Beckenbodentraining bei besonderer Beckenbodenbelastung

Beckenboden, Schwangerschaft/Geburt und Harninkontinenz: Es gibt eine Vielzahl von Studien mit dem Nachweis, dass Beckenbodentraining in der Schwangerschaft eine Harninkontinenz nach der Geburt verringert. Harvey beschreibt in einem RCT die Verbesserung der postpartalen Harninkontinenz durch Beckenbodentraining in der Schwangerschaft. Auch Mørkved beschreibt eine Verbesserung der Kontinenz sowohl in der Schwangerschaft als auch nach der Geburt. Die Geburt selbst bringt weitere Herausforderungen für den Beckenboden. Der Musculus levator ani, der Nervus pudendus und das Beckenbindegewebe sind bei vaginalen Geburten großen Dehnungen ausgesetzt. DeLancey stellte fest, dass bei Frauen mit Levatorverletzungen die Austreibungsphase im Schnitt um 78 Minuten länger war. Miller berichtet von pathologischen Veränderungen des Nervus pudendus besonders bei verlängerter Austreibungsphase und hohem Geburtsgewicht.

Beckenboden und Sport – was kann abgeleitet werden? Grundsätzlich sind Bewegung und Sport gut für den Körper. Die erhöhte Durchblutung, dadurch verbesserter Sauerstofftransport, Muskelwachstum und Elastizität der Muskulatur sind natürlich auch für den Beckenboden grundsätzlich positiv. Allerdings weist Sapsford darauf hin, dass sich bei jungen, sehr fitten Frauen oft eine hypertone Bauchwand findet und somit auch der Beckenboden hyperton ist und wenig Entspannungsfähigkeit hat. Die exzen­trisch-konzentrische Kraftentfaltung des Beckenbodens ist somit in der Koordination gestört und der Beckenboden kann auf ankommende Impulse, wie zum Beispiel einen plötzlicher Hustenstoß, nicht mehr adäquat reagieren. Die Entspannungsfähigkeit des Beckenbodens ist hier oft nicht optimal gegeben.
Ist es zusätzlich noch eine Sportart, in der eine Flexion der Wirbelsäule gefordert wird, wie beim Schifahren oder Rudern, kann die physiologische Rekrutierung des Muskulus transversus abdominis und des Beckenbodens behindert sein. Auch hier ist die Reaktionsfähigkeit somit vermindert, und es kann zu Belastungsinkontinenzepisoden kommen.

Beckenboden und schwere körperliche Arbeit: Bei schwerer körperlicher Arbeit kann davon ausgegangen werden, dass regelmäßig vermehrte Belastung auf den gesamten Körper trifft. Als Beispiel hierfür steht eine Patientin, 48 Jahre. Sie ist Bäuerin, viel in Bewegung und hebt täglich schwere Lasten. In der Anamnese berichtet sie, dass sie bereits vor 10 Jahren beim schweren Arbeiten „so einen Zug im Körper nach unten spürte“. Damals waren keine Lageveränderungen der Organe sichtbar. Offensichtlich musste der Körper aber bereits kompensieren, bzw. kam es im Laufe der Zeit zu einer Dekompensation. Im November 2011 wurde sie mit einer Cystocele zu mir in die Praxis überwiesen. Es war ein Zufallsbefund: als sie beim Arbeiten ausrutschte und sich verletzte, kontrollierte sie mit einem Spiegel den Scheidenbereich und sah die Cystocele bereits etwas außerhalb der Scheidenöffnung.

Beckenboden und chronischer Husten: Chronischer Husten ist in vielerlei Hinsicht eine Belastung für den Betroffenen. Da der Beckenboden genauso betroffen ist, weil er ständig Extrembelastungen ausgesetzt wird, sollte dieser frühzeitig in die Behandlung einbezogen werden. Love­grove Jones verglich 2010, wie sich Husten auf den Beckenboden und die Beckenorgane auswirkt. Sie stellt einen deutlichen Unterschied zwischen Gesunden und Inkontinenten fest. Der Hustenstoß löst bei Gesunden die Aktivierung des Beckenbodens aus, bei Personen mit Inkontinenz nicht.

Auswirkungen von Beckenbodenbelastungen: Der menschliche Körper ist fähig, Schwächen oder verzögerte Aktivierungen einige Zeit zu kompensieren. Daher bedarf es großer Aufmerksamkeit, um hier rechtzeitig einzugreifen, wenn Belastungen größer werden, als es für Gewebestrukturen gut ist. Die Vorsorgemedizin arbeitet mit diesem Denkansatz. Dem Beckenboden sollte in der Vorsorge Raum gegeben werden, da oft erst die zur Belastung dazukommenden nor­malen körperlichen Alterungsprozesse Symptome auslösen. Harninkontinenz, Stuhlinkontinenz mit der ersten Stufe der Windinkontinenz und bei der Frau auch Senkungen mit Inkontinenz oder Harnretention entstehen oftmals erst, wenn über längere Zeit die Belastung und die Belastbarkeit divergieren. Hier wäre oft viel Zeit, um die verschiedenen Gewebestrukturen an die Belastungen anzupassen. Diese Zeit sollte maximal genutzt werden.

