Das transkulturelle Gesicht der Psychiatrie

Gedanken zur transkulturellen Psychiatrie

Historisch denken – schreibt Carl Friedrich von Weizsäcker – heißt, den anderen Menschen, die andere Nation, die andere Zeit und Kultur von ihren Voraussetzungen her verstehen, nicht von den unseren zu beurteilen. Dieses historische Denken ist – immer nach Weizsäcker – gemeinsam mit dem naturwissenschaftlichen Denken eine der beiden großen Schöpfungen der Neuzeit. Das historische Denken führte in der Psychiatrie zur transkulturellen Forschungsrichtung. Die transkulturelle Psychiatrie ist somit jene psychiatrische Subdisziplin, die die Einflüsse kultureller Gegebenheiten auf die Entstehung und Ausprägung psychiatrischer Erkrankungen berücksichtigt. Sie versucht durch inter- wie intrakulturelle (oder inter- und intraethnische) Vergleiche dem Verständnis der Störungen des Erlebens und des Verhaltens näherzukommen. Die transkulturelle Psychiatrie eröffnet somit dem Gesichtskreis des Betrachters die unterschiedlichen kulturellen Räume; es liegt ihr eine die Einzelkultur übergreifende Sicht- und Denkweise zugrunde.
Die moderne Psychiatrie ist weitgehend dem okzidentalen Denken, den westlichen Traditionen und Lebensgewohnheiten verpflichtet. Die gigantischen Migrationsströme unserer Zeit sowie die internationalen Verflechtungen zwingen zu einer vertieften Kenntnis außereuropäischer Kulturen, letztlich auch, um psycho-pathologische Besonderheiten und Verhaltensauffälligkeiten bei Angehörigen anderer Kulturen besser verstehen zu können und dadurch dem Auftrag einer differenzierten Therapie gerecht zu werden.

Definition der transkulturellen Psychiatrie

Die transkulturelle Psychiatrie befasst sich in der klassischen Definition von Wittkower mit den kulturellen Aspekten der Ätiologie, Häufigkeit und Art psychischer Erkrankungen sowie mit der Behandlung und Nachbehandlung der Kranken innerhalb gegebener kultureller Einheiten. Die transkulturelle Psychiatrie beschäftigt sich somit mit folgenden Frage stellungen1-4:

  • Gibt es die Krankheiten, die die wissenschaftliche Psychiatrie herausgearbeitet hat, überall in der Welt?
  • Kommen psychische Störungen in verschiedenen Kulturen mit gleicher Häufigkeit vor?
  • Welche psychischen Erscheinungen werden in den verschiedenen Kulturen als pathologisch, welche als normal eingestuft?
  • Werden psychische Störungen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich behandelt?
  • Haben psychische Störungen unterschiedliche Verläufe in verschiedenen Kulturen

Die transkulturelle Psychiatrie widmet sich heute dezidiert den besonderen Erfordernissen der psychiatrischen Betreuung von Migranten, die schon längst einen wesentlichen Bestandteil unserer Gesellschaft bilden. Die Aktualität dieser psychiatrischen Subdisziplin gründet folgedessen auf der heute alltäglich notwendigen Betreuung von Migranten und Flüchtlingen. Im Bezugsrahmen der transkulturellen Psychiatrie steht somit die Förderung der seelischen Gesundheit von Migranten aus den unterschiedlichen europäischen und außereuropäischen Kulturen im Vordergrund. Es treten deshalb weitere Fragestellungen hinzu, die der transkulturellen Psychiatrie eine zunehmende Bedeutung in der täglichen Versorgungspraxis beimessen:

  • Welche psychischen Erkrankungen entwickeln Migranten in Gastkulturen und mit welcher Häufigkeit?
  • Welche Behandlungsformen des Gastlandes erweisen sich bei Migranten mit psychischen Störungen unterschiedlicher Herkunftsländer als wirksam?

