Die Prävalenz der Kaufsucht ist schwer festzulegen. Eine Studie der Wiener Arbeiterkammer vermutet, dass 20 % der Bevölkerung zu den kompensatorischen Käufern zählen. Die Gruppe der stark Kaufsuchtgefährdeten, also jenes Kollektiv, das de facto kaufsüchtig konsumiert, wird mit etwa 8 % angegeben. Hier zeigen sich laut Autoren deutliche Genderunterschiede, da Frauen unverkennbar öfter betroffen sind1. (Auf die unterschiedlich ausgeprägten geschlechtsspezifischen Kaufgewohnheiten wird weiter unten eingegangen.) Studien in Deutschland und den USA zeigen bemerkenswerterweise keine signifikanten Geschlechtsunterschiede2.
Für das pathologische Kaufen gibt es derzeit noch kein störungsspezifisches Entstehungsmodell, dem Problem liegen jedoch multifaktorielle Ursachen zugrunde, die teilweise noch im Dunklen liegen. Es bieten sich allerdings einige wichtige Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen an.
Psychologische Faktoren: Operante Verstärkungsprozesse sind bedeutende Auslöser und halten das pathologische Kaufen aufrecht. Die Entwicklung des Kaufverhaltens wird durch die hohe Konsumorientierung sowie einen momentanen starken Besitzwunsch begünstigt. Positive Verstärkung erfahren Betroffene durch das Auswählen der Waren, das als lustvoll und anregend empfunden wird3. Frauen erwerben dabei eher Kleidung, Schuhe, Kosmetik, Schmuck, Lebensmittel und Bücher, Männer tendieren zu technischen Geräten, Sportequipment und Werkzeug. Kaufsüchtige erwerben häufig für nahestehende Personen oder Angehörige allerlei Güter – auch um dadurch eine Selbstaufwertung zu erfahren4.
Auslöser für Kaufattacken sind vor allem Selbstwertprobleme, Einsamkeit, Angst vor negativen Befindlichkeiten und belastenden Gedanken, ungelöste Konflikte sowie unzureichende Bewältigung innerer Unzufriedenheit. Später lenkt die Kaufsucht von all diesen Problembereichen ab und verbessert zunächst die Stimmung der Betroffenen.
Die negativen Konsequenzen wie Bedarf, Notwendigkeit und Kontostand werden völlig ausgeblendet, selbst wenn sich massive Schulden anhäufen und psychosoziale Probleme immer drängender werden. Die kurzfristige Verbesserung der Stimmung lässt nach der Bezahlung rasch nach und kippt sogar ins Gegenteil5. Die Patienten quantifizieren das emotionale Strohfeuer mit wenigen Minuten bis maximal einigen Stunden.
Neurobiologische Ansätze: Forschungen von Babbar6 scheinen zu belegen, dass neurobiologische Defizite v. a. im serotonergen, dopaminergen und Opiatsystem bei der Kaufsucht eine Rolle spielen, ebenso wie Störungen des Belohnungssystems. Raab et al.7 konkretisieren Letzteres und vermuten physiologische Korrelate im mesolimbischen dopaminergen Belohnungssystem. Dabei erkennen sie eine Analogie zum pathologischen Glücksspiel und vermuten daher eine Dysbalance im serotonergen System bzw. Opiatsystem, da die Kaufattacke nicht zweckgebunden ist, sondern wegen des zu erwartenden Belohnungseffektes während der Kaufabwicklung auftritt.
Kultureller Kontext: Neben neurobiologischen Ansätzen und psychologischen Faktoren stehen freilich soziale Aspekte und der kulturelle Kontext im Mittelpunkt bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung des pathologischen Kaufens. Das pathologische Kaufen ist somit ein Phänomen der Industrieländer, das durch das anwachsende, ansprechende, stets verfügbare (Internet) Produktangebot ausgelöst und gefördert wird.