 

 

Therapieschwerpunkte bei Beckenbodenbelastungen

Die Therapie bei Beckenbodendysfunk­tionen setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen.

  • Nervenleitgeschwindigkeit optimieren
  • Gewebestrukturen (Narben etc.) manualtherapeutisch optimieren
  • Beckenboden-Pretiming wieder­-er­lernen
  • Beckenbodenfunktion Halte- und Schnellkraft
  • Optimieren der Zusammenarbeit der Rumpfkapsel: Beckenboden, Mus­culus transversus abdominis und Musculi multifidii, sodass dies auch im Alltag unter Belastung möglich ist
  • Optimieren der Zusammenarbeit von Beckenboden und Musculus obturatorius internus (gegenseitigen Abhängigkeit durch gemeinsamen Ansatz)
  • Belastungen optimieren
  • Koordinations- und Krafttraining, um den vermehrten Belastungen begegnen zu können

Laycock hat 2001 das PERFect-Schema zur Messung der Beckenbodenkraft entworfen und in Studien getestet. Diese Messung enthält die Parameter Kraft P (power), Ausdauer E (endurance), Wiederholungszahl R (repetitions), schnelle Kontraktionen F (fast) und das Timing ect (every contraction timed). Die Entspannungsfähigkeit des Beckenbodens lässt sich indirekt bei der Schnellkraftmessung mitableiten. Sie stellte fest, dass besonders die Schnellkraft bei Frauen mit Harninkontinenz herabgesetzt ist.
Hodges (2007) hat anhand von Elek­tromyographiemessungen (EMG-Messungen) die Wichtigkeit der Voraktivierung (Pretiming, Feed-forward-Aktivierung) im Alltag erforscht. Er stellte wie Sjödahl (2009) fest, dass sowohl Beckenboden als auch Muskulus transversus abdominis und Muskuli multi­fidii vor Bewegung, auch vor Armbe­wegung, aktiviert sind, wenn diese Muskulatur ein physiologisches Zusammenspiel hat.
Gemäß einer Arbeit von Tsao (2007) ist das Pretiming mit selektivem Training wiedererlernbar. Im Beckenboden und Transversus abdominis ist hier sehr exaktes Arbeiten erforderlich. Wenn die Musculi obliqui externus und internus im Verhältnis zum Musculus transversus abdominis zu stark sind, ist das Pretiming der Rumpfkapsel nicht mehr möglich. Hier sind zum Beispiel Sit-ups kontraindiziert.
Optimalerweise wird der Klient zuerst engmaschig physiotherapeutisch betreut. Im Anschluss daran kann es sinnvoll sein, in größeren Abständen noch zur Therapie zu kommen, bis sich dieses notwendige Gleichgewicht auch im Alltag einstellen kann.

Kostenerstattung: Physiotherapeutische Behandlung bedarf einer Überweisung vom Arzt. Mit chefärztlicher Bewilligung zahlt die gesetzliche Krankenkassa einen Teil der Behandlungskosten und zwar dann, wenn die Therapien mindestens 1-mal pro Woche stattfinden.

Arzt und Physiotherapeut: In der Fachgruppe UPGG (Uro-Procto-Gynäkologie und Geburtshilfe) findet ein intensiver Austausch zu einzelnen Krankheitsbildern, neuen Informationen von Kongressen oder interdisziplinärer Vernetzung statt. Optimal im Sinne des Patienten ist eine gute Zusammenarbeit von Arzt und Physiotherapeut.

FACT-BOX

Aufklärung, dass bestimmte Belastungen eine vermehrte Beachtung des Becken­bodens und der umliegenden Strukturen fordern. Besonders bei Berufen mit z. B. schwerer Hebearbeit sollten besonders Frauen (aufgrund der Beckenanatomie) verlässlich informiert werden.
  • Dringlichkeit von effizienten Maßnahmen den Klienten vermitteln
  • In physiotherapeutischer Einzeltherapie kann spezifisch auf die Herausforderungen eingegangen und die notwendigen manuellen Maßnahmen können durch­geführt werden.
  • Nach erfolgreicher Physiotherapie kann in einer allgemeinen Beckenbodengruppe weitergearbeitet werden

 

Literatur bei der Verfasserin