Bei der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Kultur und somatoformen Störungen sollte zunächst damit begonnen werden, was der Begriff “Kultur” in der heutigen Welt bedeutet. Kultur befindet – und befand sich schon immer – in Veränderung und Bewegung mit den Menschen, die sie praktizieren. Kultur kann heute nicht mehr als ein einheitlicher Komplex von Sitten und Gebräuchen, der an ein bestimmtes Territorium, eine Region oder eine Nation gebunden ist, verstanden werden, wie es in den klassischen Theorien der Ethnologie, Völker- oder Volkskunde üblich war.
“Medicoscape”: In neueren Theorieansätzen wird Kultur zwar weiterhin als sozial verbindendes Bedeutungssystem verstanden, allerdings muss Kultur in sich heterogener gedacht werden, als es bisher der Fall war. Der Begriff “Medicoscape” scheint hier sehr brauchbar zu sein, um diesen flexiblen Kulturbegriff im medizinischen Bereich zu beschreiben. Unter Medicoscapes versteht man weltweit verstreute “Landschaften” von Personen und Organisationen im heilkundlichen Bereich, welche sich lokal verdichtet an einem Ort darstellen können, aber zugleich räumlich weit entfernte Orte, Personen und Organisationen miteinander verbinden. Zu einem Medicoscape zählen unter anderem international Therapie suchende, Therapie offerierende Personen, weltweit agierende Pharmakonzerne, die WHO, traditionelle Heiler, regionale Heilpraktiken, global verbreitete Therapieformen, eben alle, die zu einem Medizinbereich bei – tragen und teilnehmen (Hörbst und Krause, 2004).
PatientInnen neigen dazu, Symptome zu präsentieren, die “medizinisch richtig” sind, d. h. Symptome, die Ärzte erwarten und verstehen. Somatische Symptome sind leichter zu erkennen, benennen und weniger stigmatisierend als psychische Symptome. In den meisten Kulturen wird psychosozialer Stress in körperliche Symptome “transformiert” (Kleinman, 1987). Dieser Prozess kann als Somatisierung beschrieben werden.
In der “WHO Cross-National Study” wurde die Häufigkeit klinisch relevanter Somatisierung in 14 Ländern im Primärversorgungsbereich untersucht. Dabei wurden 5.438 Personen mittels des Somatic Symtom Index (4/6) befragt, ob sie unter mindestens 4 – für Männer – bzw. mindestens 6 – für Frauen – körperlichen Symptomen leiden, für die es keine ausreichende medizinische Erklärung gibt. Im Mittel erreichten oder überschritten 19,7% der Untersuchten diese Screeninggrenze. Die Bandbreite in den verschiedenen Ländern bewegte sich zwischen 7,6% und 36,8% der Befragten (Gureje et al., 1997).
Ob kulturgebundene Syndrome tatsächlich existieren, ist innerhalb der evidenzbasierten Medizin umstritten. Dabei können zwei gegensätzliche Standpunkte bezogen werden: Vor allem zwischen Anthropologen und Psychiatern wird die Frage häufig kontrovers diskutiert: Die Anthropologie neige dabei dazu, die kulturspezifischen Aspekte besonders zu betonen. Die Psychiatrie verfolge eher universelle neuropsychologische Erklärungsansätze.
Beide Ansätze können jedoch mit Hilfe der transkulturellen Psychiatrie gewinnbringend verbunden werden. Der Ansatz, universelle Modelle für Krankheiten zu entwickeln, ermöglicht zum Beispiel den Einsatz von modernen Therapiestrategien wie Psychopharmaka, aber natürlich auch evidenzbasierter Verfahren wie Psycho- oder Physiotherapie.
Andererseits sollten in einem ressourcenfördernden psychotherapeutischen Setting die jeweiligen kulturellen Ressourcen für eine Symptom- und Krankheitsbewältigung nicht unterschätzt werden. So ist es weniger wichtig, ob diese Syndrome “exisitieren” oder nicht, sondern ob mittels transkultureller Kompetenz und “globalisierter” Diagnostik beide Ansätze für eine gelungene Therapie, für eine gelungene Bewältigung verbunden werden können.
