DGPPN 2011: Psychische Erkrankungen sind mehr als Gehirnkrankheiten

Man könnte sich auch über Wiederentdeckungen freuen, aber die Irritation nehme doch rasch zu, wenn deutlich werde, was hier im Kern mit Personalisierung gemeint sei, erklärte Prof. Dr. Thomas Fuchs, Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg. Denn es gehe um nichts weiter als die Suche nach Neuro- und Biomarkern, die es erlauben, einigermaßen homogene Patientensubpopulationen zu definieren und pharmakologische Therapien maßgeschneidert zu applizieren.
Zur Illustration zitierte Fuchs einen prominenten Vertreter der personalisierten Psychiatrie, Prof. Dr. Florian Holsboer: „Personalisierte Medizin ist in der Depressionstherapie keine Utopie mehr. (…) Durch Genotypisierung von ABCB1 können wir indirekt die Kapazität des P-Glykoproteins und dadurch die Fähigkeit eines Antidepressivums erkennen, (…) in das Hirngewebe einzudringen. Wenn ABCB1-Genvarianten vorliegen, durch die das Antidepressivum leicht in das Hirngewebe eindringen kann, finden wir beim Vergleich großer Patientengruppen bessere Therapieergebnisse.“1 Welchen Nutzen, so Fuchs, dieser und andere Gentests in der klinischen Praxis haben sollte, sage Holsboer freilich nicht, denn im zitierten Artikel räume er selbst ein, dass die jahrzehntelange Suche nach genetischen und neurobiochemischen Mechanismen der Depressionsentstehung als Grundlage für eine eigentlich spezifischere Behandlung so gut wie ergebnislos geblieben sei.
Gleichzeitig empfehle Holsboer eine umgehende Verabschiedung von tradierten Diagnosesystemen zugunsten einer neurobiologischen Funktionsdiagnostik. Er kündige auch weitere Labortests zur Anzeige eines erhöhten Depressionsrisikos an. Den potenziellen Patienten lege er heute schon nahe, sich dann aber auch einer prophylaktischen Behandlung zu unterziehen, „sei es den Angehörigen zuliebe oder auch als Verantwortung gegenüber der Solidargemeinschaft. Diese Ausweitung der personalisierten Medizin (…) wird die Gesundheitspolitik, Versicherungen und das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie von Grund auf ändern.“1

„Depersonalisierte“ Psychiatrie: Es sei offensichtlich, kritisierte Fuchs, dass hier mit dem Begriff der personalisierten Psychiatrie der Eindruck vermittelt werden solle, erst durch die konsequente Anwendung des genetischen, neurobiologischen Paradigmas werde die Psychiatrie endlich in die Lage versetzt, „einzelnen Patienten wirklich gerecht zu werden, während sie bislang fruchtlos in den Selbstschilderungen der Patienten herumgestochert und nichts als therapeutische Nebelkerzen in die Luft geworfen hat. Vielleicht sollte man eher von einer depersonalisierten Psychiatrie sprechen, da hier der Begriff der Person auf genetische und neuronale Besonderheiten reduziert wird, auf die unterste Ebene dessen, was überhaupt personale Identität ausmachen kann. Wenn die Psychiatrie ein dem kranken Menschen im umfassenden Sinn zugewandtes Fach bleiben will, kann sie sich damit nicht begnügen.“

Der Begriff der Person

Der Begriff der Person sei in der philosophischen Anthropologie traditionell durch ihr Verhältnis zu sich selbst und durch ihr Verhältnis zu anderen charakterisiert. Das erste Merkmal bedeute, dass sich eine Person nicht nur in Zuständen befindet, sondern sich zu diesen Zuständen verhält und in der Lage ist, zu ihren primären Impulsen, Motiven, Wünschen Stellung zu nehmen, sie zu bewerten und Entscheidungen über ihr Handeln zu treffen. Damit werde die Person zum Subjekt von Autonomie und Verantwortung.
Das zweite Merkmal bedeute, dass Personsein durch Interpersonalität definiert ist. Fuchs: „Personen besitzen die Fähigkeit, andere als ihresgleichen anzuerkennen und ihre Perspektive einzunehmen. Und nur durch diese Perspektivenübernahme entwickeln sie überhaupt auch Selbstbewusstheit, nämlich indem sie sich selbst aus der Perspektive der anderen zu sehen lernen. Das Selbstverhältnis der Person und das Verhältnis zu anderen sind also untrennbar miteinander verknüpft.“
Personalität impliziere aber auch die Fähigkeit, sich leiblich darzustellen, sich auszudrücken, sich vor anderen zu zeigen. Daher lasse sich die Person auch nicht einfach aus mentalen und körperlichen Bestandteilen – also aus Verhalten und Erleben – zusammensetzen, sondern sie übergreift diesen Gegensatz als eine primäre leib-seelische Einheit, als ein lebendiger Mensch.
Daraus, so Fuchs weiter, folge, dass man Personsein nicht einem einzelnen Organ zuschreiben könne, sondern immer dem lebendigen Menschen als Ganzen. „Das Gehirn verfügt weder über geistige noch leibliche Zustände, es hat kein Erleben oder Bewusstsein, denn das Gehirn lebt nicht, es ist nur das Organ eines Lebewesens, einer lebendigen Person. Personalität besteht wesentlich in den leiblichen, intentionalen und sozialen Beziehungen zur Welt. Diese Beziehungen sind weder Erzeugnisse des Gehirns, noch in ihm aufzufinden. Zweifellos ist das Gehirn eine zentrale biologische Vorraussetzung für Personsein, doch die Person selbst ist nicht ein Teil ihres Körpers, sondern immer der lebendige Mensch. Personen haben Gehirne, sie sind sie nicht.“

