Epidemiologie: Bösartige Tumoren der Harnblase gehören zu den häufigsten malignen Erkrankungen. Allein in Deutschland (2006) stehen diese mit einem Anteil von 8,4 % aller Krebsneuerkrankungen bei Männern an vierter Stelle, bei Frauen mit 4,3 % an siebter Stelle aller Krebsneuerkrankungsfälle. Im Lauf ihres Lebens werden einer von 23 Männern und eine von 62 Frauen an Harnblasenkrebs erkranken. Jährlich sterben knapp 6.000 Patienten an diesem Tumor (2006: 3.549 Männer, 1.893 Frauen)1.
Risikofaktoren: Neben dem Rauchen als wichtigstem Risikofaktor kommt berufsbedingten Ursachen eine entscheidende Rolle zu. Daneben gilt die Exposition gegenüber einer Vielzahl chemischer Substanzen als sicher oder zumindest verdächtig für die Auslösung eines urothelialen Malignoms (Zusammenstellung in Zumbé J et al.2). Der Anteil berufsbedingter Harnblasenkarzinome wird bei Männern auf 10 % und bei Frauen auf 5 % geschätzt3, 4. Durch effektive Arbeitsschutzmaßnahmen konnten die berufsbedingten Risiken im Lauf der letzten Jahre deutlich reduziert werden. Wegen der langen Latenz für Blasenkarzinome bis zu 45 Jahren ist jedoch auch weiterhin mit dem Auftreten berufsbedingter Tumoren zu rechnen. Die Latenzzeiten von anerkannten berufsbedingten Urothelkarzinomen der Harnwege (BK 1301) bewegen sich im Durchschnitt um 35 Jahre5. Daneben wird auf potenzielle neue Risiken hingewiesen, z. B. die Gefährdung medizinischen Personals durch Narkosegase (Ketamine) und Dämpfe bei elektrischer Prostatavaporisation6.
Auch Nahrungsmittel setzen sich aus einer nahezu unüberschaubaren Vielfalt chemischer Einzelsubstanzen zusammen. Daher verwundert es nicht, dass auch seit Jahren Lebensmittelinhalts- und -zusatzstoffe sowohl als tumorinduktiv als auch präventiv kontrovers diskutiert werden.
Die Datenlage und Studienergebnisse sind (unabhängig von den jeweiligen Studientypen) stark inkonsistent und mitunter widersprüchlich. So finden sich sowohl in den Auswertungen von Fallkontroll- als auch prospektiven Kohortenstudien blasentumorprotektive Ergebnisse für Gruppen mit höherem Obst-, nicht jedoch für höheren Gemüsekonsum7. Lin et al.8 finden genau das Gegenteil: kein blasentumorprotektiver Effekt für Obst, jedoch für höheren Gemüsekonsum, wobei der Effekt bei Vorliegen bestimmter Gen-Polymorphismen (GSTM1 und NAT2) am höchsten war.
Daneben finden sich Arbeiten, die einen präventiven Effekt sowohl für Obst als auch Gemüse dokumentieren9, wobei die Signifikanz der Ergebnisse nicht erreicht wird10 oder teilweise geschlechtsabhängig ist11. In Studien wird der Effekt abhängig vom begleitenden Konsum von Fleisch, Alkohol und Tabak12 berechnet.
Besonders blasenkrebspräventive Effekte werden sowohl bei bestimmten Vertretern aus der Gruppe der Kreuzblütler (z. B. Kohl, Brokkoli, Brokkolisprossen)10, 13 sowie der gesamten Gruppe der Kreuzblütlergewächse beobachtet8, wobei die Ergebnisse mitunter lediglich einen Trend, aber keine Signifikanz zeigen. Wobei wieder andere Untersuchungen die präventiven Wirkungen vor allem bei rohem Konsum, einen geringeren oder keinen Effekt bei Aufnahme von gekochten Gemüsen nachgewiesen haben14. Wieder andere Arbeiten weisen einen blasenkrebspräventiven Effekt nur für den Konsum roher Kreuzblütlergewächse nach15.
Einige Arbeiten finden keine Abhängigkeit von Obst- und Gemüsekonsum und der Häufigkeit von Blasenkrebs16, 17.
Unstrittig scheint ein hoher Konsum von Fleisch und Schinken, Geflügel, Fisch mit einem (deutlich) höheren Blasenkrebsrisiko assoziiert zu sein18–20.
Während Teekonsum das Risiko für Tumoren des Harntraktes nicht alteriert, scheint Kaffeekonsum auf der Basis einer Metaanalyse von 37 epidemiologischen Studien das Risiko um ca. 20 % zu erhöhen21.
