Die Leitlinie der EAU 20111 hat eine weit reichende Änderung in der Therapieempfehlung für neu diagnostizierte Seminome im Stadium I gebracht: Bisher betrachtete die EAU-Leitlinie Surveillance, adjuvante Chemo- und Strahlentherapie als gleichwertige Alternativen. Jetzt heißt es dort: „Surveillance ist die empfohlene Management-Option (bei vorhandenen Möglichkeiten und kooperativen Patienten) – Grad-A-Empfehlung“. Die adjuvante Bestrahlung ist generell nicht mehr empfohlen: „radiotherapy is not recommended as adjuvant treatment“ – Grad-A-Empfehlung. Carboplatin-Monotherapie (ein Kurs AUC 7) ist eine Alternative bei Patienten mit einer Tumorgröße von mehr als 4 cm und einer Invasion des Rete testis (Grad-B-Empfehlung).
Surveillance ist Standard: Wie kam es zu dieser Änderung? Mehr als 80 % der neu diagnostizierten Seminome sind im Stadium I, 15–20 % erleiden innerhalb von 5 Jahren ein Rezidiv, meist in den infradiaphragmatischen Lymphknoten2. Chemotherapie des Rezidivs nach der IGCCCG-Klassifikation, verabreicht in spezialisierten Zentren, bringt Heilungsraten zwischen 97 und 100 %3. Nur 6 % der Niedrigrisikotumoren (Tumorgröße < 4 cm ohne Rete-testis-Invasion) rezidivieren ohne adjuvante Therapie. Für diese Patienten erübrigt sich jegliche adjuvante Therapie1.
Für dieses Management liegen solide Langzeitergebnisse von nichtrandomisierten prospektiven Studien vor, zum Beispiel aus dem Princess Margaret Hospital, Toronto, an 1.559 Patienten mit einer Gesamtrezidivrate von 6,8 % bei unselektionierten Patienten4.
Ein Nachteil der Surveillance-Strategie ist die Notwendigkeit einer mindestens 5-jährigen intensiven Nachsorge. In seltenen Fällen treten Rezidive auch zu einem späteren Zeitpunkt auf, daher wird eine lebenslange Nachsorge empfohlen5.
Adjuvante Strahlentherapie nicht mehr empfohlen: Die Langzeitfolgen der adjuvanten Bestrahlung3, 6 – insbesondere das bis dreifach erhöhte Risiko, an Zweittumoren (Magen, Blase, Pankreas, Leukämie) zu versterben, aber auch vermehrte kardiovaskuläre Erkrankungen, Neurotoxizität, Nephropathie, pulmonale Toxizität und verminderte Fertilität stehen im deutlichen Missverhältnis zur exzellenten Prognose der Surveillance. Deshalb ist die adjuvante Strahlentherapie beim Seminom im Stadium I keine Therapieoption mehr1.
Adjuvante Chemotherapie und risikoadaptierte Therapie: Die gemeinsame Studie des Medical Research Council (MRC) und der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) (MRC TE 19) verglich einen Kurs Carboplatin (area under curve [AUC] 7) mit der damaligen Standard-Strahlentherapie und erbrachte vergleichbare Ergebnisse nach einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 4 Jahren7. Diese Dosierung stellt eine suffiziente Alternative zu Surveillance im Stadium I dar. Die Rezidivrate von einem und zwei Kursen liegt zwischen 1 und 3 %8. Basierend auf retrospektiven Daten von Stadium-I-Seminomen mit einer Tumorgröße von mehr als 4 cm und einer Invasion des Rete testis wurde eine Hochrisiko-Gruppe mit einer Rezidivrate von 32 % definiert.9 Die therapeutische Entscheidung sollte jedenfalls gemeinsam mit dem Patienten unter Berücksichtigung seines persönlichen Risikoprofils getroffen werden.
Strahleninduzierte Zweitkarzinome haben zu einer Diskussion über Technik und Frequenz von bildgebenden Untersuchungen in der Nachsorge geführt. Die Strahlenbelastung eines Thorax-CT entspricht 400 Lungenröntgen (8,0 vs 0,02 mSv)10. Das Risiko für einen heute 25-Jährigen, bis zum 65. Lebensjahr ein Zweitkarzinom oder eine akute Leukämie zu entwickeln, beträgt bei Fortführung heutiger Nachsorgeschemata 1 : 100011. Der kritische Grenzwert scheint bei 30 mSv zu liegen.
