Urologische Symptome bei neurologisch Kranken: Die Prävalenz urologischer Symptome bei neurologischen Erkrankungen wird in der Literatur umfassend beschrieben. Nach Schlaganfällen kommt es z. B. bei bis zu 79 %2 zu Störungen der Blasenfunktion. Ähnliche Zahlen werden für die meisten der häufigsten neurologischen Erkrankungen dokumentiert3, 4. Verlässliche Daten zur Versorgung urologischer Symptome bei neurologisch Kranken finden sich jedoch spärlich. Daneben bestehen, unabhängig von einer neurologischen Grunderkrankung, mit zunehmendem Lebensalter anatomisch-physiologische Veränderungen, die ebenfalls eine gestörte Blasenfunktion bewirken können (z. B. Detrusorhyperaktivität, infravesikale Obstruk tion, OAB). Oft entstehen diese Veränderungen schleichend und/oder sind kompensiert, sodass sie von den Betroffenen oft nicht realisiert werden. Bei einem akuten neurologischen Ereignis kann es zu einer Dekompensation der primär urologischen Störung kommen. Zahlreiche Störungen (z. B. Harninkontinenz nach zerebralem Insult) sind von passagerer Dauer5, 2. Ohne adäquate Betreuung werden Patienten mitunter auf ein unnötiges, aber lebenslang aufrecht erhaltenes Behandlungsregime (z. B. transurethraler Katheterismus) eingestellt.
In der ambulanten Versorgung werden die stationär indizierten Behandlungsmaßnahmen selten erneuert und nicht wiederholt auf ihre Indikation überprüft. Weitere Einschränkungen der Lebensqualität und möglicherweise nicht unerhebliche Folgekosten für das erforderliche Komplikationsmanagement können entstehen. In einer repräsentativen Patientengruppe einer neurologischen Rehabilitationsklinik in Nordbayern wurde die Häufigkeit urologischer Symptome und Funktionsstörungen bestimmt. Bei allen 225 konsekutiv über einen Zeitraum von sechs Monaten stationär aufgenommenen Patienten erfolgte eine Befragung nach relevanten urologischen Symptomen durch einen erfahrenen Neuro-Urologen. Zusätzlich wurden Barthel-Index, IPSS und ein einfacher Lebensqualitätsscore erhoben. Zur weiteren Analyse erfolgte eine Erhebung über Indikation, Häufigkeit und Qualität einer gegebenenfalls vorangegangenen Behandlung urologischer Symptome in der zuweisenden Institution. Eine Bewertung der Versorgung urologischer Symptome in der vorbehandelnden Einrichtung konnte bei insgesamt 190 Patienten (84,4 %) dokumentiert werden: In 105 Fällen (55,3 %) wurde sie als ausreichend oder wegen fehlender urologischer Symptome für nicht erforderlich und in 85 Fällen (44,7 %) als nicht ausreichend eingeschätzt.
65 % mit relevanter urologische Symptomatik: Bei der Aufnahme in die Rehabilitationsklinik wurde bei 78 Fällen (35,1 %) keine urologische Symptomatik festgestellt. 144 Patienten (64,9 %) boten eine relevante urologische Symptomatik (Abb.). Die Befunde wurden mittels standardisiertem Erhebungsbogen dokumentiert und urologische Behandlungsempfehlungen schriftlich an den behandelnden Stationsarzt weitergeleitet. Zur Erfassung der Umsetzung und Effektivität der urologischen Konsilempfehlungen im Rahmen der klinischen Routine erfolgte mindestens eine Verlaufsuntersuchung. Es konnte gezeigt werden, dass Patienten mit urologischer Symptomatik ohne regelrechte (Vor-)Behandlung signifikant an Lebensqualität verlieren, sowohl bei ärztlicher als auch bei subjektiver Bewertung. Die Gesamtmorbidität der Patienten mit urologischer Begleitsymptomatik erwies sich in dieser Arbeit als deutlich schlechter bezüglich Barthel-Index, IPSS und der dort abgefragten Bewertung der Lebensqualität. Durch eine kontinuierliche neurourologisch qualifizierte Betreuung konnten Defizite aus einer nichtadäquaten Vorbehandlung urologischer Symptome im Rahmen der Therapie gegenüber den Patienten mit regelrechter Vorbehandlung ausgeglichen werden.
