Die Neurowissenschaften haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten von einem interdisziplinären Newcomer zu einer zentralen Leitwissenschaft entwickelt. Fortschritte in der Bildgebung oder genetischen und molekularbiologischen Forschung haben nicht nur die klinische Praxis in den Fächern Psychiatrie, Neurologie, Neurochirurgie, Psychosomatik verändert, sondern stellen auch neue Anforderungen an die Forschung, die zunehmend interdisziplinärer und multizentrischer wird.
Vom Österreichischen Wissenschaftsrat wurden daher nun die klinischen Neurowissenschaften an den drei Medizinischen Universitäten einer Analyse unterzogen, die von einem internationalen Gutachterteam um Prof. Dr. Arno Villringer, Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig, durchgeführt wurde.
Bestandsaufnahme: Wie Villringer bei der Präsentation des Berichts ausführte, gibt es an den drei Standorten eine hervorragende fachliche Expertise, aber auch – im internationalen Vergleich – Entwicklungspotenzial.
So gehören an der Medizinischen Universität Graz Neurowissenschaftler zu den bestpublizierenden Wissenschaftlern, im Bereich „Pathophysiologie kleiner Infarkte“ ist die Grazer Gruppe eine der weltweit führenden Arbeitsgruppen. Zu den exzellenten klinisch-wissenschaftlichen Schwerpunkten in Graz zählt neben der Bildgebung kleiner Läsionen (Schlaganfall, multiple Sklerose) auch die Demenz- und Schlaganfallprävention sowie die Neurogastroenterologie.
An der Medizinischen Universität Innsbruck ist mit zahlreichen wissenschaftlichen Projekten der Schwerpunkt Schizophrenie, verbunden mit Aspekten der Pharmakotherapie, ein auch international exzellent ausgewiesener Forschungsbereich. Von der Psychiatrischen Klinik wird eine Reihe von internationalen Multicenterstudien maßgeblich mitgestaltet. Auch im Bereich Bewegungsstörungen und Neurodegeneration ist Innsbruck international anerkannt. Ebenfalls ausgezeichnet ist der Bereich Schlaganfallprävention und -akutversorgung.
In Wien ist das AKH als eines der größten Krankenhäuser Europas ein wesentlicher Pfeiler der Medizinischen Universität. Weltweit beachtet ist der Schwerpunkt Neuroinflammation und Neuroimmunologie, der vor allem von der überragenden Expertise am Zentrum für Hirnforschung getragen wird. Ähnliches gilt für den Schmerz. Federführend ist auch hier das Zentrum für Hirnforschung mit international wegweisender Grundlagenforschung. An der Psychiatrischen Universitätsklinik gibt es eine intensive Forschungsaktivität im Bereich affektive Erkrankungen. Eingesetzt werden klinische, neurochemische, molekularbiologische und bildgebende Methoden. Mit einer hervorragenden Publikationslage handelt es sich ebenfalls um einen exzellent ausgewiesenen Schwerpunkt. Kritisch wird im Bericht angemerkt, dass keine Finanzierung mehr für die international renommierte VITA-Studie zur Verfügung steht. Dies sei umso bedauerlicher, weil der eigentliche Nutzen dieser Studie durch die Auswertung z. B. neuropathologischer Befunde erst bevorstehe.
Als weiteren Kritikpunkt führte Villringer an, dass an allen drei Standorten das Thema Demenz sowohl von der Psychiatrie und Neurologie bearbeitet wird. Von einer vermehrten klinischen und wissenschaftlichen Kooperation zwischen den beiden Fächern (z. B. gemeinsame Ambulanz) könnte nicht nur die Versorgung, sondern auch die Forschung profitieren.
Empfehlungen: Angesichts der Vielfalt der klinischen Neurowissenschaften sei es nicht sinnvoll, jedes Feld an allen Standorten auszubauen, so die Empfehlungen des Gutachterteams. Bereits jetzt seien die drei Standorte in ihren Schwerpunkten sehr differenziert und komplementär aufgestellt. Daher sollte jeder der Standorte in seiner Entwicklung zu einem spezifisch ausgerichteten integrierten Neurozentrum gefördert und die komplementären Strukturen durch Initiativen für eine Vernetzung in Österreich weiter gestärkt werden. Zum ersten Punkt sind an den drei Standorten Maßnahmen geplant, durch eine bessere Integration von klinischer und Grundlagenforschung den translationalen Ansatz zu verbessern. Hinsichtlich des zweiten Punktes wären nationale Fördermaßnahmen, die vernetzte klinisch-wissenschaftliche Forschungsstrukturen fördern – ähnlich dem deutschen Programm „Kompetenznetze in der Medizin“ – sinnvoll.