Aktuelle Diagnostik- und Therapiestrategien beim vesikorenalen Reflux

Kontext: Der vesikorenale Reflux (VRR) ist der Faktor, der bei der Abklärung kindlicher Harnwegsinfekte standardmäßig untersucht wird. Man kann ihn sehen, klassifizieren, effektiv behandeln. Leider ist man dadurch verleitet, das Problem unserer kleinen Patienten auf diesen Faktor zu reduzieren. Denn der Reflux ist nur einer von mehreren Faktoren, die Harnwegsinfekte begünstigen. Im Zentrum steht die Frage, wie sehr das einzelne Kind klinisch betroffen ist, wie viele und wie schwere fieberhafte Harnwegsinfekte es durchgemacht hat und in welchem Ausmaß irreversible Nierenschäden eingetreten sind. Dem Reflux kommt dabei vorwiegend Bedeutung für den “oberen Stock” des Harntraktes zu.

Niedergradige Refluxe bei asymptomatischen Kindern verlieren zunehmend an Bedeutung und werden mit der aktuellen Strategie kaum diagnostiziert. Demgegenüber darf der Reflux bei Kindern mit wiederholten oder schweren fieberhaften Harnwegsinfekten nicht bagatellisiert werden, vor allem wenn die DMSA-Szintigraphie Nierenschäden aufweist. Ziel ist die Verhinderung von Harnwegsinfekten und Nierenschäden, aber auch Minimierung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen und Strahlenbelastung. Leider ist die Datenlage zur Refluxerkrankung unvollständig und verwirrend. Entsprechend großzügig fallen die Empfehlungen der aktuellen Guideline der AUA 2010 aus. Nur wenige Situationen werden durch eine gut belegte “Standard”-Vorgehensweise geregelt, die aber die wesentlichen Probleme der Praxis nicht lösen. Für alle übrigen Entscheidungen existieren mehrere gleichwertige bzw. nicht ausreichend belegte Wege in Form von “recommendation” oder gar nur “option”. Die Bedeutung von Blasen- und Darmentleerungsstörungen kann nicht genug betont werden. Sie sind Haupt-Risikofaktor für Harnwegsinfekte, sie beieinträchtigen die spontane Maturationsrate des VRR und die Erfolgsrate der endoskopischen Refluxtherapie (vgl. Artikel von Dr. R. Altenhuber).

Diagnostik

Hauptindikation für die Refluxdiagnostik ist unverändert der erste fieberhafte Harnwegsinfekt. In der Regel kommt eine konventionelles Röntgen-Miktionszystourethrografie (MCU) (Abb. 1a) zum Einsatz. Kleine Kinder werden bei uns mit einer Ch4- oder Ch6-Fütterungssonde transurethral katheterisiert. Größere und kooperative Kinder profitieren von einer suprapubischen Punktion mit EMLA®– Hautanästhesie. Wir besprechen die Untersuchung vorher mit Eltern und Kindern und lassen den älteren Kindern die Wahl zwischen Katheter oder Punktion, Sedierung oder nicht. Das Nuk-MCU (Abb. 1b) verwenden wir meist zur Kontrolle nach endoskopischer Refluxtherapie, das Sono-MCU (Abb. 1c) vorwiegend in der Verlaufskontrolle dilatierender Refluxe. Ein MCU ist allerdings in 10-20% falsch negativ. Wenn nach einem negativen MCU noch ein fieberhafter Harnwegsinfekt auftritt, wiederholen wir den Test in Form eines Sono- oder Nuk-MCU. Neuerdings verwenden wir in dieser Indikation, vor allem bei stark betroffenen Kindern, auch das PIC-Cystogramm.
Hierbei wird in Narkose zystoskopiert und Kontrastmittel an das Ostium herangespült. Der Stellenwert dieser offensiven Refluxdiagnostik ist allerdings nicht unumstritten und wurde in der AUA-Guideline nicht berücksichtigt.