Folgen der suboptimalen Behandlungsumsetzung: Die Umsetzung urologisch empfohlener Behandlungsmaßnahmen durch das Team der neurologischen Klinik konnte bei 114/120 (95,0 %) Patienten beurteilt werden. 47 Mal (41,2 %) wurden sie vollständig, bei 41 Patienten (36,0 %) teilweise (wenigstens eine Maßnahme von durchschnittlich vier Empfehlungen) umgesetzt. Nicht umgesetzt waren sie in 26 Fällen (22,8 %). Durch eine suboptimale Umsetzung absolut indizierter Behandlungsmaßnahmen entstehen nicht nur Verzögerungen der Behandlung mit potenzieller Beeinträchtigung der Lebensqualität des Patienten, sondern auch vermeidbare Risiken (z. B. nosokomiale Infektionen durch prolongierte Behandlung mit transurethralen Dauerkathetern und Sepsisrisiko6. Unweigerlich verbunden sind damit weitere vermeidbare Kosten, z. B. für die Vorstellung eines Patienten zur „urologischen Verlaufsbeurteilung“, ohne dass die dafür erforderlichen Grundlagen geschaffen wurden, aber auch für ein notwendiges Komplikationsmanagement.
Unterschätzte urologische Funktionsstörungen: Unsere Ergebnisse bestätigen, dass die Bedeutung urologischer Funktionsstörungen auf neurologischem Fachgebiet unterschätzt wird. Die Behandlung ist selten kausal orientiert und beschränkt sich im „Akutbereich“ weitgehend auf symptomatische Maßnahmen. Durch die alleinige Betreuung Betroffener durch den Neurologen kann die urologisch adäquate Versorgung in der Regel nicht sichergestellt werden. In zu geringem Umfang wird die absolute Indikation einer urologischen Konsildiagnostik und -therapie gestellt. Wir konnten zeigen, dass es durch eine qualifizierte Mitbehandlung urologischer Symptome im Rahmen einer stationären neurologischen Rehabilitation gelingt, nicht nur eine relevante urologische Symptomverbesserung, sondern auch eine Verbesserung des Gesamtzustandes zu erreichen. Bei der Aufnahme in die Rehabilitation bestand zwischen urologisch symptomfreien und regelrecht vorbehandelten Patienten hinsichtlich ihrer Alltagsfähigkeiten (gemessen mit dem Barthel-Index) statistisch kein Unterschied. Im Vergleich dazu waren die Alltagsfähigkeiten der nicht (ausreichend) Vorbehandelten statistisch signifikant schlechter. Durch die urologische Mitbehandlung konnte die Differenz am Ende der Rehabilitation nahezu vollständig ausgeglichen werden. Dabei ist zu betonen, dass die vorhandene Infrastruktur lediglich eine urologische Basisdiagnostik (urologische Anamnese, Inspektion, körperliche Untersuchung, Basislabor, Uro-Sonographie (ohne TRUS) und Uroflowmetrie) ermöglicht hat. Sicherlich ließe sich durch eine an die urologischen Bedürfnisse der Patienten angepasste personelle und apparative urologische Infrastruktur eine noch weitere Verbesserung der Therapieergebnisse erreichen. Dabei sollten auch wirtschaftliche Aspekte einer optimierten Behandlung (z. B. verkürzte Liegedauer transurethraler Dauerkatheter6) nicht außer Acht gelassen werden.
Neurourologischer Konsildienst: Die Einführung eines qualifizierten und erfahrenen neurourologischen Konsildienstes in neurologischen (Reha-)Kliniken sowie die sorgfältige Kontrolle der Einhaltung standardisierter Vorgehensweisen für Routineprozeduren sollte intensiv diskutiert werden. Dabei genügt es bei Weitem nicht, schriftliche Qualitätsleitfäden zu erarbeiten. Die effektive Umsetzung in der Routine muss sich als Conditio sine qua non etablieren. Dadurch können neben einer zielführenden Optimierung der Behandlungs-, Betreuungs- und Lebensqualität vor allem auch wirtschaftliche Abläufe besser realisiert werden.
Take Home Message Um das bestmögliche Rehabilitationspotenzial neurologisch kranker Menschen zu sichern, sollte begleitend grundsätzlich eine qualifizierte neurourologische Diagnostik und ggf. Therapie angestrebt werden.
1 Milsom I et al., BJU-Int 2001; 87:760–766
2 Patel M et al., Stroke 2001; 32:122–127
3 Chancellor MB, Blaivas JG (Eds.), Practical Neuro-Urology. Genitourinary complications in neurologic disease. Butterworth-Heinemann 1995, ISBN 0-7506-9556-0
4 Fowler CJ (Ed.) Neurology of Bladder, Bowel, and Sexual Dysfunction. Butterworth-Heinemann 1999, ISBN 0-7506-9959-0
5 Brittain KR et al., Stroke 2000; 31:886–891
6 Zellner M, UroNews 2001; Sonderheft 1:30–35