In einer Zeit, in der in vielen europäischen – auch österreichischen – Städten ein Viertel der Bevölkerung Migranten sind, gehört das Wissen um kulturspezifische Ausdrucksformen und Kausalattributionen psychiatrischer Erkrankungen zum notwendigen diagnostischen und therapeutischen Rüstzeug aller, die sich der Betreuung psychisch kranker Menschen widmen. Dieses Wissen ist Voraussetzung, um eine Verbesserung der Kommunikation zwischen Therapeuten und Patienten nichtdeutscher Muttersprache oder außereuropäischer Kulturkreise zu erreichen.

Der historische Hintergrund der transkulturellen Psychiatrie

Die transkulturelle Psychologie und Psychiatrie hat eine lange Geschichte: Wilhelm Wundt setzt sich in seinem 1897 in Leipzig erschienenem “Grundriss der Psychologie” mit der “Völker – psychologie” auseinander und stellt diese der “experimentellen Psychologie” gegenüber. Die “experimentelle Psychologie” rechnet Wundt zu den Naturwissenschaften, die “Völkerpsychologie” zu den “specielleren Geisteswissenschaften”. Der “Völkerpsychologie” widmete er ein monumentales Werk, das in 10 Bänden (in 3. Auflage) zwischen 1911 und 1920 erschienen ist. Erste Versuche einer vergleichenden Psychologie und Kulturanthropologie datieren aber bereits in die vorwissenschaftliche Zeit. Eine sehr frühe tabellarisch angeordnete, auch den “deutschen Volkscharakter” recht kritisch darstellende “kurze Beschreibung der in Europa befintlichen Völckern und ihrer Aigenschaften” stammt aus der Steiermark des früheren 18. Jahrhunderts und findet sich im österreichischen Museum für Volkskunde: 10 europäischen Völkern werden jeweils 16 unterschiedliche Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften zugeordnet (Abb.). Als Begründer der transkulturellen Psychiatrie gilt Emil Kraepelin: Im Juli 1904 lieferte er den ersten Beitrag zu einer vergleichenden Psychopathologie, als er die Irrenanstalt Buitenzoog von Dr. Hoffmann auf Java besichtigte. Kraepelin schrieb bereits damals, dass vergleichende Beobachtungen Aufschluss geben könnten über die Ursache des Irreseins sowie über den Einfluss der Traditionen und der Persönlichkeit auf die besondere Gestaltung der Krankheitserscheinungen. Kraepelin vertrat darüber hinaus die Meinung, dass über die Eigenart eines Volkes uns nicht nur Kultur und Religion, sondern auch dessen Psychopathologie tiefere Auskunft geben könnte. Er wies aber auch auf die Tatsache hin, dass die “vergleichende Psychiatrie” nur dann einen Fortschritt zu erbringen in der Lage sei, wenn sie zwischen identifizierbaren Erkrankungen exakt unterscheiden könne. Es war die transkulturelle Psychiatrie, die gemeinsam mit der epidemiologischen Forschungsrichtung die wesentlichen Impulse zur Entwicklung einheitlicher Diagnoseschemata und Klassifikationssysteme gegeben hat.

Die transkulturelle Psychiatrie als die Psychiatrie der Migranten

Obwohl die wirtschaftliche Globalisierung und die weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten zu einer in vielen Bereichen einheitlichen Zivilisation tendieren, finden sich in der transkulturellen Psychopathologie immer noch kulturspezifische psychische Eigenarten. Die gewaltigen Migrationsbewegungen der letzten 30 Jahre stellen für die transkulturelle Psychopathologie und Psychiatrie gerade in der Diagnostik und Therapie psychiatrischer Störungen bei Menschen mit andersgeartetem soziokulturellem Hintergrund eine gewaltige Herausforderung dar. Ohne spezifisches Wissen der Wertsysteme, der Lebenskonzepte und der Wertigkeit von Tradition und Religion sowie ohne Einblick in den psychodynamischen Hintergrund sind das Erkennen psychiatrischer Erkrankungen sowie die darauffolgenden therapeutischen Interventionen schwer durchführbar. Auch ist es bei Menschen, die in ihrer diktatorisch regierten Heimat politisch verfolgt wurden und heute in einem westlichen Staat als Asylanten leben, oft schwer möglich,  real erlebte Verfolgung von einer schweren paranoiden Symptomatik zu differenzieren. Viele psychopathologische Begriffe, die – in unserer Kultur tief verankert – uns selbstverständlich erscheinen (Bewusstseinsstörungen, Trugwahrnehmungen, Manie oder Depression), sind Menschen anderer kultureller Prägung (besonders im südostasiatischen und zentralafrikanischen Raum) gänzlich unbekannt. Demgegenüber sind in verschiedenen Völkern psychiatrische Krankheiten bekannt, von denen in den westlichen Industrienationen jegliches Wissen fehlt. Payk5 listet 29 “kulturspezifische Störungen” auf, die im ICD-10 nur summarisch dargestellt werden. Der Großteil dieser meist dissoziativen Störungen ist von begrenztem psychopathologischem Interesse, sie stellen heute nur noch Arabesken der transkulturellen Psychiatrie dar.