Screening: Bei Kindern mit familiärer Refluxanamnese, aber ohne fieberhaften HWI findet man in durchschnittlich 28% ein Reflux (im 1. Lebensjahr bei ca. 50%, später seltener), bei pränataler Hydronephrose in ca. 16%, unabhängig vom Grad der Hydronephrose und unabhängig davon ob sie postnatal persistiert. Ob sich mittels Screening fieberhafte HWI und Nierennarben verhindern lassen, ist nicht belegt. Eine Empfehlung für das Reflux-Screening bei asymptomatischen Kindern gibt es also nur noch bei höhergradiger Hydronephrose (aufgrund der dann hohen Refluxgrade), Harnleiterdilatation, abnormer Blase und sonographischen Hinweisen auf Nierennarben (an unserer Abteilung ist auch die Nierenbecken- Wandverdickung ein Kriterium, das bei der AUA-Guideline nicht berücksichtigt wurde). Allerdings gilt das Screening von Kindern mit Hydronephrose jedweden Grades sowie familiäre Refluxanamnese noch als “option”, wird also nicht für völlig falsch gehalten. Dies gilt insbesondere für stark von Harnwegsinfekten oder Nierenerkrankungen betroffene Familien und solche, die nicht ausreichend über die Bedeutung und prompte Therapie von fieberhaften Harnwegsinfekten informiert werden können.
Blasen- und Darmentleerungsstörungen werden vorwiegend anamnestisch diagnostiziert (vgl. Artikel von Dr. R. Altenhuber). Hinsichtlich der Obstipation ist das Kriterium der Stuhlkonsistenz wichtiger als die Frequenz des Stuhlganges, denn oft äußert sich die Obstipation durch harten, kleinknolligen Stuhl (vgl. “Bristol stool chart”, im Internet bei Google leicht zu finden), der unter Umständen sogar mehrmals täglich abgesetzt wird.

Hinsichtlich Bildgebung wird von der AUA-Guideline ein Ultraschall empfohlen. Die DMSA-Szintigraphie (Abb. 2) hingegen erhält eine “recommendation” nur für Risiko-Patienten (abnormaler Ultraschall, fieberhafte Durchbruchsinfekte, höhergradiger VRR, Serum-Kreatinin erhöht), ansonsten hat sie den Status einer “option”. Das verwundert, denn der sog. Top-down Approach ist in aller Munde. Bei diesem Konzept wird nach einem fieberhaften HWI zunächst eine DMSA-Szintigraphie durchgeführt. Eine Refluxdiagnostik erfolgt nur, wenn die DMSA pathologisch ist. Damit werden die meisten Hochrisiko-Patienten identifiziert – bei minimaler diagnostischer und therapeutischer Morbidität. Allerdings bedeutet eine unauffällige DMSA noch nicht, dass das Kind kein Risiko für Nierenschäden hat, sondern vor allem, dass die antibiotische Therapie bisher rechtzeitig (innerhalb der ersten 24 Stunden) erfolgte. Denn durch prompte und resistenzgerechte Antibiose lassen sich DMSA-Veränderungen weitgehend vermeiden. Unsere Zielsetzung ist weiter gesteckt: Wir möchten nicht nur jene Kinder behandeln, die bereits irreversible Nierenschäden haben, sondern genau diese vermeiden – und den Kindern zusätzlich Episoden fieberhafter HWI ersparen. Bei der Erstabklärung fieberhafter Harnwegsinfekte kombinieren wir also in der Regel eine DMSA-Szintigraphie und ein MCU. Bisweilen verzichten wir auf das MCU, wenn der geschilderte fieberhafte HWI nicht ausreichend nachvollziehbar und die DMSA unauffällig ist. Die DMSA-Szintigraphie ist für uns ein unverzichtbares Werkzeug zur Klassifizierung des Risikos. Nur gelegentlich verzichten wir auf sie, z. B. wenn ein MCU aufgrund einer pränatalen Hydronephrose ohne HWI-Anamnese durchgeführt wurde und keinen Reflux ergab.
Harnuntersuchungen werden bei jeder Vorstellung durchgeführt.
Blutdruckmessungen erfolgen bei allen Kindern mit nachgewiesenen Nierenschäden zumindest einmal jährlich. Bestimmungen des Serum-Kreatinins laufen automatisch bei einer DMSA-Szintigraphie mit.