Patienten beschreiben häufig, dass sie nie in ihrem Leben gelernt haben, mit Geld umzugehen. Dieses Defizit wird durch die vielfältigen bargeldlosen Zahlungsmöglichkeiten wie EC-Karte, Kreditkarte und Onlinebezahlsysteme verstärkt. Sie erhöhen das Risiko, die Kontrolle über das Kaufverhalten zu verlieren3, da das Gefühl für die Wertigkeit der Dinge durch den bargeldlosen Zahlungsverkehr verwässert wird.
Die Diagnose Kaufsucht erfordert im Vorfeld eine sorgfältige Differenzialdiagnostik. Eine manische Phase während der Kaufattacken sowie eine allfällige Zwangserkrankung müssen ausgeschlossen werden. Eine genaue Unterscheidung zwischen kompensatorischem Kaufen und süchtigem Kaufen (Tab.) ist essenziell3.
Bei der Diagnosefindung können zwei Screening-Verfahren hilfreich sein: Das SKSK (Screening zur Erhebung von kompensatorischem und süchtigem Kaufverhalten)4 ermittelt mittels 16 Fragen die Kaufsuchtgefährdung. Die Ergebnisse werden aufsummiert, wobei der Cut-off-Wert bei 45 liegt. Darüber Eingestufte gelten als kaufsüchtig3.
International hat sich der CBS (Compulsive Buying Scale; Faber & O’Quinn 1992) durchgesetzt. Er setzt sich aus 7 Items zusammen, die emotionale und finanzielle Aspekte des pathologischen Kaufens erheben. Der Cutt-off-Wert liegt hier bei –1,34; Werte darunter zeigen pathologisches Kaufverhalten an. Seit 2011 gibt es auch eine deutsche Version des CBS2, die nicht nur übersetzt, sondern auch validiert wurde.
Diagnostische Klassifikation: Es zeigt sich schon bei der Begriffsfindung, dass es Unklarheiten in der Klassifikation gibt. Die Begriffe „compulsive buying“, Kaufsucht, zwanghaftes Kaufen oder pathologisches Kaufen weisen auf die verschiedenen Einordnungsversuche hin.
Pathologisches Kaufen tritt wiederholt gemeinsam mit einer Zwangsstörung auf, muss jedoch davon abgegrenzt werden. Das ich-syntone Gedankenkreisen ist beim pathologischen Kaufen von den Zwangsgedanken unverkennbar abgrenzbar, des Weiteren unterscheiden sich Kaufattacken deutlich von ritualisierten, stereotypen Zwangshandlungen. Somit erfüllen die auftretenden Symptome des pathologischen Kaufens keine diagnostischen Kriterien nach DSM-IV oder ICD-10 einer Zwangsstörung3.
Als Störung der Impulskontrolle wurde die „krankhafte Kauflust“ schon Anfang des letzten Jahrhunderts von Kraepelin und Bleuler verstanden. Sie kategorisierten pathologisches Kaufen als nicht näher bezeichnete abnorme Gewohnheit oder Störung der Impulskontrolle nach ICD-10 und DSM-IV. Einige Symptome bestätigen die Impulskontrollstörung, etwa die Unwiderstehlichkeit der Kaufimpulse, das Fehlen einer vernünftigen Kaufmotivation, die Fortführung der Kaufhandlungen trotz negativer psychosozialer Konsequenzen und die mangelnde Selbstkontrolle8.
Das Einordnen des pathologischen Kaufens zu den nichtstoffgebundenen Süchten, Kaufsucht oder Verhaltenssucht rechtfertigt sich im Kaufdrang, im Kontrollverlust, in der Dosissteigerung und durch Entzugssymptome, die in ihrer Phänomenologie, jedoch nicht hinsichtlich ihrer Pathogenese dem einfachen Alkoholentzugssyndrom entsprechen, in der Einengung des Lebens auf die Kaufthematik und im Weiterkaufen, obwohl man sich der schädigenden Wirkung desselben bewusst ist. Somit sind alle Kriterien einer Suchtdiagnose erfüllt, wobei mehrfach Entzugserscheinungen mit den ursprünglichen Auslösern (z. B. Spannungs- und Unruhezustände) von den Betroffenen missinterpretiert werden. Sind mindestens 3 Kriterien von den 6 genannten erfüllt, kann man schon von einer Kaufsucht sprechen; es müssen also nicht alle Kriterien erfüllt sein, so tritt z. B. eine Dosissteigerung nicht bei allen Patienten auf3, 9.