Identitätserschütterungen: Gemeinsam mit den soziokulturellen Besonderheiten bestimmt das vielfach vorherrschende patriarchalische Gesellschaftsmodell ihrer Herkunftsländer das Verhalten vieler Immigrantinnen und Immigranten der ersten Generation. Von großer Bedeutung ist die sich ergebende, in der Regel schwerwiegende Identitätsproblematik: Viele Migranten mit langer Aufenthaltsdauer im Gastland beschreiben ihre Identitätsverunsicherung als einen “Zustand des Zerrissenseins”: Zerrissen zwischen Assimilation und Akkulturation einerseits und Bewahrung der kulturellen Herkunftsidentität andererseits, zerrissen im Sprachgebrauch, zerrissen bezüglich der Zukunftsperspektiven und möglichen Optionen zwischen Rückkehr in die Ursprungsheimat oder zunehmende Übernahme der Identität des Gastlandes. Der Integrationsprozess ist somit von vielfältigen Identitätserschütterungen begleitet. In der zweiten Generation verschieben sich Wertvorstellungen auf den verschiedenen Ebenen. Die Mentalität der Kinder wird in zunehmendem Ausmaß von der Kultur des Gastlandes geprägt, die traditionellen familiären Werte und Strukturen werden in Frage gestellt: Dies stürzt sowohl die Eltern als auch die Jugendlichen in eine schwer zu bewältigende Krise. Die Familie zerfällt, Jugendliche erleben in einer fragmentierten Familie eine verfrühte Unabhängigkeit und werden nicht selten in die Delinquenz abgedrängt. Entsprechend unterschiedlich ist auch die Ausformung psychiatrischer Störungen: Während Migranten der ersten Generation noch den typischen Verhaltensmustern und Symptomausprägungen ihrer Ursprungsländer verpflichtet sind, manifestieren sich in der zweiten und dritten Generation die Erkrankungen in der veränderten Umgebung andersartig, sie nehmen nicht in allem die charakteristischen Ausprägungsformen der betreffenden Kultur an: Es mischen sich im psychopathologischen Erscheinungsbild traditionelle Muster mit der für das Gastland typischen Symptomatologie: Sie leiden häufig unter bikulturellen Konflikten.5

Einige Überlegungen zu speziellen transkulturellen psychiatrischen Problemen …

… am Beispiel von schizophrenen Störungen

Gordon (1934) und Garothers (1948) haben schon sehr früh dargelegt, dass die europäische Kultur mit ihrer rationalen Ausrichtung, die einen Erklärungszwang mit sich bringt, die Häufigkeit von paranoiden Psychoseformen vermehrt hat: Die europäisch-amerikanische Kultur und Zivilisation brachte und bringt immer noch im Vergleich zu den asiatischen Gesellschaftssystemen wesentlich mehr paranoide und weniger bland-anerge Formen an Schizophrenie hervor. Westliche Kulturen scheinen ihre Angehörigen eher zu dem Bestreben zu erziehen, ihr Erleben auch zu erklären und zu deuten6. Insgesamt konnte aber Pfeiffer, der Nestor der Transkulturellen Psychiatrie, aufgrund seiner eingehenden transkulturellen Studien mitteilen, dass sich schwer psychisch Kranke, besonders Schizophrene, in den unterschiedlichen Nationen und Kulturkreisen ähnlicher sind als gesunde Individuen der betreffenden Gebiete. Bei Migranten erbrachten Erhebungen in unterschiedlichen europäischen Ländern eine erhöhte Schizophrenierate. An den psychiatrischen Kliniken in Hamburg wurde bei türkischen Patienten doppelt so häufig die Diagnose einer schizophrenen Erkrankung gestellt. Zum selben Ergebnis kam auch die deutschlandweite Studie von Schouler-Ocak7.

