Spielsucht – was macht süchtig?

In einer Gesellschaft, in der ein hohes Leistungsdenken vorherrscht und die Suche nach dem ultimativen Kick nahezu zwingend vorgeschrieben wird, kann sich bei potenziell gefährdeten Personen das Spielverhalten rasch verselbständigen und zur Sucht werden. Exzessiv selbstbelohnendes Verhalten ermöglicht Frustrationen, Ängste und Unsicherheiten zu kompensieren bzw. zu verdrängen und Glücksgefühle zu erleben. Euphorie, Nervenkitzel, Macht und Ansehen, Stressabbau, Realitätsflucht, Selbstbelohnung, Stimmungsveränderung
und die Ventilfunktion stehen im Vordergrund.

Zu den Risikogruppen zählen junge Menschen mit Problemen in der Selbstfindung, sozial unsichere Menschen oder jene mit geringem Selbstwert sowie Menschen mit Süchten in der Herkunftsfamilie.
Selbstwertprobleme, massive Entwertung oder narzisstische Überbewertung, reduzierte Impulskontrollfähigkeit, Erregungsdysregulation und Sensation Seeking zählen zu den prädisponierenden Faktoren für eine Spielsuchtentwicklung. Dieser „Reizhunger“ beinhaltet neben kurzfristigen positiven Wirkungen im Sinne eines „Kicks“ jedoch auch negative Folgewirkungen, wie z. B. finanzielle Verluste oder psychosoziale Problemstellungen, die häufig durch delinquentes Verhalten und Suizidversuche charakterisiert sind. Illusionäre Kontrollüberzeugungen, Intoleranz gegenüber Verlusten, Realitätsflucht und damit in Verbindung eine verminderte Kommunikations- und Kontaktfähigkeit zählen zu den weiteren Risikofaktoren.

Entwicklung des süchtigen Verhaltens

Analog zu den stoffgebundenen Abhängigkeiten führt der Weg vom normalen Gebrauch graduell über mehrere Phasen in die Sucht: vom „sozial unproblematischen“ Spielen über das „problematische Spielen“ bis hin zum „pathologischen Spielen“.
Ein sozial unproblematisches Spielen dient vorwiegend einem kurzfristigen Freizeitvergnügen. Hingegen beinhaltet ein problematisches Spielen über das Freizeitvergnügen hinaus die Funktion eines Beruhigungs- und/oder Aufputschmittels bei psychischer und/oder sozialer Konfliktlage, womit eine psychische Abhängigkeit angebahnt wird. Ein pathologisches bzw. süchtiges Spielverhalten ist durch die weitgehende Eigendynamik, durch Kontrollverluste, Abstinenzunfähigkeit, den Wiederholungszwang und die Aufholjagd nach dem verlorenen Geld gekennzeichnet. Trotz überwiegend negativer Konsequenzen kann das Spielen nicht mehr aufgegeben werden. Der Zeit- und Geldaufwand erreicht ein Ausmaß, wodurch ein subjektiver Leidensdruck entsteht und dem Spielen andere Lebensinteressen untergeordnet werden. Gedanklich, emotional und verhaltensbezogen konzentriert sich alles auf das Spielen, sodass schließlich Störungen im psychischen und sozialen Bereich auftreten.
Das süchtige Verhalten wird zur einzigen Problembewältigungsstrategie. Kontrollverlust, Frequenzanstieg sowie Vernachlässigung sozialer und beruflicher Verpflichtungen sind die Folge, Spielen wird zum Lebensmittelpunkt.
Weiters finden sich bei Spielsüchtigen eine Vielfalt an Komorbiditäten, wie z. B. Substanzmissbrauch, affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen.