Auch die Untersuchung von Einzelkomponenten, z. B. die Aufnahme der Vitamine E und C über Nahrungsmittel und Supplemente liefert widersprüchliche Ergebnisse. Während einige Arbeiten eine Reduktion für das Blasenkrebsrisiko mit zunehmender Dosis und Einnahmedauer berechnen22, 23, weisen andere ein gesteigertes Blasenkrebsrisiko für die Einnahme antioxidativer Nahrungsergänzungsmittel nach, wobei die Autoren selbst die Daten aufgrund der geringen Anzahl verfügbarer Studien für wenig belastbar halten24. In anderen Arbeiten wiederum lässt sich kein Zusammenhang für das Blasenkrebsrisiko und die Einnahme von Vitaminen (Multivitamine, Betakarotin, Retinol, Folsäure, Vitamin B1, B3, B6, B12, C, D und E) berechnen25.
Potenziell ergebnisrelevante Einflussfaktoren: Fragt man nach möglichen erklärenden Ursachen der unüberschaubaren und widersprüchlichen Ergebnisse, finden sich schnell eine Vielzahl potenzieller Einflussfaktoren. Sind experimentelle Laborergebnisse an Tumorzelllinien auf humane Verhältnisse in vivo übertragbar? Sind die Effekte von untersuchten synthetischen Einzelsubstanzen vergleichbar mit Effekten biologisch extrahierter Einzelsubstanzen? Wie exakt können Fragebögen den Nahrungsmittelkonsum des Einzelnen evaluieren? Wie exakt können Lebensmittelportionen, Frische, Verarbeitungsgrad, Herkunft, Belastung und Konzentration u. v. a. m. der untersuchten Lebensmittel bzw. deren Inhaltsstoffen miteinander verglichen werden. Wie exakt können weitere begleitende Risikofaktoren, z. B. berufliche Belastungen oder Belastungen im urbanen oder ländlichen Lebensraum erfasst und berücksichtigt werden? Kann für alle Menschen bei tatsächlich vergleichbarer Risikoexposition eine gleiche Empfänglichkeit, z. B. der Krebsentstehung, vorausgesetzt werden? Welchen Einfluss haben und wie exakt berücksichtigt werden potenziell relevante Begleitfaktoren wie körperliche Bewegung und Stress?
Sicherlich müssten eine Reihe von wesentlichen (bekannten und noch unbekannten) Risikofaktoren für die Blasenkrebsinduktion berücksichtigt werden. Unwahrscheinlich und nahezu unmöglich scheint es daher auch, allein durch die Veränderung eines einzelnen Risikofaktors (z. B. eines Nährstoffs, einer Nährstoffgruppe, Obst und/oder Gemüse usw.) das Gesamtrisiko der Krebsentstehung zu reduzieren oder den präventiven Effekt nachweisen zu können. Dennoch gibt es wesentliche Argumente, anzunehmen, dass ein ernährungsbedingter Effekt der Krebsentstehung besteht7.
Mit dem Erscheinen der Hominiden vor ca. 15 Millionen Jahren hat sich die Ernährung über das Stadium des Jägers und Sammlers, der vor etwa 300.000 Jahren das Kochen entdeckte, die Entwicklung zum Homo sapiens vor etwa 200.000 Jahren, der seit etwa 7.000 Jahren Ackerbau betreibt, im Lauf der Jahrtausende evolutionär entwickelt. Diese evolutionäre Lebensmittelselektion hat im Lauf von 15 Millionen Jahren „pharmakologisch unbedenkliche“, zum Überleben wichtige Nahrungsmittel, weitgehend regional etabliert. Damit kann die Nahrungsmittelentwicklung, ähnlich dem Entwicklungsprozess eines modernen Pharmakons, nur über einen erheblich längeren Zeitraum betrachtet werden (Abb. 1). Infolge des enorm langen Zeitraumes kann daher auch von einer größtmöglichen toxikologischen Unbedenklichkeit dieser Nahrungsmittel ausgegangen werden26.
Mit Beginn der Industrialisierung vor etwa 100 Jahren und einer zunehmenden Lebensmittelproduktion unter industrialisierten und kommerzialisierten Bedingungen, den Errungenschaften einer mobilen und globalisierten Welt mit nahezu unbeschränkter weltweiter Verfügbarkeit aller Lebensmittel, muss auch eine Veränderung der Nahrungsmittelversorgung wahrgenommen werden. Vor allem an Migrationsbewegungen kann die Zunahme von Morbidität und Mortalität auch für Malignomerkrankungen durch die Abkehr von über Jahrtausende bewährten traditionellen Ernährungsgewohnheiten und die Übernahme typischer Ernährungsgewohnheiten des Gastlandes beobachtet werden. Gleichförmig wirkt sich auch die schnelle Übernahme „westlicher“ Ernährungsgewohnheiten in den Ursprungsländern aus27.