Kulturgebundene Syndrome (“culture bound syndromes”) werden so definiert, dass sie kulturintern als echte Krankheit eingestuft werden, innerhalb der jeweiligen Kultur einen großen Bekanntheitsgrad haben, in anderen Kulturen die Kenntnis über diese Krankheit fehlt, es keine nachweisbaren biochemischen oder organischen Ursachen gibt und die Diagnose und Therapie meist innerhalb der lokalen Volksmedizin erfolgen. Einige kulturgebundene Syndrome können körperliche Symptome (z. B. Schmerzen, funktionelle Körperstörungen) aufweisen, während andere sich ausschließlich in Verhaltensstörungen äußern.
Wird diese Definition mit der Definition der somatoformen Störungen verknüpft, ergeben sich die kulturgebundenen “somatoformen” Störungen. Zentrale Punkte dieser “Störungsgruppe” sind demnach:
Der Punkt “in anderen Kulturen ist das Krankheitsbild unbekannt” bzw. “auf eine bestimmte Gesellschaft oder Kultur beschränkt” kann in einer globalisierten Informationsgesellschaft kaum aufrecht erhalten werden. Ein Medicoscape einer bestimmten Störung lässt sich eben nicht auf eine bestimmte Menschengruppe beschränken, sondern unterschiedliche Menschen nehmen unterschiedlich intensiv daran teil oder grenzen sich unterschiedlich stark davon ab.
In den aktuellen Diagnosesystemen der Psychiatrie werden “Culture Bound Syndromes” (CBS) aufgelistet, im Folgenden sollen einige dieser Störungen dargestellt werden und die Verbindung zu den somatoformen Störungen dargestellt werden:
Dhat (Indien – jiryan; in Sri Lanka – sukra prameha; in China – shen-k’uei) kann als eine kulturgebundene somatoforme Störung angesehen werden, mit hypochondrischen Ängsten und Sorgen, die sich auf den Verlust von Sperma beziehen, einer weißlichen Verfärbung des Urins und dem Gefühl von Schwäche und Erschöpfung. Stehen die hypochondrischen Ängste im Vordergrund, könnte das Syndrom als Hypochondrie klassifiziert werden. Sind die körperlichen Beschwerden im Vordergrund, dann könnte zum Beispiel nach ICD-10 eine autonome somatoforme Funktionsstörung diagnostiziert werden, wenn sich die Beschwerden nur auf das Genitalsys – tem beziehen oder eine Neurasthenie, wenn die Schwächegefühle das klinische Bild dominieren. Da natürlich das Grundkonzept der Störung die Wertigkeit der Symptome entscheidend mitbestimmt, haben kulturgebundene Erklärungen eine wichtige Bedeutung.
Koro (malaiisch, etymologisch strittig, vielleicht “schrumpfend” oder “Schildkröte[ nkopf]”) beschreibt eine in Indonesien und Malaysia vorkommende Störung. In China wird diese Suo yang (Mandarin) oder Shuk yang, S(h)ook yong (Kantonesisch – “schrumpfender Penis”) genannt. Im Westen wird übergreifend vom Syndrom der genitalen Retraktion oder “Genital Retraction Syndrome” (GRS) gesprochen. Die Störung besteht in der hypochondrischen Angst, dass der eigene Penis schrumpfe oder sich in den eigenen Körper zurückziehe und man davon sterbe. Bei der Frau bezieht sich die Angst ebenfalls auf die eigenen Geschlechtsorgane. Nach Garlipp (2008) sind die Fallberichte jedoch nicht auf den asiatischen Raum beschränkt, sondern können über die Welt verstreut gefunden werden (Abb.), also quasi ein Medicoscape “Koro”.