Funktionalität der Selbstwertregulierung

Für die Suchtentwicklung besonders relevant sind das „magische Denken“ und das dadurch aufgewertete Selbst. Die Funktionalität der Selbstwertregulierung ist neben stimulierenden, stressreduzierenden, stimmungsverändernden und selbstbelohnenden Aspekten für die Aufrechterhaltung des pathologischen Glücksspielverhaltens von erheblicher Bedeutung.
Die zu Beginn einer „Spielkarriere“ häufigen Anfangsgewinne werden als enorme Aufwertung der eigenen Person interpretiert und an diese unrealistische Gewinnerwartungen geknüpft. Der „big winner“ ist geboren.
Bezeichnend ist dabei eine bei vielen Spielsüchtigen zu beobachtende „Flucht nach vorne“, sobald ihr aufgewertetes Selbst als bedroht erlebt wird, verbunden mit einer zunehmenden Realitätsverleugnung. In diesem Zusammenhang ist das Konzept des Selbstwertes von großer Bedeutung. Dabei sind sowohl intrapersonelle als auch interpersonelle Einflüsse wichtig: Intrapersonell sind Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen relevant, interpersonell die soziale Kompetenz und das soziale Netz.
Der Selbstwert ist aber nicht nur für das Verständnis der Persönlichkeit und für die sozialen Interaktionen wesentlich, sondern hat auch großen Einfluss auf die Kognitionen und Emotionen sowie auf die Motivation und auf das soziale Handeln, wobei zu berücksichtigen ist, dass Menschen generell dazu neigen, ihre Umwelt selbstwertdienlich zu interpretieren. Wesentliche Aspekte des Selbst entwickeln sich in der Kindheit. Wird das Grundgefühl von Selbstakzeptanz früh beschädigt, können potenziell gefährdete Menschen die manipulativ selbstregulierende Wirkung des Glücksspiels für das nicht integrierte Selbst als verlockend erleben.
Spielsüchtige haben unzureichende selbstwertstabilisierende Zuwendung erfahren und müssen mit diesem unzureichenden Selbstwert leben. Das unzureichende Selbstwertgefühl muss illusionär aufgebaut werden, dies stellt aber nur eine Notlösung dar.
Menschen, die eine Spielsucht entwickeln, möchten „winner“ und nicht „loser“ sein, oder wenn ein „loser“, dann ein „big loser“ – womit in demonstrativer Form ein Pseudoselbstbewusstsein zur Schau getragen wird, ein Problemlösungsversuch, der jedoch mittel- bis längerfristig zum Scheitern verurteilt ist. Dieses kompensatorische Agieren ist ein Zeichen für die innere Strukturschwäche und stellt ein Bewältigungsmuster dar.
Mit der Überkompensation wird versucht, das Defizit im Übermaß auszugleichen; zu den häufigsten Formen zählt die narzisstische Überheblichkeit, diese steht für eigenes Versagens- und Unwichtigkeits­erleben und mündet zumeist in Selbst­verachtung betreffend die eigene Person, andere Menschen werden vorerst idealisiert, um dann entwertet zu werden.