Fehldiagnosen: Erklären Belastungen durch die Migration, Fehldiagnosen oder eine unterschiedliche Inanspruchnahme stationärer Dienste diese Diskrepanz? Cochrane und Bal8 vermuteten drei Gründe für die Erstellung von Fehldiagnosen:

  • Fälschlicherweise werden kultur – typische Halluzinationen und Wahnphänomene als schizophreniespezifisch angesehen: Verschiedene Studien konnten zeigen, dass in unterschiedlichen Kulturen ein Verfolgungswahn in Verbindung mit Trugwahrnehmungen auch bei nichtschizophrenen Störungen auftreten kann.
  • Kulturtypische Gedankengänge werden als pathologisch erklärt. Besondere Schwierigkeiten bereiten häufig Unterscheidungen zwischen Wahnphänomenen und unbekannten Glaubensinhalten sowie zwischen Tranceerlebnissen und Halluzinationen.
  • Traumatisierende Erlebnisse und schwere Belastungen führen in definierten Kulturen zu psychotischen Symptomen.

Türkische Emigranten mit psychotischen Störungen werden in der Tat auch signifikant häufiger falsch diagnostiziert. Haasen et al.9 gingen der Frage nach, ob die Sprache des untersuchenden Arztes bei türkischen Patienten die Erstellung der Diagnose beeinflusst und ließen die Anamnese sowohl von einem deutschsprachigen wie auch von einem türkischsprachigen Psychiater erheben. Die diagnostische Konkordanz zwischen den beiden Interviewern war bei den deutschen Patienten signifikant höher als bei jenen türkischer Herkunft. Dafür ist jedoch weniger die Sprach -barriere verantwortlich zu machen, die Fehldiagnosen resultierten vorwiegend aufgrund von unterschiedlichen Krankheitsvorstellungen. Die größten Schwierigkeiten traten im Bereich der inhaltlichen Denkstörungen auf. Der kulturelle Kontext der Patienten ist somit bedeutsamer als die formal-sprachlichen Aspekte der Kommunikation zwischen Arzt und Patienten.

Kausalattribution: In Indien erforschten Shrinivasan et al.10 bei 254 Angehörigen die Kausalattribution schizophrener Erkrankungen: 55% gaben psychosozialen Stress an, 22% Persönlichkeitsmängel und 15% genetische Bedingungen. 12% der Befragten machten aber übernatürliche Einflüsse geltend. Karanci11 führte eine vergleichbare Studie in der Türkei durch und kam zu identen Ergebnissen. 2006 publizierten Haasen und Mitarbeiter ihre an vier Hamburger Kliniken durchgeführte Studie12 zur subjektiv angenommenen Krankheitsverursachung bei psychotischen Patienten sowohl deutscher als auch türkischer Herkunft. 40% der Türken und 51% der Deutschen vermuteten “psychosozialen Stress” als Ursache ihrer Erkrankung, einen Drogenkonsum beschuldigten 8 bzw. 10%, fremde Mächte 22 bzw. 26%. 8% der türkischstämmigen Patienten gaben eine kulturspezifische Kausalattribution an und nannten magisch-mythische Kräfte als Ursache ihrer Erkrankung, meistens wurde der “böse Blick” angegeben. Diese Studien konnten aufzeigen, dass Patienten unterschiedlichster kultureller Prägung weitgehend dieselben Vorstellungen zur Verursachung ihrer Erkrankung angaben: Kulturspezifische Kausalattributionen scheinen nicht jene Bedeutung zu besitzen, die allgemein erwartet und von verschiedenen Untersuchungen auch nahegelegt wird.

