Der Mensch ist immer auch soziales Wesen. In Abwandlung des Sartre‘schen Wortes zur Freiheit des Menschen könnten wir sagen, dass der Mensch zur sozialen Interaktion verdammt ist. Es stellt sich also nicht die Frage, ob wir mit dem Anderen, den Anderen interagieren, sondern nur wie wir mit ihnen kommunizieren. Die Wissenschaft, die sich mit dem Wie der zwischenmenschlichen Beziehungen, mit deren Koordinaten und Vektoren beschäftigt, ist die Sozialästhetik. Zentrales Anliegen ist es ihr, einerseits die Beziehungen zum Anderen, zum Fremden und möglicherweise sogar Feindlichen zu analysieren und andererseits Wege aus der Fremdheit des Anderen zu ebnen.
Das Fremde ist in der Medizin ubiquitär anzutreffen, nicht nur dort, wo man mit transkulturellen Problemen im engeren Sinn konfrontiert ist; auch wenn natürlich gerade hier das Spannungsfeld der Feind-Gast-Doppelfigur in besonderer Weise kulminiert. Der Patient erlebt das Fremde der Krankheit. Ihm gegenüber steht zumindest am Beginn der Behandlung der Fremde, der Arzt, der Therapeut, die Pflegeperson etc.; und der Ort der Behandlung, das Spital, die Ambulanz, das Labor, die Ordination etc. ist für den Patienten die Fremde, in die er sich begibt, um fachgerechte Hilfe zu erhalten. Aber auch das medizinische Personal steht mannigfach Fremden gegenüber: den Patienten und ihren Erlebnisweisen, den Angehörigen, den Vertretern von Trägerorganisationen, Ökonomie – professionisten, Beamten, Politikern, um nur einige der Wichtigsten zu nennen.
All diese Formen von Fremdheitssituationen und -erlebnissen werden überall dort in besonderer Weise akzentuiert, wo Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinandertreffen. Gerade hier stellen sich daher auch Fragen nach dem Wie im Umgang mit dem Anderen. Wie nähere ich mich dem Fremden? Wie können wir verhindern, dass das Fremde zum Bedrohlichen und damit uns zum Feindlichen wird? Wie nehmen wir den Anderen auf? Wie gewähren wir wem Gastrecht? Wie laden wir wen wofür ein? Wie nehmen wir wen auf, wie weisen wir wen zurück? Die Diskurse zum Thema Gastfreundschaft fokussieren heute in der Regel auf ethisch-moralischen Fragen; ästhetische Problemstellungen kommen dabei meist zu kurz, obwohl gerade deren Lösungen die Basis für das Gelingen unserer Behandlungsangebote legen.
Wie Gastfreundschaft in der Psychiatrie im allgemeinen und in der transkulturellen Psychiatrie im besonderen gelebt und erlebt werden kann, wie weit sie reichen kann, wo aber auch ihre Limitierungen beginnen können, wird uns schon in dem hier verwendeten Vokabular erkennbar.
Im Gegensatz zum englischen Begriff „hospitality“, der ganz auf den Fremden bzw. das Feindliche rekurriert – das Wort selbst rührt ja von dem ursprünglich synonym verwendeten lateinischen Begriffspaar hostis/hospis (Fremder, Feind) her, aus dem sich dann später einerseits hostility (Feindschaft) und andererseits hospitality (Gastfreundschaft) entwickelten – wird im Deutschen durch das zusammengesetzte Substantiv Gast-Freundschaft darauf verwiesen, dass es sich hierbei um eine besondere Form der Freundschaft handelt, nämlich um die Freundschaftsbeziehung zum (Noch-) Fremden.
Aristoteles unterscheidet bekannter – maßen in seiner Nikomachäischen Ethik vier Formen der Freundschaft:
Nur wer sich selbst Freund ist, kann auch des anderen Freund werden. Die Begegnung im Rahmen der Gastfreundschaft, als dem einzig wirksamen Mittel zur Überwindung des Fremden und Feindlichen im Anderen, braucht als Grundvoraussetzung die Selbstfreundschaft. Nur wer mit sich selbst Freund ist, kann sich auch in sich selbst zu Hause erleben und kann damit auch dem Fremden sein Zuhause als Ort der Gastfreundschaft anbieten und so zum Gastgeber werden. Die phänomenologischen Analysen der Sozialästhetik lehren uns, dass wir im Rahmen einer in der Medizin gelebten Gastfreundschaft mit zwei Doppelfiguren konfrontiert sind: der des „Feind-Gastes“ auf der einen Seite und der des „Gast-Gastgebers“ auf der anderen Seite. Nie ist uns der Patient ganz nur Feind oder ganz nur Gast; immer ist uns der Andere, der Noch- Fremde beides, natürlich aber mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – einmal ist er vielmehr Feind als Gast, einmal vielmehr Gast als Feind.
Gleichzeitig sind wir als aktive Teile des medizinischen Behandlungsteams dem Patienten aber nicht nur Gastgeber, sondern müssen auch zum Gast in der Erlebniswelt des Patienten werden (und können damit auch zum Feind aus Sicht des Patienten werden) – ebenso wie in der Doppelfigur Feind-Gast finden wir hier unterschiedliche Gewichtungen: Einmal sind wir fast ganz nur Gastgeber, zum anderen werden wir im Verlauf einer dialogischen Begegnung mit dem Patienten hoffentlich immer mehr auch dessen Gast.
Nur wenn wir akzeptieren lernen, dass wir als Mediziner immer beides sind, nämlich einerseits Gastgeber und gleichzeitig andererseits auch Gast in der Welt unserer Patienten (und uns auch dementsprechend verhalten), können wir eine Schwerpunktverschiebung der Feind-Gast-Doppelfigur vom Feind in Richtung Gast erreichen, die ihrerseits wieder unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen unserer Behandlungsmaßnahmen ist. Wie mit den Spannungsfeldern zwischen den beiden Doppelfiguren Feind-Gast und Gastgeber- Gast umgegangen werden kann, wie in ihnen Wege zielführender Behandlung in der transkulturellen Psychiatrie beschritten werden können, dazu mögen die Beiträge in diesem Schwerpunktheft Hilfestellung sein.