Therapie

Die gängigen Optionen der Refluxtherapie im engeren Sinne sind antibiotische Prophylaxe bis zur Maturation oder kurative Refluxtherapie mittels offen chirurgischer Operation oder endoskopischer Unterspritzung. Für die Therapieentscheidung wird die gesamte Risikokonstellation des Kindes betrachtet, wobei dem Schweregrad der Nierenschädigung in der DMSA-Szintigraphie eine Schlüsselrolle zukommt. Bei Kindern mit niedrigem Risiko (niedergradiger Reflux, keine Durchbruchsinfekte, keine Nierennarben, keine Blasen-/Darmentleerungsstörung) kommt auch eine “Wait and see”-Variante ins Spiel: Die antibiotische Prophylaxe wird beendet und abgewartet, ob ein (neuerlicher) fieberhafter Harnwegsinfekt auftritt.
Blasen- und Darmentleerungsstörungen benötigen eine gezielte Behandlung, idealerweise durch eine geschulte urotherapeutische Fachkraft. Gerade bei Kindern mit Miktionsaufschub oder Stuhlverhalten ist die Zusammenarbeit mit Kinderpsychologen sinnvoll (Ängste, angespannte Eltern-Kind-Beziehung). Obstipation muss konsequent und langfristig über Jahre behandelt werden. Dies ist in jedem Alter möglich. Urotherapeutisches Miktionstraining und Biofeedback sind demgegenüber erst ab ca. 5-6 Jahren wirklich Erfolg versprechend. Die Datenlage für oder gegen eine antibiotische Prophylaxe ist gemäß AUA-Guideline ungenügend. Dennoch erhält sie eine “recommendation”, und zwar für Kinder unter einem Jahr, wenn diese eine fieberhafte HWI hatten oder wenn ein VUR mind. dritten Grades vorliegt, denn Säuglinge haben eine höhere Morbidität der akuten Pyelonephritis und ein höheres Risiko für bleibende Nierennarben.
Bei Kindern über einem Jahr gilt eine generelle Empfehlung für die Prophylaxe bei VRR jeglichen Grades, wenn gleichzeitig eine Blasen-/Darmentleerungsstörung vorliegt. Die aktuelle schwedische Refluxstudie bestätigt einen protektiven Effekt der antibiotischen Prophylaxe hinsichtlich HWI und Nierennarben bei Mädchen über 1 Jahr mit VUR Grad 3 und 4 gegenüber der “Wait and see”-Gruppe. Bei Kindern, vor allem Buben, mit niedriggradigem VRR und auch sonst niedrigem Risiko ist die antibiotische Prophylaxe als “option” der Wait-andsee-Variante gleichgestellt. Bei kleinen Säuglingen senkt die Zirkumzision das HWI-Risiko um den Faktor 5 bis 10, allerdings liegen im Zusammenhang mit dem VRR keine Daten vor.
Hinsichtlich kurativer Refluxtherapie unterscheidet die AUA-Guideline nicht prinzipiell zwischen endoskopischer und offen chirurgischer Variante, abgesehen davon, dass nach Ersterer – wegen der geringeren Erfolgsrate von durchschnittlich 82% je Harnleiter – ein Kontroll- MCU empfohlen wird. Gemäß der schwedischen Refluxstudie muss man bei der endoskopischen Therapie nach 2 Jahren zusätzlich mit 20% “Spätversagern” rechnen. Eltern müssen in die Entscheidung über die Refluxtherapie mit eingebunden werden. Wir verwenden diese Varianten gemäß eigener Erfahrungen folgendermaßen: Die endoskopische Refluxtherapie (3 Tage stationär) kommt bei uns vorrangig bei Refluxgraden 1-3 und unauffälliger DMSA-Szintigraphie zum Einsatz. Die offen chirurgische Refluxsanierung bietet einen sicheren und anhaltenden Refluxschutz. Wir indizieren sie bei höhergradigem VUR oder ausgeprägten Nierennarben. Sie wird einseitig in Lich-Gregoir-Technik (ohne Eröffnung der Blase, 5 Tage stationär) in Narkose mit Kaudalblock durchgeführt. Bei beidseitigem VRR kommen intravesikale Techniken zum Einsatz (Politano oder Cohen, 8 Tage stationär).

Take Home Message

  • Nach wie vor gilt der erste fieberhafte Harnwegsinfekt als Indikation für eine komplette Abklärung (Ultraschall, MCU, DMSA-Szintigraphie, Serum-Kreatinin, Blutdruckmessung).
  • Wer an ein MCU denkt, muss sich zuerst nach Blasen-/Darmentleerungsstörungen erkundigen.
  • Die Wahrscheinlichkeit eines VRR beträgt bei pränataler Hydronephrose nur ca. 16%, unabhängig vom Hydronephrosegrad. Sie steigt bei abnormer Blase, Harnleiterdilatation oder Nierenbeckenwandverdickung.
  • Überdiagnostik asymptomatischer niedergradiger Refluxe soll vermieden werden.
  • Weder Sinn noch Unsinn der antibiotischen Prophylaxe sind durch Studien abgesichert. Im ersten Lebensjahr wird sie bei Kindern mit “signifikanten” Refluxen (VRR mind. Grad 3 oder HWI-Anamnese) dennoch empfohlen.
  • Die Entscheidung für eine kurative Refluxtherapie treffen wir nach dem 1. Geburtstag. Hinsichtlich der Variante (Unterspritzung und offene Operation) orientieren wir uns am Refluxgrad und an der Ausprägung der DMSA-Veränderungen.
  • Das IVP hat in der HWI-Diagnostik keinen Stellenwert

Literatur:
– Summary of the AUA Guideline on Management of Primary Vesicoureteral Reflux in Children. Peters CA et al., J Urol 2010; 184(3):1134-44 s. auch: Management and Screening of Primary Vesicoureteral Reflux in Children: AUA Guideline. (2010). Internet: http://www.auanet.org/ content/guidelines-and-quality-care/clinical-guidelines.cfm? sub=vur2010
– The Swedish reflux trial in children: III. Urinary tract infection pattern. Brandström P et al., J Urol 2010; 184(1):286-91