Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie; im Grunde könnte man aber alles zur Anthropologie rechnen, weil sich die ersten drei Fragen auf die letzte beziehen. Diese Zusammenfassung der klassischen Fragen der Philosophie von Immanuel Kant bringt es auf den Punkt: Die zentrale Frage des Menschen ist die Frage nach sich selbst: Was ist der Mensch – und damit: Wer bin ich? So einfach diese beiden Fragen auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, so schwierig sind sie zu beantworten. Natürlich wissen wir auf die Frage, wer wir sind, zu erwidern: Wir können uns benennen, können dann (zumindest rudimentär) auch Auskunft über uns, über unseren jeweiligen körperlichen und psychischen Zustand geben; wir können uns auch einen Menschen nennen.
Und doch wissen wir aber auch, dass wir, wenn wir die Oberflächen der Antwortmöglichkeiten verlassen und uns auf die Tiefen unseres Wesens einlassen, wenn wir den Fragen nach unserer Herkunft, nach unserem gegenwärtigen Dasein und unserer Zukunft auf den Grund gehen, nur antworten können, dass wir eigentlich nichts Genaues darüber wissen – ja, dass wir mit überaus hoher Wahrscheinlichkeit sogar niemals wissen werden, wer wir wirklich sind, woher wir kommen und was unsere Bestimmung in der Zukunft ist. Max Scheler sagt: Der Mensch weiß nicht, wer er ist, und gleichzeitig weiß er auch, dass er es nicht weiß. Mit diesem Satz muss man aber nicht gleich zwangsläufig in einen anthropologischen Nihilismus verfallen. Die hier gestellten Fragen können uns auch anspornen, uns auf diese uns unbekannte Größe Mensch zuzubewegen, um zumindest einige Teilaspekte bzw. Facetten unseres Menschseins kennen zu lernen.
Die Frage nach dem Menschsein ist gerade in der Psychiatrie nicht nur von essenzieller, sondern auch von konstitutiver Bedeutung. Schon Karl Jaspers wies uns in seinem Jahrhundertwerk „Allgemeine Psychopathologie“, dessen 100. Geburtstag wir im nächsten Jahr begehen, darauf hin, dass „… unser Thema (in der Psychiatrie) der ganze Mensch in seinem Kranksein …“ ist. Christian Scharfetter geht noch etwas weiter, wenn er uns ans Herz legt, dass der „Gegenstand der Psychiatrie … jeweils ein ganzer Mensch in seiner Werdensgeschichte“ ist. Und es ist Ludwig Binswanger nur zuzustimmen, wenn er uns Mitte des vorigen Jahrhunderts in seinem Aufsatz „Der Mensch in der Psychiatrie“ mit Vehemenz darauf hinweist, dass „… Grund und Boden, auf dem die Psychiatrie als eigenständige Wissenschaft Wurzeln zu schlagen vermag, weder die Anatomie und Physiologie des Gehirns und die Biologie ist, weder die Psychologie, Charakterologie und Typologie überhaupt noch auch die Wissenschaft von der ‚Person‘, sondern – der ‚Mensch‘“.
Martin Heidegger bezeichnete uns Menschen als geworfenen Entwurf. In seiner In-die-Welt-Geworfenheit ist der Mensch auch zum Entwurf seiner selbst fähig.
Der Mensch ist also zur Menschwerdung fähig. Er ist folglich nicht nur so, wie er ist, sondern er ist auch all das, was er in seiner Potenzialität noch nicht ist. Der Mensch ist als Möglichkeitswesen der Optativ der Natur. Er ist nicht, wie es Ernst Bloch einmal in einer seiner Anthropologievorlesungen ausdrückte, schon fertig vorgefertigt wie eine Sutane, die man nur noch richtig zuknöpfen muss und bei deren Zuknöpfen man gegen Lebensende möglicherweise draufkommt, dass man am Beginn des Knöpfens nicht das richtige Loch traf und man daher alles wieder aufknöpfen muss, um mit dem richtigen Zuknöpfen wieder zu beginnen.
Als Menschen sind uns zwar körperlich-genetische und umweltgeformte Rahmenbedingungen vorgegeben, in denen wir uns aber nach unseren Wünschen, Fantasien und Utopien entfalten und schaffen können. Der Nietzsche’sche Aufruf „werde der du bist“, der übersetzt auch „werde der du sein könntest“ lauten könnte, kann damit als Leitmotiv unserer Menschwerdung dienen. In der alltäglichen Verwirklichung seiner Potenzialitäten kann der Mensch als Wunderwerk der Natur auch ein Wunderwerk seiner selbst werden.
