Einteilung: Die Wirksamkeit einer Therapie oder eines Medikamentes hängt von unterschiedlichen Faktoren, wie der Tumorbiologie zum Zeitpunkt der Behandlung, zu erwarteten Folgen, wenn keine Behandlung durchgeführt würde, und individuellen Erwartungen des einzelnen Patienten ab. Neu diagnostizierte Prostatakarzinome werden traditionellerweise basierend auf klinischer Untersuchung und Bildgebung nach dem klinischen Erkrankungsstadium zum Diagnosezeitpunkt in lokalisierte Tumoren (T1-2, N0, M0), fortgeschrittene Tumoren (T3-4) oder metastasierte Tumoren (N1/M1) eingeteilt.
Patienten mit lokalisierter Erkrankung werden üblicherweise mit einer auf die Prostata beschränkten Therapie behandelt, Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung erhalten meist eine Kombinationstherapie, basierend auf der geringen Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Eliminierung des Karzinoms mit einer singulären Therapiemodalität, und Patienten mit metastasierter Erkrankung werden mit systemischen Therapien behandelt. Bei Patienten ohne Hinweise auf eine Lymphknoten- oder Fernmetastasierung (TX, N0, M0) kann das klinische T-Stadium allein eine Überschneidung zwischen verschiedenen Kategorien (z. B. lokal fortgeschrittene Tumoren, die jedoch nicht zur Metastasierung bestimmt waren und durch eine aggressive Therapie geheilt werden können) oder Unterschiede innerhalb einer Kategorie (lokalisierte Tumoren mit einem hohen Metastasierungspotenzial, die letztlich eine effektive, systemische Therapie benötigen) nur unzuverlässig vorhersagen. Dieses Problem wurde von zahlreichen Forschergruppen nachgewiesen, die daraufhin Modelle basierend auf klinischen und pathologischen Parametern entwickelt haben, um die Wahrscheinlichkeit eines biochemischen Rezidivs oder einer Metastasierung vorherzusagen1, 2.
Das TNM-Staging-System beschreibt nur insuffizient die komplexen Eigenschaften des individuellen Patienten und seiner Erkrankung, da es sich um ein statisches System handelt, das fixiert auf den Zeitpunkt der Diagnose und daher nicht auf Veränderungen der Erkrankung zu anderen Zeitpunkten im Erkrankungsverlauf ist (Tab. 2). Wir und andere3 haben daher andere, dynamische Modelle vorgeschlagen (Abb. 1), die den natürlichen Erkrankungsverlauf sowie den Erkrankungsverlauf nach erfolgter Behandlung aus Sicht des Patienten besser widerspiegeln.
Konzeptionell kann das Erkrankungskontinuum in Wendepunkte bzw. Zustände unterteilt werden, die auf der jeweiligen Erkrankungsausdehnung sowie den messbaren Parametern basieren. Das Modell der „klinischen Stadien“ ist ein dynamisches Model, da es den Zustand eines Patienten zum jeweiligen, gegenwärtigen Zeitpunkt seiner Erkrankung beschreibt. Jedes Stadium beschreibt eine bestimmte Menge an Bedürfnissen (klinischen Fragen), Zielen und Endpunkten von möglichen klinischen Studien. Zudem repräsentiert jedes Stadium dieses Kontinuums ein Szenario aus der alltäglichen klinischen Praxis (Abb. 2). Dabei sind die Ziele, Bedürfnisse und Probleme eines einzelnen Patienten oder einer Patientenpopulation zu einem bestimmten klinischen Stadium ähnlich und können durch einfache Fragen erfasst werden: Welche Manifestation liegt vor? Was ist die Prognose? Was stellt die beste Therapie für das vorliegende Karzinom dar? Schlägt diese Therapie bei Behandlung auch an?
