In der Suchtmedizin und -therapie ist die Diagnostik und Behandlung von komorbiden psychiatrischen Störungen seit Jahren wichtiger Bestandteil des klinischen Alltags. Auch in allgemeinpsychiatrischen Kontexten haben substanzbedingte Störungen einen wichtigen Einfluss auf den Verlauf und die Prognose anderer psychiatrischer Erkrankungen, werden aber noch immer in ihrer Häufigkeit und Relevanz unterschätzt. Insbesondere affektive und Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, komplexe posttraumatische Störungsbilder, aber auch psychotische Störungen und ADHS sind stark mit pathologischem Konsumverhalten verbunden.
Alkohol, Nikotin und Benzodiazepine stellen die vorrangig gebrauchten Substanzen dar. In den letzten Jahren bekamen auch Cannabinoide und Stimulanzien analog zu den allgemeinen aktuellen Drogenkonsumgewohnheiten ihren festen Platz in der Lebenswelt psychiatrischer Patienten. Epidemiologische Studien zeigen starke Selektionseffekte bezüglich der Häufung komplex komorbider Patienten im akutpsychiatrisch-stationären Bereich.
Hinter dem Begriff der Komorbidität verbirgt sich somit die gesamte Komplexität des psychiatrischen Behandlungsauftrags. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit bedürfnisgerecht gestufter Behandlungsindikationen und Zielsetzungen mit entsprechend aktiver Kooperation der Behandlungsstrukturen.
Der Begriff der Komorbidität wurde im Suchtforschungskontext eingeführt, um dem Einfluss von zusätzlichen Erkrankungen auf die Behandlungsergebnisse in Therapiestudien gerecht zu werden.
Die häufige Gleichzeitigkeit substanzbedingter Störungen und anderer psychiatrischer Erkrankungen sollte in einem Diskurs ätiologischer, pathogenetischer und epidemiologischer Sichtweisen reflektiert werden. Im klinischen Sprachgebrauch haben sich etliche Begriffe wie „Dual-“, „Doppel-“ und „Mehrfachdiagnose“ oder Adjektive wie „komorbid“, „koinzident“ oder im Englischen „concurrent“, „co-occurent“ gebildet, die unterschiedliche Zusammenhänge zwischen den einzelnen Diagnosen suggerieren.
Analog zu Preuss und Wong1 sind folgende hypothetische Ebenen von Belang:
Die nachfolgenden Ausführungen sind vor dem Hintergrund dieser vielfach noch ungeklärten komplexen Zusammenhänge zu sehen. Die durch den Begriff der „Komorbidität“ entstehende Dichotomie von „psychiatrischen“ und „substanzbedingten“ Störungen darf auch nicht so verstanden werden, dass für diese Störungsbilder unterschiedliche Disziplinen zuständig wären; die Behandlung substanzbedingter Störungen ist selbstverständlich Aufgabe einer integrativen modernen Psychiatrie.
Die epidemiologischen Zahlen sowohl aus repräsentativen Bevölkerungsstudien als auch aus klinischen Populationen in unterschiedlichen Settings lassen keinen Zweifel an der hohen Komorbidität psychiatrischer mit substanzbedingten Störungen. Die höchsten Raten an schädlichem Gebrauch bzw. Abhängigkeitssyndromen werden in akutpsychiatrisch-stationären Settings gefunden.
In einer Studie von Baker2 wurde durch systematische Erhebung von Konsumgewohnheiten in einer solchen Population insgesamt bei 60 % der Untersuchten ein schädlicher Gebrauch bzw. eine Abhängigkeit von Alkohol in den letzten 6 Monaten festgestellt, für Cannabis lag die Zahl bei 50 %, für Amphetamine bei 20 %. Lebenszeitlichen Gebrauch von Cannabis zeigten 90 %, von Halluzinogenen und Amphetaminen 60 % und von Heroin bzw. Kokain immerhin fast 30 % dieser Hochrisikopatienten aus dem akutpsychiatrischen Alltag.
Die Komorbiditätsraten auf der Basis einer differenzierten Diagnostik nach ICD-10 oder DSM-IV belaufen sich auch in ambulanten klinischen Populationen mit Angst-, affektiven und psychotischen Störungen auf 50 % und mehr, wobei schädlicher Gebrauch wesentlich häufiger vorkommt als ein voll ausgebildetes Abhängigkeitssyndrom – mit Ausnahme des Nikotins, hier sind die extrem hohen Konsumraten vor allem bei schizophrenen Patienten ein schon lange bekanntes Phänomen, darüber hinaus sind geschätzte 60 % aller Nikotinkonsumenten abhängig.