Die MRC-Studie TE08 hat gezeigt, dass 2 CT 3 und 12 Monate nach Ablatio testis eines Nichtseminoms im Stadium I gleich effektiv sind wie die traditionellen 5 CT12. Ein CT des Thorax ist nur mehr bei positivem Abdomen-CT im Stadium I und bei disseminierten Nichtseminomen notwendig.
Der Ultraschall des Abdomens wird nicht mehr routinemäßig empfohlen, da er eine dynamische Untersuchung ist und sich daher einer Qualitätskontrolle oder einem Review entzieht1. Tumormarker, deren pathologischer Anstieg bei mindestens 2/3 der Rezidive dem radiologisch fassbaren Tumor vorausgeht, gewinnen zunehmende Bedeutung13. Das MRI wird in Zukunft die CT weitgehend ersetzen können.
Auffälligkeiten des kontralateralen Hodens lassen sich durch den Patienten mittels Selbstuntersuchung entdecken und sind bei Tumordiagnose meist mit einer organerhaltenden Resektion und anschließender Bestrahlung des befallenen Hodens behandelbar.
Zwei große Studien beschäftigen sich mit der adjuvanten Gabe von einem Kurs BEP:
Die AUO-Studie verglich an 347 Patienten einen Kurs BEP mit der primären retroperitonealen Lymphadenektomie (RPLND) in unselektionierten („community-based“) Abteilungen14. Es zeigte sich die Überlegenheit der adjuvanten Gabe von einem Kurs BEP nach 4,7 Jahren mit einer Rezidivrate von 1,2 % vs. 8,7 % nach RPLND. Diese Studie ist die einzige, die über alle Komplikationen und Toxizitäten sämtlicher Erst- und Folgetherapien berichtet und so eine Beurteilung der Gesamttherapiebelastung ermöglicht. Auffällig war auch, dass mehr als die Hälfte aller operierten Patienten retroperitoneale Rezidive hatten, im Gegensatz zu nur 2 % an spezialisierten Kliniken. Alle Ergebnisse dieser Studie sind gewichtige Argumente gegen die primäre Lymphadenektomie im Stadium I.
Die SWENOTECA-Studie verglich Surveillance mit 1-mal BEP an 745 Patienten15. Die Gesamtrezidivrate war 6,8 % nach einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 4,7 Jahren. Ein Kurs BEP verminderte die Rezidive bei Patienten im Stadium IB (mit Gefäßeinbruch) von 41,7 % auf 3,2 % und im Stadium IA (ohne Gefäßeinbruch) von 11,5 % auf 1,3 %. Nach zwei Kursen BEP wurden keine Rezidive beobachtet. Ein Kurs BEP scheint eine ausreichende adjuvante Therapie für alle Patienten im Stadium I zu sein. Derzeit läuft ein Vergleich von einem zu zwei Kursen BEP. Bei vergleichbar guten Ergebnissen könnte diese Strategie in zukünftigen Leitlinien Beachtung finden.
Take Home Message
1 Albers P, Albrecht W, Algaba F et al., Guidelines on testicular cancer 2011. http://www.uroweb.org/guidelines/online-guidelines/
2 Aparicio J et al., Ann Oncol 2003; 14:867–72
3 Robinson D et al., Br J Cancer 2007; 96:529–33
4 Groll RJ, Warde P, Jewett MA, Crit Rev Oncol Hematol 2007; 64:182–97
5 Chung P et al., Can J Urol 2002; 9:1637–40
6 van den Belt-Dusebout AW et al., JCO 2007; 25:4370–8
7 Oliver RT et al., Lancet 2005; 366(9482):293–300
8 Aparicio J et al., JCO 2005; 23:8717–23
9 Shelley MD et al., Cancer Treat Rev 2002; 28:237–53
10 Brenner DJ, Radiology 2004; 231: 440–5
11 Jemal Aet al., CA Cancer J Clin 2006; 56:106–30
12 Rustin GJ et al., JCO 2007; 25:1310–5
13 Albrecht W et al., J Lab Med 2004; 28:109–115
14 Albers P et al., JCO 2008; 26:2966–2972 15 Tandstad T et al., J Clin Oncol 2009; 27:2122–2128