So ist z. B. die Behandlung eines Patienten mit einem lokalisierten Prostatakarzinom anders als die Therapie eines Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung. Für den Patienten mit lokalisierter Erkrankung ist das Ziel eine Therapie, die das Auftreten eines biochemischen Rezidivs verhindert; der Endpunkt ist die Hinauszögerung eines erneuten PSA-Nachweises (prostataspezifisches Antigen). Für den Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung ist das Ziel möglichst eine Verlängerung des Überlebens oder die Prävention von Krankheitssymptomen; die Endpunkte sind somit karzinomspezifisches Überleben und Linderung von Symptomen. Ähnlich müssen Medikamente an das jeweilige klinische Stadium angepasst werden, da bestimmte biologische Ansätze als Angriffspunkte von Medikamenten nur zu bestimmten klinischen Zuständen von Relevanz sind. So ist z. B. HER2 als therapeutisches Ziel vor allem beim kastrationsresistenten Prostatakarzinom von Bedeutung4. Dem gegenüber stehen andere Ziele, wie das prostataspezifische Membran-Antigen (PSMA) oder PSA, die beide breite Anwendung bei unterschiedlichen klinischen Zuständen finden.
Patientenorientierter statt protokollorientierter Ansatz: Das Modell der klinischen Stadien berücksichtigt besonders dann die Limitationen der TNM-Staging-Klassifikation, wenn es bei älteren Patienten und Erkrankungen mit einem lang andauernden natürlichen Erkrankungsverlauf angewendet wird. In dieser Konstellation bedarf das Rezidiv einer Tumorerkrankung nicht unbedingt einer grundlegenden Änderung der Therapie, da oft die Wahrscheinlichkeit nicht an einem karzinomspezifischen Tod (= Tod aus anderer Ursache, z. B. Herzinfarkt) zu versterben, überwiegt. Dieser patientenorientierte Ansatz offeriert zudem – im Gegensatz zu einem protokollorientierten Ansatz – die Möglichkeit, Assoziationen zwischen einem intermediären klinischen Stadium und dem Tod, bedingt durch die Erkrankung, festzustellen. Allerdings setzt das voraus, dass die Abläufe, die zum Tod durch die Erkrankung führen, formal in ihren Abläufen bekannt sind, und dass die Vorhersagewahrscheinlichkeit des karzinomspezifischen Todes ein primäres Therapieziel darstellt. Intermediäre Zustände hingegen, die nicht mit Tod assoziiert sind, können auf diese Weise eliminiert werden. Dieses Ziel ist umsetzbar, wenn die Anzahl der möglichen Zustände klein ist und die möglichen Abläufe, die zum Tod führen, behandelbar sind. Gleichermaßen wichtig ist, dass das Modell flexibel ist und jederzeit mit neuen Faktoren und Erkenntnissen aktualisiert und erweitert werden kann. Diese Faktoren können klinischer (z. B. Anzahl der positiven Stanzzylinder und Tumorausdehnung im Stanzzylinder oder Menge and Gleason-Grad-4-Tumor), pathologischer (z. B. Lymphovaskuläre Invasion), biologischer oder molekularer Natur sein5, 6.
Stadienorientierter Behandlungsansatz: Diese Ausführungen untermauern die Bedeutung der Differenzierung zwischen karzinomspezifischem Tod und Tod aus anderer Ursache bei Patienten mit Prostatakarzinom. Auf diese Weise kann leicht eine Unterscheidung getroffen werden, ob die Tumorkontrolle genügt, bei welcher der Patient an anderen Gründen verstirbt, ohne Tumorsymptome zu zeigen, oder einer Behandlung mit kurativem Ansatz, die auch die letzte Tumorzelle eliminiert. Wissenschaftlich werden standardisierte Kriterien verwendet, um ein bestimmtes Stadium zu definieren, so dass Patientenpopulationen, die sich innerhalb eines Stadiums befinden, klar als solche identifiziert werden können. Das erlaubt eine akkurate Abbildung der vorangegangenen individuellen Krankheitsgeschichte, ehemalige und gegenwärtige Ausdehnung der Erkrankung, der tumorspezifischen Charakteristika und Einzelheiten der Therapie und deren Ergebnis, um die Wahrscheinlichkeit eines Erkrankungsprogresses, einer weiter fortgeschrittenen Erkrankung oder des karzinomspezifischen Todes besser berechnen zu können. Dies wiederum ermöglicht es, therapeutische Ziele auf der Basis des individuellen Erkrankungsverlaufs genauer zu definieren bzw. zu redefinieren. Allerdings wird erwartet, dass zusätzlich zu den vorhandenen Informationen stets mit neuen Informationen ergänzt wird, wenn der Patient ein bestimmtes klinisches Stadium erreicht, um das Modell anzupassen.