In der jüngsten Vergangenheit sind zwei psychiatrische Störungsbilder, ADHS im Erwachsenenalter und komplexe posttraumatische Folgestörungen, in das Blickfeld gerückt, die beide mit hohen substanzbezogenen Komorbiditätsraten einhergehen. In einem klinischen Sample von Patienten mit ADHS fanden Biederman et al. 61 % der Patienten mit einer substanzbedingten Störung, 25 % mit einer Alkoholabhängigkeit und 21 % mit einer Drogenabhängigkeit, der allergrößte Anteil abhängig von Cannabis, ein kleinerer von Kokain bzw. Stimulanzien.3
Die substanzbedingten Problematiken bei Borderline- und antisozialen Persönlichkeitsstörungen sind schon kaum mehr als komorbide Phänomene, sondern als sich klassifikatorisch überlappende Syndrome zu verstehen. Im Zuge der neuesten Entwicklungen der Psychotraumatologie in Hinblick auf die Folgen kindlicher Traumatisierung im Erwachsenenalter öffnete sich ein neues Verständnis für die starken Überschneidungen von posttraumatischen Phänomenen mit Borderline- und antisozialen Persönlichkeitsstörungen einerseits und destruktiv verlaufenden substanzbezogenen Störungen andererseits. Menschen mit PTSD haben ein vielfach höheres Risiko, eine substanzbedingte Störung zu entwickeln. In der Suchtmedizin zeigen 40–80 % der Patienten eindeutige Folgen von früh traumatisch erworbenen Folgestörungen.
Die am häufigsten gebrauchten Substanzen neben Nikotin sind Alkohol und Cannabis. Interessanterweise werden in fast allen Übersichtsarbeiten zum Thema substanzbedingte Komorbidität in der Psychiatrie die Benzodiazepine ausgespart, möglicherweise, weil sie als verschriebene Medikamente nicht problematisch wahrgenommen werden (dürfen?).
Die potenziellen Schädigungen durch iatrogen initiierten oder im Rahmen polytoxikomaner Muster stattfindenden chronischen Benzodiazepingebrauch sind jedoch ein aktuelles Thema für die gesamte Medizin. Ein großer Teil schizophrener Patienten nimmt dauerhaft Benzodiazepine ein. Die Dominanz des Alkohols als gesellschaftlich weithin akzeptiertes psychotropes Genussmittel – auch in psychiatrischen Populationen – verwundert nicht. Cannabis hat in den letzten zwei Jahrzehnten allgemein in den jüngeren Alterskohorten trotz der gesetzlichen Rahmenbedingungen die Rolle einer Rekreationsdroge bekommen, seine subjektiv entspannende, distanzierende und euphorisierende Wirkung wird damit auch von vielen Menschen mit psychiatrischen Problemen genützt.
Als Beispiel für die Komplexität komorbider Krankheitsbilder sollen im Folgenden drei klassische Störungskombinationen beleuchtet werden: Depression und Alkohol, Schizophrenie und Cannabis sowie Aspekte des komorbiden Konsums von Benzodiazepinen.
Affektive Störungen und Alkohol: Affektive Symptome sind mit überhöhtem Alkoholkonsum in bidirektionaler Weise verknüpft. Depressive Verstimmungen werden von nahezu allen alkoholkranken Menschen beschrieben, ebenso zeigen depressive Patienten häufig einen schädlichen Gebrauch. Gerade überhöhter Alkoholkonsum bewirkt aber wiederum depressive Symptome, und so schließt sich der Kreis. Kompliziert wird diese vordergründig einfache Dynamik durch Befunde, dass Patienten mit einer familiär gehäuften rezidivierenden depressiven Erkrankung jedoch keine signifikant gehäuften Alkoholprobleme haben sollen, was auch die Selbstmedikationshypothese für diese Gruppe widerlegen würde. Andererseits ist aber unbestritten, dass Menschen mit affektiven Störungen (insbesondere bipolaren Störungen) und Alkoholproblemen ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko haben und durch erfolgreiche Veränderung des Alkoholkonsums und/oder die spezifische Behandlung der affektiven Störung die Prognose beider Störungsbilder verbessert werden kann.
Schizophrenie und Cannabis: Auch in dieser Symptomkonstellation gibt es bidirektionale Zusammenhänge, welche aber noch zu wenig eindeutig aufgeklärt werden konnten. Die klinische Erfahrung zeigt, dass schizophrene Patienten Cannabis vor allem gegen die affektiven und kognitiven Negativsymptome verwenden. Genaue Zahlen bezüglich der Häufigkeit und des Schweregrades dieses Phänomens existieren jedoch nur spärlich. Die strafrechtlichen Rahmenbedingungen stellen ein Forschungshindernis dar.