Entwicklung magischer Denkmuster

Ein zweiter selbstwertdienlicher Bewältigungsversuch ist die Selbststimulation durch das Glücksspielverhalten. Weiters versuchen Spielsüchtige, die Situation zu kontrollieren und zu beherrschen, dies erklärt auch die Entwicklung der magischen Denkmuster im Spielverhalten, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Glücksspielsucht relevant sind.
Neben Größenfantasien entwickeln Spielsüchtige eine zunehmende Unfähigkeit, zu verlieren. In dieser bereits problematischen Phase jagen Spielsüchtige der neuen magischen Identität nach, die sie unbedingt beibehalten wollen. Mit einer scheinbar „zwingenden Logik“ wird die einmal „gewählte Strategie“ verfolgt. Irrationale ­Überzeugungen, wie z. B. Verluste durch Weiterspielen oder neuerliches Spielen ausgleichen zu können, die generelle Intoleranz Verlusten gegenüber und unrea­listische, nicht an tatsächliche Wahrscheinlichkeiten orientierte Gewinnerwartungen entstehen. Damit im Zusammenhang entwickeln Spielsüchtige die Überzeugung, dass nach einer Verlustserie die Wahrscheinlichkeit eines Gewinnes steigt, „die Gewinnsträhne“ kommt.
Weiters etabliert sich eine gedankliche Verknüpfung zwischen fantasierten zukünftigen Spielergebnissen und vorangegangenen Ergebnissen. Diese Gewinnerwartungen werden durch „Fastgewinne“ forciert. Ein weiteres Merkmal dieser magischen Denkmuster ist die wechselnde Zuweisung der Verantwortlichkeit bei Gewinnen und Verlusten. Gewinne werden den eigenen Fähigkeiten zugeschrieben und demzufolge überbewertet, Verluste werden äußeren Faktoren zugeschrieben und bagatellisiert. Überzeugungen bezüglich der Vorhersehbarkeit von Ergebnissen sind ein weiteres Merkmal. Darüber hinaus entwickeln Spielsüchtige illusionäre Kontrollüberzeugungen, wie z. B. die Annahme, persönlich Einfluss auf das Spielergebnis nehmen zu können, den Spielverlauf kontrollieren zu können, sichere Gewinnstrategien werden entwickelt, und ein fehlendes Verständnis für das Zufallskonzept besteht ohnedies.

Therapeutische Herausforderung

Die skizzierte Komplexität der Glücksspielsucht erfordert ein qualifiziertes Behandlungsangebot, das breit gefächert und individuell gestaltet ist. Um die für Spielsüchtige typischen verzerrten Denkmuster aufzuzeigen und zu modifizieren, ist ein spezielles Gruppentherapiekonzept erforderlich. Spielsüchtige erhalten so die Möglichkeit, sich von unrealen bzw. die Realität ständig manipulierenden Mustern zu distanzieren, und können in die reale Lebenswelt zurückfinden.
Die therapeutische Herausforderung besteht insbesondere darin, Spielsüchtigen ein Setting anzubieten, in dem sie ihre Suchtentwicklung realistisch reflektieren lernen, die Funktion fantasierter Kontrollmechanismen als Kompensationsmittel für ihre erhebliche Selbstwertproblematik verstehen und Realitätsverdrängung als pseudonarzisstisches Verhaltensmuster erkennen.
Demzufolge kann sich ein Therapieangebot für Spielsüchtige nicht ausschließlich an Therapiekonzepten zur Behandlung von Substanzabhängigkeiten orientieren.
Ein solches Konzept wurde im Krankenhaus de La Tour entwickelt und wird seit Jahren durchgeführt und weiterentwickelt. Die Inhalte müssen sich dabei an den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Patienten orientieren und vielfältige Wege aufzeigen, die es betroffenen Spielern ermöglichen, durch Kreativität und Fantasie eine Bedürfnisbefriedigung zu erlangen, sodass ein „In-Besitz-genommen-Sein“ durch das Glücksspiel nicht mehr möglich ist.

Literatur:
– Eisenbach-Stangl I, Lentner S, Mader R, Männer, Frauen, Sucht. Facultas Verlag 2005
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– Grüsser SM, Thalemann CN, Verhaltenssucht. Diagnostik, Therapie, Forschung. Bern: Huber Verlag 2006
– Kuntz H, Sucht – Eine Herausforderung im therapeutischen Alltag. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2007
– Müller-Span F, Margraf J, Wenn Spielen pathologisch wird. Basel: Karger Verlag 2003
– Petry J, Pathologisches Glücksspielverhalten: Ätiologische, psychologische und psychotherapeutische Aspekte. Geesthacht: Neuland Verlag 2003
– Petry J, Glücksspielsucht: Entstehung, Diagnostik und Behandlung. Göttingen: Hogrefe 2003
– Potreck-Rose F, Jakob G, Selbstzuwendung, Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen. 6. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2010
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– Scholz H, Spielsucht – eine therapeutische Herausforderung. In: Neuropsy 2010/06