Das vorgestellte Modell ermöglicht eine einzigartige Struktur, um die Prognose eines Patienten mit Prostatakarzinom im Erkrankungsverlauf akkurat zu erfassen. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, dass durch Anwendung eines derartig zusammenhängenden Konzeptes die Evaluation des individuellen Patientenrisikos, mehrere unabhängige oder abhängige Endpunkte zu erleben (z. B. biochemisches Rezidiv, aber Tod aus nicht karzinomspezifischer Ursache), ermöglicht wird. Dieser stadienorientierte Behandlungsansatz soll den Arzt ermutigen, den Patienten so zu behandeln, dass dessen Chancen, an einem karzinomspezifischen Tod zu versterben, minimiert werden, unabhängig davon, ob der Patient sich mit neu diagnostizierter Erkrankung oder beim Vorliegen eines Rezidivs vorstellt. Die Tatsache, dass einige Patienten mit einem steigenden PSA-Wert nach radikaler Prostatektomie nicht am Prostatakarzinom versterben, ist ein Beispiel dafür, dass ein Therapieversagen nicht generell mit nachfolgendem Tod gleichgestellt werden kann7. Diese Tatsache unterstreicht die Wichtigkeit, die individuelle Prognose zum jeweiligen Zeitpunkt des Therapieversagens erneut zu bestimmen, um weitere und neue, für den individuellen Patienten hilfreiche Therapieziele genauer definieren zu können. Auf diese Weise kann dann im Konsens entschieden werden, ob eine Interventionsbedürftigkeit besteht, da die Gefahr des Progresses in einem weiter fortgeschrittenen Stadium und/oder die Entwicklung von Krankheitssymptomen besteht oder sogar das Risiko vorliegt, am Karzinom zu versterben.
Das Ziel dieses Modells ist es, ein System zu entwickeln, welches den Ablauf von klinischen Zuständen mit dem tatsächlichen Progress der Erkrankung verbindet. Unter Verwendung dieser Junktimierung kann gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden, zukünftig ein bestimmtes klinisches Stadium zu erreichen, wobei zum einen der aktuelle Erkrankungszustand sowie zum anderen die verschiedenen Möglichkeiten des Erkrankungsverlaufs berücksichtigt werden. Dieses dynamische Modell steht im Kontrast zu den traditionellen Ansätzen, die lediglich isolierte Vorhersagen jeweils eines einzelnen zukünftigen Stadiums erlauben, nicht jedoch im Fluss befindliche Zustände, die ineinander übergehen.
Zusammenfassend ist das Modell der klinischen Stadien ein strukturelles Netzwerk, das jeweils den individuellen, gegenwärtigen Patientenzustand erfasst, vorangegangene Konditionen berücksichtigt und den Einfluss jeder Therapieform mitbewertet, um den Einfluss auf weitere Behandlungen, einen potenziellen Erkrankungsprogress und/oder karzinomspezifischen Tod abzuschätzen, um damit ein individuelles patientenorientiertes Therapiekonzept zu erstellen (Tab. 3). Auf diese Weise können bei der Planung und Entscheidung über weitere individualisierte Therapien unter Berücksichtigung der Zeitspanne, in der sich ein Patient in einem bestimmten klinischen Stadium befindet, neben dem Tod weitere Endpunkte, wie z. B. die Lebensqualität oder Verbindungen aus Lebensqualität und Überlebenszeit berücksichtigt und damit dem Patienten und dem Gesundheitssystem überflüssige Behandlungsschritte erspart werden.