Unbestritten ist jedoch, dass chronischer Cannabiskonsum bei „vulnerablen“ Personen (Alter, Persönlichkeitsvariablen, Umgebungskonstellationen, prämorbide Symptome einer psychotischen Erkrankung) Psychosen auslösen und schon bereits prekäre krankheitsbegründete Alltagsfunktionen, das Therapieverhalten und die Prognose verschlechtern kann. Über die Spezifität der Cannabiswirkung hinsichtlich der Auslösung eigengesetzlicher schizophrener Verläufe ist noch zu wenig bekannt; auch sind die Befunde zu eventuellen kognitiven Dauerschäden durch Cannabiskonsum inkonsistent4.
Therapeutisch ist zu beachten, dass Cannabiskonsum in Alterskohorten unter 30 trotz der gesetzlichen Regelungen nicht mehr als illegal und die Vermeidung von strafrechtlicher Verfolgung als wenig motivierendes Ziel bewertet wird.
Benzodiazepine: Die Problematik chronischen Benzodiazepinkonsums bei psychisch Kranken unterscheidet sich von den oben angesprochenen Konstellationen entscheidend dadurch, dass Benzodiazepine verschreibungspflichtige Medikamente sind und sich Ärzte damit in der Mitverantwortung befinden. Interessant ist auch die Erfahrung, dass bei der Suche nach Übersichtsarbeiten zu diesem Thema in PubMed (benzodiazepine & abuse & comorbid* & review und Varianten) über das letzte Jahrzehnt praktisch kaum Artikel zu finden waren. Bei allen anderen Substanzen mit gleicher Fragestrategie kam eine Fülle von Literatur zutage. So war der (selbst verordnete) Konsum von Benzodiazepinen bei Opioidabhängigen sehr häufig ein Thema, auch das bekannte Phänomen der Übermedikation von Benzodiazepinen bei älteren Menschen mit allen Konsequenzen der kognitiven Beeinträchtigung, erhöhten Sturzgefahr und Verstärkung der sozialen Isolation.
Eine Studie aus Österreich5 fand bei schizophrenen Patienten einen Anteil von 40 % mit Benzodiazepinverschreibung zum Zeitpunkt der Entlassung aus stationärer Behandlung. Dies bedeutet zwar nicht eine entsprechende Abhängigkeitsrate, psychiatrische Weiterverschreibungen über den stationären Aufenthalt hinaus beinhalten aber die Möglichkeit einer zukünftigen Abhängigkeitsentwicklung. Andererseits sind zahlreiche psychiatrische Störungen mit chronischen bzw. rezidivierenden Angstsymptomen eng vergesellschaftet, Benzodiazepine bieten sich in vielen Fällen als gezielte und vergleichsweise sichere pharmakotherapeutische Lösung an.
In kritischen Stellungnahmen6 zum weitverbreiteten Gebrauch der Benzodiazepine wird darauf hingewiesen, dass innerhalb der Psychiatrie noch stark unterschiedliche Haltungen zum Abhängigkeitspotenzial der Benzodiazepine bestehen, z. B., ob die „low-dose dependence“ überhaupt alle Kriterien des Abhängigkeitssyndroms erfüllt. Die vorhandenen Leitlinien mit ihren Empfehlungen, Benzodiazepine nicht länger als 4 Wochen zu verschreiben, können aber im Behandlungsalltag häufig nicht eingehalten werden.
Jenseits der klinisch-psychiatrischen diagnostischen Klassifikationssysteme gewinnen neuropsychologische Perspektiven zu alltagsrelevanten kognitiven Störungen bei psychiatrischen und substanzbezogenen Störungen zunehmend an Bedeutung. Psychotrope Substanzen mit sedierender Komponente verstärken vorbestehende kognitive Defizite bei psychiatrisch Kranken, sie wirken vielfach aber auch stimulierend über ihre dopaminergen, cholinergen und noradrenergen Wirkungen.
Vertreter der Neuropsychologie kritisieren anhand der objektivierbaren Defizitverstärkung durch psychotrope Substanzen und ihren negativen Folgeerscheinungen die „Selbstmedikationshypothese“, wenn diese dazu führt, dass die Behandler den Substanzgebrauch zu wenig problematisieren4. In der Tat fehlen im allgemeinpsychiatrischen Bereich gemessen an der Häufigkeit dieser Phänomene systematische Interventionsstrategien zum komorbiden Substanzkonsum weitgehend.