… am Beispiel von affektiven Störungen

Depressive Störungen weisen einen hohen Grad von Kulturabhängigkeit auf: In vielen Herkunftsländern der bei uns lebenden Migranten erlebt der Depressive sein Leiden körperlich, er fühlt sich organisch krank, weshalb er die Kompetenz des Psychiaters negiert. Dies gilt auch heute noch für einen Teil der türkischen Migranten, obwohl sich mit verstärktem westlichem Kultureinfluss das psychiatrische Depressionskonzept durchgesetzt hat und die Diagnose sogar ein gewisses intellektuelles Prestige erlangt hat13. Schouler-Ocak et al.7 fanden in ihrer schon erwähnten, groß angelegten gesamtdeutschen Untersuchung bei Migranten der ersten Generation häufiger affektive Störungen, bei jenen der zweiten Generation überwogen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Bei Patienten ohne einen Migrationshintergrund fand die Berliner Gruppe in ihrer bundesweiten Untersuchung keine vergleichbaren Effekte.

Erleben der Depression: An unserer Innsbrucker Klinik widmete sich kürzlich Dr. Müberra Coban-Basaran14 in einer prospektiven Studie drei Patientenkollektiven, um mögliche Unterschiede in der affektiven Kernsymptomatik und in der somatischen Ausprägung der depressiven Störung zu eruieren. Insgesamt wurden 136 österreichische, Türkei-stämmige in Österreich lebende und türkische in der Türkei lebende depressive Patientinnen mittels Selbst- und Fremdbeurteilungsfragebögen in der jeweiligen Muttersprache befragt. Die beiden Gruppen von türkischen Patientinnen waren sowohl in der Selbstbeurteilung als auch in der Fremdbeurteilung depressiver als das österreichische Patientinnenkollektiv. Türkische Patientinnen, ob in Österreich oder in der Türkei wohnend, erlebten ihre Depression signifikant stärker über körperliche Beschwerden: Im Vordergrund standen vor allem Schmerzen, Schwindel und Schwäche. In einzelnen Parametern der jeweiligen Fragebögen erzielten Türkinnen in Österreich sowohl gegenüber Österreicherinnen als auch gegenüber Türkinnen in der Türkei höhere Werte. Das Erleben der Krankheit war durch die Aufnahme in eine andere Kultur deutlich verändert: Die Migration scheint das Erleben der Depression zu verstärken. Weiters ist erwähnenswert, dass die österreichischen Patientinnen signifikant häufiger an einer bipolaren affektiven Störung litten. Patientinnen der türkischen Gruppe wiesen mehr unipolare affektive Störungen auf.

“Lächelnde Depression”: Pfeiffer beschrieb 198415 erstmals das schwer durchschaubare Bild der “lächelnden Depression”, das uns bei chinesischen Restaurantbetreibern begegnet und auch häufig irritiert: In Südostasien gilt es als ungehörig, seine Umwelt durch trübe Miene zu belasten. Selbst bei schwerer depressiver Symptomausprägung ist Lächeln geboten! Psychische Störungen werden häufig noch als moralisches Defizit interpretiert oder als fehlendes Engagement für das Gemeinwohl empfunden. Darüber hinaus machen es große Schuldgefühle, verbunden mit einer hohen Schamschwelle, den Patienten selten möglich, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch bei in Europa lebenden chinesischen Patienten ist darüber hinaus der Begriff “Neurasthenie” gebräuchlicher, da unter dem Einfluss der Doktrin der Volksrepublik China chinesische Ärzte und Patienten den Begriff “Depression” ablehnen: Nur körperliches Leiden verleiht einen respektablen Krankenstatus, psychische Erkrankung bedeutet einen Makel. Die kommunistische Ideologie verlangt von ihren Bekennern freudigen Elan, Zukunftsoptimismus und Zuversicht. Neurasthenie wird aber als körperlich begründete nervöse Erschöpfung interpretiert und ist somit auch positiv konnotiert.

