Die Belastungsinkontinenz ist von der physiotherapeutischen Seite gut erforscht. Schon 1948 schreibt Arnold Kegel über den positiven Einsatz von Übungen post partum.1 1952 beschreiben Jones und Kegel Beckenbodentherapie mit einer Heilungsrate von 80 % bei Inkontinenz durch spezielle Übungen.2 Neumann (2006) vergleicht in einem Review 24 Studien, die Inkontinenz physiotherapeutisch behandeln.3 Dabei konzentrieren sich einige Studien auf selektives Beckenbodentraining, andere nehmen aus funktioneller Sicht die Rumpfkapsel (Beckenboden-Mm.-multifidii-Diaphragma pulmonale und M. transversus abdominis) im Training dazu. Für die Kontinenz ergibt sich bei diesen Studien, selektiv und funktionell, eine Besserungsund Heilungsrate von 73 bis 97 %.
Dranginkontinenz: Es gibt noch einen zweiten Bereich, der besonders im höheren Alter beachtet werden muss: die Dranginkontinenz. Es gibt eine Vielzahl älterer Menschen, die etwa Busreisen nicht machen, da sie nicht wissen, ob jederzeit eine Toilette in der Nähe ist. Die Problematik der Dranginkontinenz tritt meist ebenfalls schon Jahrzehnte vorher in leichter Form auf: Die Betroffenen kennen alle Toiletten in der Umgebung, gehen vorsichtshalber auf die Toilette, oder man hört sie sagen: „Ich habe eben eine kleine Blase.“ Auch hier können nach einem präzisen Befund mit Interventionen wie Information, Beratung, Entspannung und funktionellem Training in vielen Fällen klinisch gute Besserungen erzielt werden. Ist die Drangproblematik fortgeschritten, kann parallel zu Medikamenten, Entspannung im Blasenbereich und funktionelles Agieren der Beckenbodenmuskulatur erarbeitet werden.
Erfahrungsgemäß berichten Betroffene erst spät über ihre Probleme. Die Frühanzeichen, wie Tröpfchen beim Husten, Laufen etc., werden gerne selbst „übersehen“. Jahre vorher beginnen sich Betroffene in ihren Aktivitäten einzuschränken: kein Laufen mehr, Wandern besser nicht mehr bergab, auch fröhliches Lachen muss limitiert werden, um kontinent zu sein etc. So merken sie erst, wenn sie mit gezielten Fragen angesprochen werden, dass sie sich nicht mehr „normal“ verhalten und wie sehr die Blase ihr Leben bestimmt. Nach ärztlicher Abklärung kommen die Patienten zur Physiotherapie. Mit Anamnese und ausführlichen Beckenboden-Fragebogen werden hier Informationen eingeholt.4 Ein interner Tastbefund nach dem PERFect-Schema nach Laycock 20015 und der Erweiterung von Slieker-ten Hove 20096 bringt einen klaren muskulären Befund der Beckenbodenmuskulatur und ist zusammen mit den bestehenden Symptomen Ausgangsbasis der Therapie. In der Frühphase ist gezielte Physiotherapie oft eine kurze Angelegenheit.
Gleichgewichtsstörungen können die Mobilität stark beeinträchtigen. Walther (2010)7 schreibt, dass 60 % aller weiblichen und 50 % aller männlichen Patienten über dem 70. Lebensjahr Schwindel und Gleichgewichtsstörungen angeben. Bei Patienten über 75 Jahre ist es sogar so, dass Schwindel und Gleichgewichtsprobleme die häufigsten Symptome sind. Es gibt eine Vielzahl an möglichen Ursachen von Gleichgewichtsstörungen: Störungen des Gleichgewichtsorgans, des Ganglion vestibulare, der Vestibulariskerne, des visuellen Systems und der Sensomotorik.
Die Verbesserung der Sensomotorik, der Steuerung und Kontrolle der Bewegung konnte in Studien sehr gute Verbesserungen des Gleichgewichts erzielen. Die Sensomotorik kann physiotherapeutisch gut beeinflusst werden.
Smith (2008)8 zeigt, dass Frauen mit Harninkontinenz ein geringeres Gleichgewicht als Frauen ohne Harninkontinenz haben. Richardson9 und Hodges10 belegen die Beteiligung des Beckenbodens auch an der posturalen Kontrolle, der Kontrolle der Haltung. Mittels vaginaler bzw. analer Elektroden misst Hodges die Muskelaktivität, während über Armbewegungen in verschiedenen Tempi das Gleichgewicht der Haltung gefordert wird. Gleichzeitig misst er den intraabdominellen Druck über eine Sonde, die über die Nase in den Magen eingeführt wird. Er stellte fest, dass ein gesunder Beckenboden immer vor der Armbewegung einsetzt. Dieses physiologische Einsetzen der Muskulatur, kurz bevor der Reiz auftrifft, wird feedforward genannt. In ähnlicher Weise wird auch die Feedforward-Aktivierung des M. transversus abdominis (TrA) von Hodges und Richardson getestet und im Buch „Segmentale Stabilisation im LWS-und Bekkenbereich“ beschrieben.