Ein Grund dafür ist sicher, dass die Relevanz neuropsychologisch objektivierter (und oftmals im psychiatrischen Alltag subklinischer) kognitiver Defizite noch nicht ausreichend beachtet wird. Es gibt auch einige Hinweise darauf, dass sich Menschen mit Substanzproblemen ohne weitere psychiatrische Diagnose nicht wesentlich von komorbid konsumierenden psychiatrischen Patienten hinsichtlich ihrer Konsummotivationen und Verleugnungsstrategien unterscheiden7.
Bei Durchsicht der Literatur zum Thema Komorbidität fällt häufig eine sprachliche Katastrophisierungstendenz auf, was z. B. den Mangel an systematischen diagnostischen Screenings oder gezielten therapeutischen Maßnahmen betrifft.
(Selbst-)Vorwurf ist keine konstruktive Grundlage, um ein Thema, das mit Tabuisierungen belegt ist, pragmatisch und effektiv anzugehen. Die psychiatrische Versorgungslandschaft leidet aber sicher an einer gewissen Zuständigkeitsspaltung, sequenziellen Behandlungsstrategien (zuerst die Sucht und dann die andere Störung oder vice versa) und Schnittstellenproblemen zwischen Spezialisierungen.
Prinzipiell lautet die Devise im Management der Komorbidität, dass alle vorhandenen Störungen gleichzeitig und ihrer jeweiligen Akuität entsprechend behandelt werden sollten. Psychisch kranke Menschen mit zusätzlichen Substanzproblemen unterscheiden sich in ihrem Veränderungspotenzial und den dazu passenden Unterstützungsstrategien nicht wesentlich von „rein“ Suchtkranken, dazu gibt es zahlreiche Hinweise.
Eine systematische Diagnostik substanzbedingter Störungen im allgemeinpsychiatrischen Alltag besteht aus drei Teilen: dem Anamnesegespräch, der Laboruntersuchung und spezifischen Fragen, am besten über einen Screening-Fragebogen.
Laboruntersuchungen zu allen gängigen Drogen sind neben den Blutuntersuchungen einfach und günstig auch über Harnstreifentests zu bewerkstelligen. Alkoholmarker wie die Gamma-GT, das CDT (karbohydratdefizientes Transferrin) und auch zunehmend das EtG (Ethylglucuronid) sind labortechnische Routineverfahren.
Spezifische Screening-Fragebögen zu pathologischem Substanzkonsum mit guter Einsetzbarkeit im psychiatrischen Alltag sind die 4 Fragen des CAGE8, des AUDIT9, welcher auch im Rahmen der Gesundenuntersuchung eingesetzt wird und vieler anderer (LAST, MAST). Kennzeichnend für alle Instrumente ist das Abfragen mehrerer Dimensionen des Konsums (Menge, Frequenz, Hinweis auf Abhängigkeitszeichen, eventuell entstandener Schaden, Rückmeldungen aus der Umgebung und Wünsche nach Veränderung).
Psychosoziale Interventionen: Je selbstverständlicher substanzspezifische Diagnostik eingesetzt wird, umso leichter entsteht in der Folge eine partnerschaftliche Gesprächsbasis. Je nach Problembewusstsein und Veränderungsmotivation bzw. -ressourcen der Patienten kann man die weitere Arbeit über Elemente der motivierenden Gesprächsführung oder kognitiv-behaviorale Ansätze gestalten. Die Effektivität aller psychosozialer substanzspezifischer Interventionen hängt von mehreren Grundhaltungen bzw. Kommunikationsstrategien ab: nichtkonfrontativer Stil, exakte Zieldefinition, Verfolgung alltagsrelevanter bzw. wertekonformer Ziele, neutrale Wissensvermittlung, größtmögliche Mitbestimmungsfreiheit der Patienten sowie Vermittlung von Zuversicht, Mut und Geduld. Die Zukunft liegt sicher in integrativen störungsspezifischen psychotherapeutischen Interventionen, als Beispiele dafür können das manualisierte Programm „Seeking Safety“ (deutsch: „Sicherheit finden“) von Najavits10 für Patienten mit PTSD und Substanzproblemen oder ein Programm für bipolare Patienten mit Alkoholproblemen11 genannt werden.
Medikamentöse Unterstützung: Alle pharmakotherapeutischen Unterstützungsmöglichkeiten aus der Suchtmedizin stehen auch für komorbid psychisch Kranke zur Verfügung: Für Naltrexon und Disulfiram gibt es Hinweise auf Wirksamkeit12, für psychisch mehrfacherkrankte opioidabhängige polytoxikomane Patienten bietet sich die Substitutionstherapie an. Absetz- oder Entzugsphänomene werden nach den jeweiligen Leitlinien bzw. klinischen Gepflogenheiten mitbehandelt.
Resümee