Kulturelle Interaktion: Von psychiatrischem und soziologischem Interesse sind auch die kulturellen Interaktionen in mehrsprachigen bzw. plurikulturellen Gebieten. Um diese Wechselbeziehungen zu analysieren, untersuchten Deisenhammer et al.16 an der Universitätsklinik für Psychiatrie, Innsbruck, die Suizide in Südtirol vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit zur deutschen, ladinischen und italienischen Sprachgruppe. Das überraschende Ergebnis unserer Studie lag darin, dass die Suizidrate der deutschsprachigen Südtiroler niedriger ist als jene der Nordtiroler bzw. ÖsterreicherUmgekehrt wiederum ist die Suizidrate der italienischsprachigen Bewohner Südtirols höher als jene der übrigen italienischen Provinzen. Diese Ergebnisse betonen die Bedeutung der kulturellen Interaktionen in mehrsprachigen Gebieten mit unterschiedlichen Traditionen. In diesen Regionen scheinen sich die Angehörigen der verschiedenen Sprachgruppen und Kultur in existenziellen Krisensituationen im Verhalten anzunähern.

Transkulturelle Psychiatrie und Diversity

Die Psychiatrie der Migranten sowie deren psychiatrische Betreuung sollte heute unter dem Begriff “Diversity” subsumiert werden: “Diversity” steht in der modernen soziologischen Forschung für Vielfalt und Verschiedenheit, für Differenz und Mannigfaltigkeit. In der Soziologie und in den Kulturwissenschaften ist er zu einem zentralen Thema geworden: Er steht als moderner Gegenbegriff zu Diskriminierung und Stigmatisierung, er fördert das Verständnis für die Vielfältigkeit menschlicher Ausdrucks- und Erlebnisweisen, die durch Religion und Kultur, Philosophie und Gesellschaftssysteme bedingt sind und bündelt argumentativ antidiskriminierende Maßnahmen. Als Reaktion auf gesellschaftliche Herausforderungen wie Globalisierung, Migration und demografischen Wandel wird Diversity zu einem Bezugspunkt, der in der zukünftigen Sozialpolitikforschung und auch in der Sozialpsychiatrie eine zentrale Rolle spielen wird.17 Der Bezug auf Diversity birgt den Vorteil, den Blick für grundlegende Prozesse soziokulturellen Wandels zu öffnen, welche die Fähigkeit mit sozialer und kultureller Vielfalt umzugehen, zu einer zentralen Anforderung an Institutionen und Individuen, an Staat und Gesellschaft werden lassen.17 Damit steigt der Bedarf an “Diversity- Kompetenz” nicht nur in Politik, Wirtschaft und Kultur, sondern auch in den Gesundheitswissenschaften.18 Zur “Diversity-Kompetenz” gehört vor allem auch transkulturelles Denken in der Psychiatrie und Psychotherapie.

Gedanken zum Schluss

Das Referat für transkulturelle Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) unter der Leitung von Wielant Machleidt publizierte 2002 die “12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch- psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen in Deutschland”19: Deren Qualitätsstandards sollten auch in Österreich Gültigkeit haben. Die Umsetzung und Weiterentwicklung dieser Postulate erleichtern den Psychiatern ihre an sich schon schwere Arbeit und verbessern die Partizipationschancen der Betroffenen. Migranten weisen aber noch spezifische psychische Probleme auf, die mit der Migration mittelbar oder unmittelbar zusammenhängen, wie z. B. seelische Folgen traumatischer Erlebnisse, die problematisch erlebten Wertedifferenzen und die Konfrontation mit einer ungewohnten politischen und sozialen Umgebung, die Fragen der Integration, Akkulturation und Assimilation, der unsichere Aufenthaltsstatus, die prekären wirtschaftlichen Verhältnisse und vieles anderes mehr. Ethnisch-kulturelle Besonderheiten bewirken, dass bei Migranten immer noch die Häufigkeit psychiatrischer Erkrankungen und somit auch deren Therapiebedarf in den Industrieländern unterschätzt wird20. Selbst in Deutschland nehmen Patienten mit Migrationshintergrund annähernd 50% weniger psychiatrische Leistungen in Anspruch. Im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung werden ihre Probleme später erkannt und nicht umfassend und infolgedessen auch weniger erfolgreich behandelt. Häufig erfolgt frühzeitig eine Berentung. All dies macht Migrantinnen und Migranten zu besonderen Patienten, die spezifische psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische Angebote benötigen. Die transkulturelle Psychiatrie ist definitionsgemäß eine maximal integrative Subdisziplin unseres Faches, sie fordert aber auch von jedem einzelnen Psychiater und seinen Mitarbeitern die Kunst, sich in andere Kulturen einzufühlen und die Kunst, die unterschiedlichen Traditionen zu erfassen und ihnen mit Respekt zu begegnen, aber auch die Kunst und die Fähigkeit, sich Traditionen dann zu widersetzen, wenn sie elementare Menschenrechte verletzen.