In der Forschung wird die Kaufsucht den stoffungebundenen Süchten zugeordnet. Sie hat dabei Ähnlichkeiten mit anderen Störungen dieser Kategorie. Nicht selten tritt die Sucht abwechselnd oder gleichzeitig mit anderen Suchtformen auf. Die eigentliche Abhängigkeit ist, wie oben bereits angedeutet, der Akt des Kaufens. Das äußert sich auch dahingehend, dass die erworbenen Güter nicht ausgepackt werden. Stattdessen werden sie nur selten benutzt, oft sogar versteckt (um keine Hinweise auf die Sucht zu geben) oder weggeworfen4.
Viele Studien zeigen, dass nahezu alle Kaufsüchtigen an einer weiteren psychischen Einschränkung leiden. Über 90 % der Betroffenen zeigen eine Lebenszeitprävalenz für Achse-I-Störungen wie affektive Störungen, Substanzabhängigkeiten sowie Angst- und Essstörungen. Im Zuge der Angststörungen zeigen sich gerne auch soziale Phobien, zudem treten bei etwa der Hälfte der Betroffenen auch Persönlichkeitsstörungen auf5, 9.
Das zwanghafte Horten stellt einen weiteren Risikofaktor dar. Beinahe alle Betroffenen leiden ebenfalls an einer Kaufsucht und können sich kaum von den angehäuften Waren trennen. Da dieses Phänomen mit tief greifender Scham besetzt ist, muss es in der Anamnese direkt angesprochen werden. Betroffene haben ausgeprägtere Symptome der Kaufsucht, mehr Zwangssymptome und eine deutlich höhere Anzahl komorbider psychiatrischer Erkrankungen3, 5.
Bis heute wird in den USA und in Deutschland10 die Wirksamkeit von kognitiv-behavioralen Gruppentherapieprogrammen nachgewiesen. Therapieziele sind, das exzessive Kaufverhalten zu durchbrechen und außerdem dysfunktionale Gedanken und negative Gefühle, welche die Kaufattacken auslösen, zu erkennen sowie zu modifizieren und so ein angemessenes Konsummuster zu etablieren. Komorbiditäten werden während des Gruppentherapieprogrammes von Müller und Mitchell nur soweit behandelt, wie sie für die Therapie unbedingt notwendig sind2, 3.
Um den Patienten den Ablauf des Kaufprozesses vor Augen zu führen, werden sie angehalten, ein Kaufprotokoll zu führen. So werden nicht nur die Einkäufe dokumentiert, sondern darüber hinaus wird auch die Selbstbeobachtung geschult und angemessene bzw. überbordende Kaufhandlungen werden offengelegt.
Die Veränderung der Kaufgewohnheiten wird durch klassische verhaltenstherapeutische Methoden wie das Erlernen der Stimuluskontrolle, Alternativverhalten und kognitives Umstrukturieren erreicht. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die begleitende Betreuung hinsichtlich des Geld- und Schuldenmanagements. Einkäufe nur mit Liste zu machen ist dabei ebenso hilfreich wie auf bargeldloses Zahlen zu verzichten und nur limitierte Geldmengen mit sich zu führen, um Impulseinkäufe zu verhindern3, 11. Das Erfassen und Behandeln der Komorbiditäten ist für den Erfolg der Behandlung mindestens genauso wichtig wie die Behandlung der Kaufsuchtdynamik selbst. Bei Vorliegen eines zwanghaften Hortens ist natürlich auch dieses in das Behandlungskonzept mit einzubeziehen.