Nach 25 Jahren intensiver Persönlichkeitsstörungsforschung steht eine grundsätzliche Revision der bisherigen Klassifikation bevor“, erläuterte Prof. Dr. Sabine Herpertz, Heidelberg, am DGPPN-Kongress 2011. Gründe seien vor allem in den überhöhten Prävalenzen an Störungskategorien, der exzessiven Komorbidität, in der mangelnden Validität einiger Kategorien, in der zufälligen Festsetzung der diagnostischen Schwelle und der mangelnden Berücksichtigung des Schweregrads der Funktionseinschränkung sowie in der geringen Stabilität der Diagnosen bei andauernder Dysfunktionalität zu suchen.
Die konzeptuelle Trennung zwischen normaler und gestörter Persönlichkeit ist empirisch nicht haltbar. „Der Schweregrad erlaubt eine genauere Vorhersage des Grades an aktueller und zukünftiger Dysfunktionalität als der Störungstyp“, betonte Herpertz. „Zukünftig soll die Bestimmung der Funktionsbeeinträchtigung ins Zentrum der Klassifikation treten.“ Denn die heutigen Diagnosen eignen sich nicht für die Therapieplanung.
Der aktuelle DSM-V-Entwurf entspricht einem Hybridmodell von dimensionaler und kategorialer Klassifikation. Er sieht die Schaffung einer empirisch fundierten, breiten Struktur von Persönlichkeitsmerkmalen (traits) sowie eine zahlen – mäßige Begrenzung auf 6 kategoriale Persönlichkeitsstörungstypen (PS) vor, nämlich
Reduktion auf 6 Prototypen: Die 6 Persönlichkeitsstörungsprototypen werden nicht, wie im DSM-IV, anhand einer Merkmalsliste unter Angabe eines Algorithmus operationalisiert, sondern detailliert in einer narrativen Form beschrieben. „Die DSM-V-Definition einer Persönlichkeitsstörung geht, im Unterschied zum Anspruch der Theoriefreiheit im DSM-IV, explizit auf Konzepte zur Bedeutung von Selbst- und andere Repräsentanzen ein. Jeder Prototyp wird anhand von typischen Defiziten im Funktionsniveau des Selbst – Strukturachse – und im interpersonellen Funktionieren – Beziehungsachse – sowie durch pathologische Persönlichkeitsmerkmale und verhaltensnahe Phänomene identifiziert.“ Zusätzlich müsse noch die Passung des Patienten mit dem Prototyp anhand einer 5-stufigen Rating-Skala eingeschätzt werden.
Die anderen im DSM-IV angeführten PS entfallen und können nur noch dimensional als so genannte „Persönlichkeitsstörungen spezifiziert anhand von Merkmalen“ (personality disorder trait specified) diagnostiziert werden, erläuterte Herpertz (Tab. 1). „Der Entwurf sieht vor, dass stabile Persönlichkeitsdimensionen zukünftig systematisch bei allen psychiatrischen Patienten zu beschreiben sind, da sie Risikofaktoren für psychiatrische Erkrankungen darstellen und frühzeitig in die Therapieplanung eingehen sollten.“
Dimensionale Beschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen auf 2 Ebenen:
Die revidierte Klassifikation im DSM-V sieht zunächst die Schaffung einer begrenzten Zahl von übergeordneten Persönlichkeitsmerkmalsdomainen (personality trait domains) vor, die auf einer 4- Punkte-Skala hinsichtlich ihres Ausprägungsgrades beschrieben werden sollten, nämlich:
Diese sollen, so die Psychiaterin weiter, durch eine empirisch fundierte breite Struktur von Persönlichkeitsmerkmalen (trait facets) ergänzt werden, die den übergeordneten „personality trait domains“ zugeordnet sind, wie z. B. emotionale Labilität und Ängstlichkeit als Eigenarten der negativen Emotionalität oder Dominanzstreben und Feindseligkeit als Merkmale von Antagonismus (Tab. 2).
Vom Diagnostiker sei somit eine grundsätzliche Umorientierung gefordert, was zu erheblichen Protesten gegenüber dem dargestellten Ansatz führte. „Eine dimensionale Betrachtung von Persönlichkeitsstörungen“, betonte Herpertz, „kann aber in jedem Fall den Patienten sehr viel mehr gerecht werden als die bisherige kategoriale Klassifikation und die Therapieplanung unterstützen sowie auch entstigmatisierend wirken.“ Denn die Persönlichkeitsfacetten lassen sich typischen psychologischen Dysfunktionen wie z. B. Affektdysregulation oder Impulskontrollstörung zuordnen, die im Fokus von psychotherapeutischen Interventionen stehen sollten.
Ideengeschichtlich sei das Konzept der Persönlichkeitsstörung eng mit der Annahme einer hohen Stabilität über die Lebenszeit verknüpft. Dem stehe aber eine steigende Zahl neuerer Daten aus der Verlaufsforschung gegenüber, die zeigen konnten, dass bereits nach 2 Jahren ein Drittel der Patienten mit Borderline- PS – ähnlich auch bei ängstlich vermeidender und zwanghafter PS – nicht mehr die diagnostischen Kriterien erfüllen und nach 10 Jahren sogar nur mehr 15 %. „Diese überraschend geringe diagnostische Stabilität ging allerdings mit keiner hinreichenden Verbesserung einher, die Funktionseinbußen blieben hoch. Selbst nach 10 Jahren erreichten nicht mehr als 50 % der Patienten ein ausreichendes psychosoziales Funktionsniveau mit GAF-Score > 60.“
Auch Prof. Dr. Peter Fiedler, Heidelberg, unterstrich: „Persönlichkeitsstörungen gehören wie die anderen psychischen Störungen im DSM-V auf die Achse 1. Persönlichkeitsstörungsdiagnosen sollten und dürfen nur dann vergeben werden,
Dahinter stehen die Grundrechte des Menschen. Und er kritisierte weiter: „Kategorialdiagnosen werden heute oft aus dem Bauch heraus, viel zu schnell und ohne z. B. SKID-II-Diagnostik gestellt. Klinische Eindrucksdiagnosen sind unzuverlässig.“ Die DSM-V-Task-Force wollte mit der Reduktion der Zahl von PS aufgrund der hohen Zahl von Gleichzeitigkeitsdiagnosen auch das Problem der kategorialnegativen Stigmatisierung endlich aus der Welt schaffen.
Ergebnisse der Komorbiditätsforschung:
Im ersten veröffentlichten DSM-V-Entwurf fanden sich nur noch 5 spezifische Persönlichkeitsstörungen, die am besten empirisch untersucht sind und zu denen auch Daten aus der Therapieforschung vorliegen. „Heftigste Proteste, insbesonders seitens der Psychoanalytiker, führten aber dazu, dass aktuell die narzisstische PS wieder aufgenommen wurde, auch wenn das Merkmal der Achse-1-Ich-Dystonie zumeist fehlt.“ (Abb.) Weitere Überarbeitungen seien zu erwarten. Die Komorbiditätsforschung ergab aber auch eindeutig, so Fiedler abschließend, dass die vorgesehenen PS ein deutlich erhöhtes Risiko beinhalten, an psychischen Störungen zu erkranken, z. B. haben Borderline-, vermeidende und schizotypische PS ein erhöhtes Vulnerabilitätsrisiko für Phobien, Ängste sowie dissoziative und Zwangsstörungen mit sekundärer Hilflosigkeitsdepression, während bei zwanghaften PS ein erhöhtes Depressionsrisiko im Vordergrund steht.