Auch Sjödahl (2009)11 stellt fest, dass Beckenboden und TrA bei gesunden Probandinnen bei intraabdomineller Druckerhöhung feedforward arbeiten und bei Beckenbodendysfunktionen diese zeitliche Reihenfolge verändert ist.
Smith12 fand, dass bei Frauen mit Harninkontinenz die Muskelaktivität des Beckenbodens kurz vor einer Armaktivierung kurzfristig vermindert wird, zu einer Zeit, wo bei kontinenten Frauen der Bekkenboden, TrA und die Mm. multifidii bereits feedforward aktiviert werden. Die Beckenbodenaktivität ist bei Frauen mit Harninkontinenz verspätet. Im Anschluss allerdings ist die Aktivität größer als bei beckenbodengesunden Frauen. Diese Unterschiede können auch einen entscheidenden Faktor beim Gleichgewicht darstellen. Auch beim Gleichgewicht ist der Zeitpunkt der Muskelaktivierung, das Timing, wichtig. Ist die Aktivierung der Muskulatur zu spät, kann die Person bereits stürzen. Smith vermutet, dass Betroffene durch die Dysfunktion so eingeschränkt sind, dass sie nur mehr entweder die Kontinenz oder die posturale Kontrolle zum gleichen Zeitpunkt managen können. Vieles deutet darauf hin, dass diese Vermutung stimmt.
In einer weiteren Studie testet Smith die Muskelaktivität über EMG und das Gleichgewicht bei kontinenten und inkontinenten Frauen. Bei Frauen mit Harn inkontinenz wird die Beckenbodenaktivität bei gering gefüllter Blase mehr herabgesetzt als in der Kontrollgruppe. Es wird gezeigt, dass Frauen mit Harninkontinenz größere Veränderungen des Schwerpunktes aufweisen als kontinente Frauen und dass sie ein signifikant geringeres Gleichgewicht haben als Personen ohne Harninkontinenz.
Diese Erkenntnisse fordern, dass die Beckenbodenfunktion auch bei Gleichgewichtsstörungen befundet und ernst genommen werden muss, da diese Dysfunktionen auch therapeutische Konsequenz haben. Bei diagnostizierten Beckenbodendysfunktionen sollte demnach auch der Beckenboden zuerst selektiv und dann in ein Gleichgewichtstraining einbezogen werden.
Eigene Studie: Für meine Masterarbeit am FH-Campus Wien habe ich in einer kleinen Studie13 das Gleichgewicht bei Frauen mit einem Durchschnittsalter von 49 Jahren vor und nach Physiotherapie gemessen. Keine einzige der Probandinnen konnte vor der Therapie mit geschlossenen Augen auf einem Bein je 10 Sekunden stehen. Nach 7 Einheiten Physiotherapie bezüglich Beckenbodenfunktion haben sich alle Probandinnen im Einbeinstand mit geschlossenen Augen verbessert. Es fand sich eine Korrelation zu den Beckenbodenparametern: Die Verbesserung der schnellen Kontraktionen des Beckenbodens und die Verbesserung des Einbeinstandes mit geschlossenen Augen hatten eine signifikante Korrelation.
Take Home Message
Der Beckenboden erfüllt nicht nur Aufgaben der Kontinenz, sondern kann auch zum allgemeinen Gleichgewicht beitragen. Dysfunktionen dieser Muskulatur sollten so früh wie möglich erkannt und behandelt werden. Viele haben Angst vor der Inkontinenz im Alter und erkennen nicht, wann hier bereits gehandelt werden kann. Daher ist Aufklärung notwendig, damit die Patienten rechtzeitig die Dringlichkeit der Problematik verstehen.
1 Kegel AH, Am J Obstet Gynecol 1948; 56(2):238–248
2 Jones EG, Kegel AH, Surg Gynecol Obstet 1952; 94:179–188
3 Neumann PB et al., BMC Womens Health 2006; 6:11
4 Baessler K et al., Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 2010; 21(2):163–172
5 Laycock et al., Br J Community Nurs 2001; 6(5):230–237
6 Slieker-ten Hove M, Int Urogynecol J 2009; 20:1497–1504
7 Walther LE et al., HNO. 2008; 56(8):833-41; quiz 842
8 Smith MD et al., Neurourol Urodyn 2008; 27(1):71–78
9 Richardson C, Hodges P, Hides J, 2.5. motorische Kontrollmechanismen für die Lenden-Becken-Kontrolle. In: Segmentale Stabilisation im LWS- und Beckenbereich. 1. ed.; 2009; 20-26
10 Hodges PW et al., Neurourol Urodyn 2007; 26(3):362–371
11 Sjödahl J et al., Clin Biomech (Bristol, Avon) 2009; 24(2):183–189
12 Smith MD et al., Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 2007; 18(8):901–911
13 Udier E, Beckenbodentraining bei inkontinenten Frauen und die Auswirkungen auf das Gleichgewicht. Masterarbeit am FH-Campus Wien 2011