Rund 27 % der erwachsenen EU Bevölkerung leiden jedes Jahr an einer psychischen Erkrankung, so die Schätzung der 12-Monats-Prävalenz einer europaweiten epidemiologischen Studie1. Adaptiert auf Österreich wären dies ca. 1,4 Millionen Erwachsene im Alter von 20 bis 64 Jahren, die in den letzten 12 Monaten von einer psychischen Erkrankung betroffen gewesen sein könnten.
„Zur Behandlung dieser Erkrankungen benötigen wir geschultes und fachgerecht ausgebildetes medizinisches Personal, das jedoch in den nächsten Jahren nicht in ausreichendem Maß vorhanden sein wird“, warnte o. Univ.-Prof. Dr. h. c. mult. Dr. Siegfried Kasper, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Wien, vor Engpässen in der psychiatrischen Versorgung. Seine Aussage stützt sich auf eine Studie, die vom Institut für Höhere Studien (IHS) im Auftrag und in Kooperation mit der ÖGPB durchgeführt wurde.
Versorgungslücke ab 2018: Bereits ab 2018 wird nach Projektionsrechnungen des IHS die Nachfrage nach ambulanten und stationären psychiatrischen Leistungen das bestehende Angebot an psychiatrischer Arbeitskraft übersteigen. Auch bei moderater Bedarfsentwicklung wird für 2030 eine Versorgungslücke von 340 Psychiatern prognostiziert.
Wie Studienautorin Dr. Monika Riedel, IHS, ausführte, stieg in den letzten Jahren die Inanspruchnahme psychiatrischer Leistungen stärker, als aufgrund der demographischen Verschiebungen anzunehmen wäre. Diese verstärkte Nachfrage sei nicht durch eine steigende Krankheitslast zu erklären, sondern mit zunehmender Akzeptanz von – und Wissen um – psychische Erkran – kungen und dem daraus resultierenden Abbau des zuvor ungedeckten Bedarfs an psychiatrischer Behandlung. Da davon auszugehen sei, dass dennoch nicht alle Behandlungsbedürftigen erreicht werden, sich dieser Trend aber mit der Zeit abschwächen wird, sei ein Bedarfsszenario „abschwächendes Wachstum“ am wahrscheinlichsten.
„Generell“, so Riedel, „sind die Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Bedarfsentwicklung größer als hinsichtlich der Entwicklung des Angebots. Für die Zukunft zeichnet sich sehr deutlich eine Verringerung der Anzahl aktiver Psychiater ab.“ Die Altersstruktur der derzeitigen Ärzte führt zu stärkeren Abgängen durch Pensionierungen und die nachrückenden Jahrgänge sind zunehmend durch die Einführung der Studienzugangsbeschränkungen ausgedünnt. Außerdem sind höhere Emigrationsraten bei inländischen wie ausländischen Absolventen von Medizinstudium und Facharztausbildung zu erwarten. „Wir haben verschiedene Angebotsszenarien berechnet, aber bei allen beginnt das psychiatrische Angebot ab 2017 in unterschiedlichem Ausmaß zu sinken.“
Wie die Studie zeige, könne die Versorgung mit Psychiatern nur mehr für kurze Zeit sichergestellt werden, sofern nicht gezielte Maßnahmen gesetzt werden, betonte Riedel. So müssten beispielsweise gute Rahmenbedingungen für den Abschluss des begonnenen Medizinstudiums sowie Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen geschaffen werden, die den Verbleib von Medizinern, insbesondere von ausgebildeten Psychiatern, in Österreich attraktiv machen. Ebenso müsse man dafür sorgen, dass eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewährleistet ist, da ein hoher Anteil an Frauen in der psychiatrischen Versorgung tätig ist.
Quelle: Pressekonferenz der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB), 26. 1. 2012, Wien
1 Wittchen HU, Jacobi F et al., Eur Neuropsychopharmacol. 2005; 15(4):357–76.