicht wahr, dass einer aktuellen depressiven Episode ein Stimmungshoch mit Schlafverkürzung vorangegangen ist. Doch genau dieser Umstand würde dem Arzt helfen, eine bipolare Depression zu erkennen und entsprechend zu behandeln. Daher ist gezieltes Fragen in der Anamnese (Tab. 1 und 2) notwendig, um die Verlaufsgestalt zu eruieren und die exakte Diagnose zu ermöglichen.
Bei klinisch schweren Ausprägungsformen unterscheidet man einerseits die Manie (kann in rein euphorischer, aber auch dysphorischer Form auftreten, mit oder ohne psychotische Symptome) sowie die depressive Episode (kann eine typische Major Depression darstellen, aber auch agitiert oder atypisch verlaufen, so dass bei einer agitierten Form ein Mischzustand in Betracht zu ziehen ist). Grundsätzlich kann jede Form der Depression mit psychotischen Zeichen (nihilistischer Wahn, Verarmungswahn) einhergehen. Klinische Besonderheiten der bipolaren Erkrankung sind das „Kippen“ von einer Stimmungslage in die andere (tritt bei ca. 12–15 % der Betroffenen auf) sowie das „rapid cycling“, das Auftreten von verschiedenen Stimmungsepisoden häufiger als 4-mal im Jahr, wovon mindestens eine Episode hypomanisch oder manisch ist. Die raschen Zyklen können über mehrere Wochen, Tage oder in einem 48-Stunden-Rhythmus ablaufen.
Die bisher angeführten Formen werden unter der Bipolar-I-Erkrankung zusammengefasst, wenn das Vollbild einer Manie und einer Depression vorherrscht. Bei geringerer Ausprägung der Manie (Hypomanie, Bipolar II) gestaltet sich die Diagnose etwas schwieriger, da hypomanische Episoden häufig von Betroffenen und Angehörigen nicht als Krankheit erkannt werden. Hier bringt die Betrachtung des gesamten Verlaufs, das Erfassen der Abfolgen von Hochs und Tiefs Aufschluss. Die Bipolar-II-Gruppe ist im ICD-10 nur als Restgruppe erfasst, obwohl sie wahrscheinlich die weitaus größere ist. Weiters finden sich in der Literatur einige weitere Bipolar-Gruppen (Tab. 3), bei denen besondere Aspekte zum Tragen kommen, die in der Diagnose zu beachten sind.
Differenzialdiagnostisch in Betracht zu ziehen sind:
Bipolar Erkrankte weisen durch veränderte Stimmungslage, beeinträchtigte Wahrnehmung sowie Interaktion mit der Umwelt ein gesteigertes Risiko auf, Angsterkrankungen wie Sozialphobie und Panikstörungen sowie Alkohol- oder Nikotinsucht zu entwickeln oder in die Drogenszene zu schlittern, denn durch die länger anhaltenden, leichten depressiven Verstimmungen leiden die Sozialkontakte. Sozialer Rückzug und mangelnde Auseinandersetzung mit der sozialen Realität verhindern eine normale Entwicklung und Reifung der Person. Das gilt vor allem, wenn sich die Erkrankung bereits im Jugendalter manifestiert. Vermeidungsverhalten oder sogar Ängste stehen dann im Vordergrund der Beschwerden, was die Diagnose und damit die Behandlung erschwert. Das frühzeitige Erkennen, ob es sich z. B. um eine isolierte Drogenproblematik bzw. Angsterkrankung oder um ein zusätzliches Problem im Rahmen einer bipolaren Erkrankung handelt, ist jedoch für die weitere Vorgehensweise und ärztliche/therapeutische Beratung von grundlegender Bedeutung.
Für die Zukunft ist eine genaue und gezielte Forschung bezüglich der verschiedenen Ausprägungen der bipolaren Erkrankung (Bipolar I bis VI) wünschenswert, um die Untergruppierungen genauer beschreiben und validieren zu können. Dies würde auch hinsichtlich der jeweiligen Medikamentenempfehlung wichtige Hinweise liefern.
Literatur beim Verfasser