Psychische Krankheit als zirkuläres Geschehen

Für die Psychiatrie bedeute das, dass psychische Krankheiten mehr als Gehirnkrankheiten sind. Die phänomenologische Psychopathologie habe herausgearbeitet, wie sich psychisches Kranksein vollzieht. In diesem Sinne sei die Krankheit nicht irgendwo im Kranken, sondern eher umgekehrt, der Kranke in der Krankheit, auch wenn ihre somatischen Anteile innerhalb seiner Körpergrenzen zu verorten sind, speziell im Gehirn. Doch zur direkten Ursache für eine psychischen Störung werde das Gehirn nur bei läsionsbedingten Ausfällen, bei den meisten psychischen Krankheiten müsse eine Vielzahl von Einflüssen in der Person und in der Umwelt der Person in Betracht gezogen werden „Damit haben wir es nicht mehr mit einem monokausalen, sondern mit einem zirkulären Geschehen zu tun, in dem biologische, psychologische, soziale Einflüsse in Wechselwirkung miteinander stehen. Und betroffen sind vor allem die zwei zentralen Aspekte der Person, das Selbstverhältnis und das Verhältnis zu anderen“, betonte Fuchs.

Beispiel Depression: Die Depression werde zumeist durch eine persönliche Situation ausgelöst, in der sich der Betreffende als insuffizient, hilflos, schuldig oder gescheitert erlebt. Die Wahrnehmung dieser subjektiven persönlichen Situation geht auf neurobiologischer Ebene mit einer physiologischen Stressreaktion einher und die Eigenwahrnehmung dieses Zustandes verstärke im Sinne einer negativen Rückkoppelung die physiologischen Stresssymptome. Im Ergebnis verselbstständige sich die Reaktion des Organismus und werde zu einer massiven Regelkreisstörung. Somit spiele das subjektive Erleben schon für die Entstehung der depressiven Störung eine zentrale Rolle und personale Aspekte wie das Selbstkonzept, Selbstwerterleben, Selbstwirksamkeit würden eine zentrale Bedeutung für die Pathogenese gewinnen. Ist die Depression einmal ausgelöst, werde sie nicht zu einer biologischen, sondern bleibe eine personale Erkrankung, denn die subjektive Seite der Erkrankung bestehe nicht nur in einer sekundären Reaktion auf physiologische Funktionsstörungen wie das z. B. bei körperlichen Erkrankungen der Fall ist. Vielmehr stelle das veränderte Selbsterleben des Patienten das eigentliche Krankheitsgeschehen dar und beeinflusse auch den weiteren Verlauf.
Psychische Erkrankungen ließen sich auch nicht als rein individuelle Störungen auffassen. Sie gehen immer mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen der Freiheit einher, auf Situationen und Anforderungen der sozialen Mitwelt in flexibler Weise antworten zu können, sind also immer Beziehungsstörungen. Ein erheblicher Teil der Psychopathologie lasse sich gar nicht am isolierten Patienten erfassen, sondern nur in der Interaktion mit ihm. Jede psychische Erkrankung sei mit Wechselwirkungen im Verhältnis zur Umwelt verbunden, die für ihre Entstehung und im Verlauf maßgeblich sind.

Fazit

„Psychische Erkrankungen sind mehr als Gehirnkrankheiten. Das Erleben, das Selbstverhältnis und die Beziehungen eines psychisch kranken Menschen stellen zentrale Komponenten des Krankheitsgeschehens dar“, fasste Fuchs zusammen. „Daher gibt die Abbildung oder Beschreibung der neuronalen Substratprozesse immer nur ein Teilstück eines übergreifenden Krankheitsprozesses wieder, selbst dann, wenn neuronale Fehlfunktionen einen wesentlichen Anteil an der Pathogenese haben. Keine psychiatrische Erkrankung kann unter Absehung von der Subjektivität und den interpersonellen Beziehungen des Kranken diagnostiziert, beschrieben oder behandelt werden. Psychische Krankheiten sind immer Krankheiten der Person in ihrer Beziehung zu anderen Personen. Vor diesem Hintergrund erscheint es bestenfalls kurios, die Entwicklung von Labortests und Biomarkern für die Ansprechbarkeit auf bestimmte Pharmaka als die Geburt einer personalisierten Psychiatrie zu feiern. Es wäre der Psychiatrie weit mehr gedient, wenn sie sich auf ihre eigentlichen personalen Traditionen besönne.“

 

Quelle: DGPPN-Kongress, Symposium „Personalisierte Medizin – ein neues Paradigma in psychiatrisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive“, 25. 11. 2011, Berlin.

1 Holsboer F, Die Zukunft der Depressionsforschung. Nervenarzt 2010; 81:1306–16.