Brain-Fag, Chronic Fatigue Syndrome: Brain-Fag wurde als CBS bei Westafrikanischen Studenten in den 1960er-Jahren “gefunden”. Doch der Begriff “Brain-Fag” taucht schon 1852 in USA auf, um ein Überlastungssyndrom zu charakterisieren (“überlastetes Gehirn”) und 1877 als “psychische Erschöpfung” ähnlich wie die Neurasthenie oder das “Chronic Fatigue Syndrom” (CFS). CFS ist durch schwere chronische Müdigkeit für mindestens sechs Monate oder länger charakterisiert und für die Diagnose müssen 4 oder mehr der folgenden Symptome auftreten:
Kulturelle Modelle und Symptom-Erleben: Kulturelle Einflüsse auf Symptom – Erleben und Symptom-Kommunikation finden auf mehreren Ebenen statt: Psychophysiologie, Aufmerksamkeit, Symptom-Attribuierung und -Interpretation, Art der Bewältigung, Hilfesuche und Behandlung. Viele Patienten mit somatischen kulturellen Idiomen der Not beschreiben die sozialen Probleme, die ihre Symptome verstärken, wenn sie ein offenes Ohr finden. In der biomedizinischen Gesundheitsfürsorge spielen sie die sozialen Dimensionen herunter, weil sie Stigmatisierung fürchten.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass diagnostische Systeme selbst auch kulturelle Artefakte sind: Neben der Anleitung zur Therapie dienen diagnostische Etikettierungen auch der Zuschreibung von berechtigtem Leiden, deuten auf die Ernsthaftigkeit und Bedeutung für andere hin und haben soziale Folgen, wie Berechtigung für Krankenstand, Berentung etc.
Bei Fehlen einer klaren Diagnose und der dadurch fehlenden effektiven Behandlung der Patienten kommt es zur Unsicherheit und Bemühung, eine definitive Diagnose und eine Legitimation für das Leiden zu finden, eine Bewältigung des Leidens zu erreichen. Was teilweise dann als Psychopathologie gesehen werden kann, kann auf diese soziale Notlage zurückgeführt werden.
Somatoforme Störungen können so als ein “kulturelles Konstrukt” gesehen werden, bei dem die Kommunikation und die Bewältigung von Krankheiten/Stress in einer globalisierten Welt im Zentrum steht. Dabei spielen kulturelle Modelle von somatischen Symptomen eine wichtige Rolle: Erklärungsmodelle, die Kausalattributionen zulassen und auf spezifische Mechanismen oder pathophysiologische Prozesse hindeuten. Prototypen, markante Bilder oder Vorbilder aus der eigenen Erfahrung, Familie, Freunde, aus den Massenmedien und der populären Kultur, die ein Reflektieren über den eigenen Zustand ermöglichen. Implizite Modelle und prozedurales Wissen, das schwierig arti – kuliert werden kann, weil es in körperliche Abläufe Stress zu erfahren eingebettet ist, führen zu spezifischen Verhaltens- und Kommunikationsweisen.
Somatische Symptome haben unterschiedliche psychologische und soziale Bedeutungen. Somatische Symptome können gesehen werden als: Index für eine körperliche Erkrankung, als Ausdruck einer Psychopathologie (somatoform), als Symbol für einen intrapsychischen Konflikt, als ein kulturell-kodierter Ausdruck für Disstress, als ein Medium für den Ausdruck von sozialer Unzufriedenheit und als ein Mechanismus, durch welchen Patienten versuchen, sich in ihrer Welt neu zu positionieren (Kirmayer, 2008).
Für das DSM-V wird die Komplexe Somatische Symptom-Störung (“Complex Somatic Symptom Disorder”) vorgeschlagen, die “übergreifende Charakteristika der somatoformen Störungen zusammenfasst und diese Diagnosen in Zukunft ersetzen soll:
resümeeSomatoforme Störungen können als ein “kulturelles” Konstrukt mit “speziellen kulturellen Ausprägungen”, aber auch als”kulturübergreifende Prinzipien” verstanden werden. Kommunikation von Krankheiten/Stress in verschiedenen Kulturen – für die Diagnostik und Modellbildung (Klärung) ist beides wichtig: Das “Abholen der Patienten” bei ihren individuellen Störungsbildern (kultureller Hintergrund, Medicoscape) und die Zuordnung zu “allgemeingültigen Störungsbildern”. Auch bei der Bewältigung von Krankheiten/Stress kann die Verbindung beider Ansätze nützlich sein: Das Nützen therapeutischer Möglichkeiten allgemeingültiger Störungsbilder und das Nützen individueller Bewältigungsressourcen in verschiedenen kulturellen Kontexten.
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