Unbestritten ist die Zunahme von Übergewicht, Adipositas und metabolischem Syndrom, die als wesentliche Morbiditäts- und Mortalitätsfaktoren die Sozialsysteme zunehmend belasten. Als eine der wesentlichen Ursachen wurde die hyperkalorische „westliche“ Ernährung mit einem Übermaß an tierischen Fetten, Proteinen und raffinierten Kohlenhydraten identifiziert. Konsekutiv kommt es, vor allem bei übergewichtigen Personen, nicht zuletzt durch einen zunehmenden Verarbeitungsgrad der konsumierten Lebensmittel, zu einem Mangel an Mikronährstoffen (Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen und phytochemischen Substanzen)28. Erschwerend kommt die Anreicherung und Belastung mit Schad- und Zusatzstoffen (z. B. Stabilisatoren, Färbemittel, Geschmacksverstärker, Dünge-, Arzneimittel , Pestizid-, Insektizidrückstände, Schwermetallbelastung, Dioxine u. v. a. m.) hinzu. Zusätzlich können toxische Produkte bei der Verpackung (z. B. Kunststoffe), Verarbeitung (z. B. Akrylamide, Nitrosamide) und Zubereitung (z. B. Grillen) entstehen.
Jahr für Jahr werden durch die chemische Industrie viele tausende Tonnen neuer chemischer Substanzen, so z. B. auch von Pestiziden synthetisiert29, von denen möglicherweise nicht unerhebliche Menge mit oder über die Ernährung in den Stoffwechsel gelangen und dort metabolisiert werden können. Mit welcher Methodik und Sicherheit kann allein aufgrund dieser enormen Quantität an Syntheseleistung die Unbedenklichkeit jeder Substanz mit Kontakt zu Lebensmitteln sichergestellt werden? Gerade in diesem Zusammenhang soll nochmals auf die potenziell sehr lange Latenz bei der Blasenkrebsinduktion erinnert werden.
Phytochemische Substanzen/Chemotherapeutika: Als gesunde Ernährung anerkannt ist eine möglichst abwechslungsreiche Mischkost, die eine Versorgung mit allen lebenswichtigen Makro- und Mikronährstoffen in der notwendigen Kontinuität und Menge sicherstellt30. Dabei sollte das Augenmerk neben Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen zunehmend mehr auch auf die Bedeutung phytochemischer Substanzen („sekundäre Pflanzenstoffe“) gerichtet werden. So werden mit einer ausgewogenen Mischkost täglich etwa 2 g phytochemischer Substanzen zugeführt, was etwa 5.000–10.000 verschiedenen Verbindungen entspricht (Abb. 2). Vielen dieser Substanzen, z. B. Polyphenolen, Terpenen, Saponinen, Schwefelverbindungen wie Allylsulfiden, Isothiozynaten u. v. a. m., können ähnliche Wirk-Targets zugeschrieben werden wie einer Vielzahl zur Behandlung eingesetzter Chemotherapeutika (Tab.). Dabei sind vor allem die Inhibition oder Blockade von Entzündungsmediatoren wie COX-2, von Tumorinfiltration- und Metastasenausbreitung, von Rezeptoren für Wachstumsfaktoren, der Thrombozytenaggregation, von Transkriptionsfaktoren, der Resistenzentwicklung von Chemotherapeutika, intrazellulären Signalkaskaden und metabolischer Toxininaktivierung zu nennen. Daneben sind antihormonelle, antibakterielle und immunmodulierende Wirkungen ebenso bekannt wie die isolierte Toxizität für Tumorzellen und vieles andere mehr31.