Dieses Wunderwerk Mensch, das wir so gerne zwischen Tier und Gott bzw. zwischen dem Animalisch-Vormenschlichen und Übermenschen ansiedeln und von dem die einen behaupten, dass es von Gott geschaffen wurde und andere mit der These der unsichtbaren Hand der Evolution dagegenhalten (und es möglicherweise doch ganz anders war), hat viele Facetten. Seit dem antiken Griechenland wurde der Mensch in Abhebung vom Tierreich gerne als Homo cogitans bzw. Homo sapiens gesehen. Er ist gleichzeitig aber auch Homo faber, Homo communicans, Homo decernans, Homo desiderans, Homo ludens und Homo amans … und noch vieles anderes mehr.
Der Mensch ist in seinem Dasein, in seinem facettenreichen In-der-Welt-Sein, in seiner vielgestaltigen Existenz, in seinem besonderen Heraustreten (ex-istenz) aus sich selbst, in seinem mannigfachen Erscheinen in unserer Welt aber immer auch Mitmensch. Dem Mit-Sein, dem Miteinander-Sein und damit der zwischenmenschlichen Interaktion im Alltag kommt damit eine zentrale Bedeutung in der Menschwerdung zu.
In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass eine wesentliche Facette bzw. Potenzialität des Menschen seine Fähigkeit zur Wertschätzung des Anderen ist. Der Mensch ist fähig, seinem Mitmenschen Wertschätzung zuteilwerden zu lassen und kann damit zu einem wesentlichen Katalysator in der Menschwerdung des Anderen werden. Er kann diese Wertschätzung dem Anderen aber auch entziehen und damit zum Problemgenerator, zum Behinderer und Verhinderer der Menschwerdung des Anderen werden.
Der Entzug der Wertschätzung, den wir in seiner dramatischsten und grausamsten Form als Stigmatisierung durch psychische Erkrankungen kennen, ist das wohl stärkste Gift, um die Potenziale und die daraus entstehenden Lebenskräfte des Anderen zum Erlahmen zu bringen. Der Entzug der Wertschätzung ist dabei nicht ausschließlich an das Wort gebunden. Nicht selten wird aus Unachtsamkeit, in manchen Fällen sogar auch aus Bösartigkeit, dem Anderen „nur“ durch Mimik, Gesten bzw. entsprechende Handlungen der Ausschluss aus bzw. das Nicht-mehr-Dazugehören zu einer Gemeinschaft (aus welcher auch immer) vermittelt. Hier wird fehlende Wertschätzung bzw. Entzug derselben nicht sprachlich mitgeteilt, sondern durch Ausschlusshandlungen indirekt angezeigt. Diese indirekte, manchmal sogar nicht bewusste Vermittlung von fehlender Wertschätzung zeigt allerdings die gleiche, wenn nicht sogar eine noch größere fatale Wirkung auf die Entfaltungsmöglichkeiten des davon Betroffenen. Das gilt in gleichem Maße auch für all jene Fälle von menschenentwertender Stigmatisierung, wo gar kein persönlicher Kontakt zum zu Entwertenden besteht und quasi auf „kultureller“ bzw. politisch-gesellschaftlicher Ebene ganzen Menschengruppen (und ganz ohne Kenntnis des Einzelnen mit all seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten) menschliche Wertschätzung entzogen wird.
Wir Menschen haben damit nicht nur Verantwortung uns selbst und unserer eigenen Menschwerdung gegenüber, sondern auch hinsichtlich der Menschwerdungsmöglichkeiten unserer Mitmenschen. Um dieses Bewusstsein um unser aller Menschwerdungsmöglichkeiten und deren Behinderungen durch uns und andere zu vertiefen und zu stärken, wurde dieses Themenheft mit Schwerpunkt Stigmatisierung in der Psychiatrie gestaltet, auf dass es dazu dienen möge, dass all jene, die noch direkt oder indirekt, aktiv oder passiv in Stigmatisierungsprozesse involviert sind, so damit umzugehen lernen, dass unser Schaffen des Wunderwerkes Mensch (wieder) möglich wird.
So wünsche ich uns allen nach Lektüre dieses Heftes jene Kraft zur Wertschätzung des Anderen, die es braucht, um im Mit-Sein mit dem Anderen zu dem Menschen zu werden, der wir sein können und wollen.
Herzlichst Ihr
Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek
Wissenschaftlicher Herausgeber des SPECTRUM Psychiatrie