resümeeDie Aktualität der transkulturellen Psychiatrie liegt in der heute alltäglich notwendigen Betreuung von Migranten und Flüchtlingen: Im Bezugsrahmen dieser psychiatrischen Subdisziplin steht somit die Förderung der seelischen Gesundheit von Menschen aus unterschiedlichen Kulturräumen im Vordergrund. Ethnischkulturelle Besonderheiten bewirken, dass bei Migranten die Häufigkeit psychiatrischer Erkrankungen und somit auch deren Therapiebedarf unterschätzt wird: Patienten mit Migrationshintergrund nehmen nur die Hälfte der psychiatrischen Leistungen in Anspruch, ihre psychischen Probleme werden im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung später erkannt und nicht umfassend – und infolgedessen auch weniger erfolgreich – behandelt.

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2) Lewis IM, Social anthropology in perspective. Cambridge, Cambridge University Press 1985
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5) Payk Th R, Psychopathologie. 3. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2010
6) Scharfetter C, Allgemeine Psychopathologie, Stuttgart, Thieme 1985
7) Schouler-Ocak M et al., Patienten mit Migrationshintergrund in stationär-psychiatrischen Einrichtungen. Nervenarzt 2010; 81; S-86-94
8) Cochrane R, Bal S, Mental hospital admission rates of immigrants to England: a comparison of 1971 and 1981. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 1989; 2-11
9) Haasen C, Yagdiran O, Mass R, Differenzen zwischen der psychopathologischen Evaluation in deutscher und türkischer Sprache bei türkische Migranten. Nervenarzt 2000; 71:901-905
10) Shrinivasan TN, Thara R, Beliefs about causation of schizophrenia: do Indian families believe in supernatural causes? Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2001; 36:134-140
11) Karanci AN, Caregivers of Turkish schizophrenic patients: causal attributions, burdens and attitudes to help from the health professionals. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 1995; 30:261-268
12) Haasen C, Blätter A, Yagdiran O, Reimer J, Subjektive Krankheitsursachen bei Patienten mit einer psychotischen Erkrankung. Ein Vergleich zwischen türkischen und deutschen Patienten. Psychiat Prax 2006; 33:30-33
13) Pfeiffer W, Krankheitskonzepte in der multikulturellen Gesellschaft, in: Kiesel D & Lüpke H.(Hrsg.): Vom Wahn und vom Sinn. Frankfurt a. M. 1998
14) Coban-Basaran M, Vergleichsstudie der Symptomatik türkisch-stämmiger versus österreichisch-stämmiger depressiver Patientinnen in Tirol. 2010 in press
15) Pfeiffer W, Transkulturelle Aspekte der Depression, Nervenheilkunde 1984; 3:14-17
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17) Mor-Barak Michalle E, Managing diversity towards a globally inclusive workplace. Thousand Oaks, CA, Sage Publications 2005
18) Riedmüller B, Vinz D, Diversity als Herausforderung für die Sozialpolitik. 2007
19) Machleidt W, Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen in Deutschland. Nervenarzt 2002; 73:1208-1212
20) Hinterhuber H, Transkulturelle und epidemiologische Aspekte schizophrener Erkrankungen. In: König P., Platz Th., Schubert H. (Hrsg.) Schizophrene Störungen. Springer-Verlag Wien New York, 1990