Der entscheidende Vorteil dürfte in der evolutionären Selektion dieser Nährstoffe über viele Jahrmillionen und ihrer dadurch bedingten guten Verträglichkeit ohne relevante Toxizität und Nebenwirkungen zu sehen sein. Durch ihre nahezu unbegrenzte Kombinationsvielfalt ist eine enorme Wirkungsvielfalt zu erwarten26. Hier ruht möglicherweise ein enormes ernährungstherapeutisches Potenzial, auch und gerade für die Primär- und Tertiärprävention maligner Tumoren, z. B. dem Urothelkarzinom der Harnblase. Der Vorteil einer metronomischen Chemotherapie mit ihrer oft besseren Wirksamkeit und Verträglichkeit im Vergleich zu einer konventionellen Applikation ist längst erkannt und etabliert (Abb. 3). Ebenso wie schlechte Ernährungsgewohnheiten und krebsinduktive Lebensmittel kontinuierlich, d. h. metronomisch Einfluss auf die Phasen der Krebsentstehung (Initiation, Promotion, Progression) nehmen können, sollte erkannt werden, dass zuträgliche Ernährungsgewohnheiten und eine stoffwechseladaptierte Versorgung mit ausreichenden Mengen möglichst natürlicher, d. h. möglichst unverarbeiteter Makro- und Mikronährstoffe und phytochemischer Substanzen gesundheitsfördernd im Sinne einer kontinuierlichen Chemoprävention positive Effekte haben sollte26 (Abb. 4). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist aber zumindest der Umkehrschluss nicht zu widerlegen, dass eine in diesem Sinne durchgeführte, gesündere Ernährung weniger Gesundheitsschaden anrichten dürfte als die Beibehaltung der aktuellen westlichen Lebens- und Ernährungsphilosophie mit „Fast-Food“- und „To-go“-Mentalität. Zumindest dafür genügt „gesunder Menschenverstand“ statt absoluter und niemals erreichbarer wissenschaftlicher Evidenz. Ebenso wird niemand den nahezu sicheren letalen Ausgang eines Absturzes vom Dach eines Hochhauses bezweifeln, solange dafür keine Evidenz durch prospektive Studien geschaffen wurde.
1 Robert-Koch-Institut und die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. (Hrsg.), Krebs in Deutschland 2005/2006. Häufigkeiten und Trends. 7. Ausgabe. Berlin 2010.
2 Zumbé J et al., Urotop2006; 17.
3 Colditz G, DeJong W, Hunter D, Trichopoulos D, Willet HW (eds.), Harvard report on cancer irevention. Vol 1: Causes of human cancer. Cancer Causes Control 1996; 7 (Suppl.):S3–S59.
4 Golka K et al., World J Urol 2004; 27:382–391.
5 Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG; Hrsg.), Beruflich verursachte Krebserkrankungen. Eine Darstellung der im Zeitraum 1978 bis 2003 anerkannten Berufskrankheiten. 8. überarbeitete und ergänzte Auflage. Sankt Augustin 2005.
6 Rübben H, Otto T, Colloquium Urologie 2010, Agileum Verlag und Gesundheitsakademie GmbH München 2010.
7 Riboli E, Norat T, Am J Clin Nutr 2003; 78(suppl):559S–569S.
8 Lin J et al., Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2009; 18:2090–2097.
9 Sacerdote C et al., Mutagenesis 2007; 22:281–285.
10 Michaud DS et al., J Natl Cancer Inst 1999; 91:605–613.
11 Bénéteau V et al., Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2008; 17:387–392.
12 Aune D et al., Asian Pacific J Cancer Prev 2009; 10:419–428.
13 Munday R et al., Cancer Res 2008; 68:1593–1600.
14 Link LB, Potter DJ, Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2004; 13:1422–1435.
15 Tang L, Zirpoli GR et al., Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2008; 17:938–944.
16 Büchner FL et al., Int J Cancer 2009; 125:2643–2651.
17 Larsson SC et al., Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2008; 17:2519–2522.
18 Fraser GE, Am J Clin Nutr 1999; 70(Suppl):532S–538S.
19 Michaud DS et al., Am J Clin Nutr 2006; 84:1177–1183.
20 Mills PK et al., Am J Epidemiol 1991; 133:230–239.
21 Zeegers MPA et al., Int J Epidemiol 2001; 30:353–362.
22 Jacobs EJ et al., Am J Epid 2002; 156:1002–1010.
23 Michaud DS et al., Am J Epidemiol 2000; 152:1145–1153.
24 Myung SK et al., Ann Oncol 2010; 21:166–179.
25 Hotaling JM et al., J Urol 2011; 185(4):1210–5.
26 Béliveau R, Gingras D, Éditions du Trécarré 2005, Outremont, Canada.
27 Doll R, Peto R, J Nat Cancer Inst 1981; 66:1196–1265.
28 Calton JB, J Int Sports Nutr 2010; 7:24–33.
29 Davies DL, Magee BH, Sience 1979; 206:1356–1358.
30 Biesalski HK, Bischoff SC, Puchstein C, Ernährungsmedizin. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2010.
31 Servan-Schreiber D, Anticancer, Editions Robert Laffont, Paris 2007.