Prostatakarzinom-Guidelines und ihre Wertigkeit für die Urologie in der Praxis

Jährlich erkranken etwa 58.000 Männer alleine in Deutschland und etwa 4.900 Männer in Österreich neu am Prostatakarzinom (PCa)1–2. Für die Diagnostik und Therapie fassen die Richtlinien des Leitlinienprogramms Onkologie der AWMW, der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. und der Deutschen Krebshilfe e.V. unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) sowie der Europäischen Gesellschaft für Urologie (EAU) die Datengrundlage zusammen und stellen eine wertvolle Entscheidungshilfe dar3–5. Die Empfehlungen werden nach Graden geordnet (Grad A: Soll-, Grad B: Sollte-, Grad C: Kann- Empfehlung, Grad ST: Statement).

Was empfehlen die EAU- und DGU-Richtlinien?

Screening und Biopsie: Wen, wann und wie? Beide Richtlinien stellen dar, dass ein PCa-Screening nach aktueller Datenlage die karzinomspezifische Mortalität gering, aber die Gesamtmortalität nicht signifikant senken kann. Die beiden Richtlinien empfehlen ein Screening mit Serum-PSA-Bestimmung ab dem 40. Lebensjahr und bei Patienten mit einer Lebenserwartung von mindestens 10 Jahren bis zum 75. Lebensjahr (Empfehlungsgrad S3: A, EAU: B). Der Patient soll auch über das Risiko der Überdiagnostik und Übertherapie informiert werden (S3: A). Im Falle einer suspekten digital-rektalen Untersuchung (DRU) oder eines erhöhten PSA-Wertes soll eine Prostatabiopsie durchgeführt werden (S3: A, EAU: B). Die DGU empfiehlt eine Prostatabiopsie bei PSA > 4 ng/ml bei der erstmaligen Früherkennungskonsultation, suspekter DRU, auffälliger PSA-Dynamik (S3: A). Die Prostatabiopsie soll transrektal sonographiegesteuert und unter Antibiotikaprophylaxe durchgeführt werden (S3: A, EAU: B). Beide Richtlinien empfehlen 10–12 Stanzen (S3: A, EAU: B). Zur Schmerzlinderung soll eine lokale infiltrative Anästhesie durchgeführt werden (S3: ST, EAU: A). Die DGU empfiehlt bei ausgedehnter High-Grade-PIN (Nachweis in mindestens 4 Gewebeproben), Atypical Small Acinar Proliferation (ASAP) und suspektem PSA-Wert bzw. PSA-Verlauf eine erneute Biopsie nach sechs Monaten (S3: A, EAU: B).

Active Surveillance und Watchful Waiting: Patienten mit einem lokal begrenzten PCa, die für eine kurative Behandlung in Frage kommen, sollen über Active Surveillance informiert werden (S3: A, EAU: B). Folgende Einschlusskriterien werden von der DGU für die Active Surveillance empfohlen: PSA-Wert ≤ 10 ng/ml; Gleason-Score ≤ 6; cT1c und cT2a; Tumor in ≤ 2 Stanzen; ≤ 50 % Tumor pro Stanze (S3: A, EAU: B). Der Patient soll aber neben den Vorteilen dieser Strategie auch über das Fehlen der Langzeitdaten informiert werden (S3: A, EAU: B). Entscheiden sich Patient und Arzt gegen eine Therapie mit kurativem Ansatz, soll der Patient über Watchful Waiting mit symptomabhängiger palliativer Intervention und eine sofortige hormonablative Therapie aufgeklärt werden (S3: A). Entscheidet sich der Patient gegen eine sofortige hormonablative Therapie, soll bei symptomatischer progredienter Erkrankung in Abhängigkeit von Beschwerden und/oder auf Wunsch behandelt werden (Watchful Waiting).

Perkutane Strahlentherapie

Lokal begrenztes Prostata-Ca: Die perkutane Strahlentherapie stellt nach den Richtlinien eine primäre Therapieoption beim lokal begrenzten PCa aller Risikogruppen dar (S3: ST, EAU: B). Patienten aller Risikogruppen mit einem lokal begrenzten Prostatakarzinom sollten mit 74 Gy bis < 80 Gy bestrahlt werden (S3: B). Es ist derzeit noch unklar, ob Patienten mit mittlerem Risikoprofil von einer zusätzlichen hormonablativen Therapie profitieren. Bei Patienten mit hohem Risikoprofil hingegen wird mit einer neo- und/oder adjuvanten hormonablativen Therapie eine Verbesserung des Gesamtüberlebens erreicht und soll daher empfohlen werden (S3: A, EAU: A). Ob die Bestrahlung der pelvinen Lymphabflusswege zusätzlich zur Prostatabestrahlung bei Patienten mit lokal begrenztem PCa des mittleren und hohen Risikoprofils Vorteile bringt, ist derzeit noch offen (S3: ST).

Lokal fortgeschrittenes PCa: Die perkutane Strahlentherapie in Kombination mit einer hormonablativen Therapie ist eine primäre Therapieoption für Patienten mit lokal fortgeschrittenem PCa (S3: ST, EAU: A).

Radikale Prostatektomie

Lokal begrenztes PCa: Die radikale Prostatektomie stellt eine primäre Therapieoption für Patienten mit klinisch lokal begrenztem PCa aller Risikogruppen dar (S3: ST, EAU: A) und sollte besonders bei Patienten eingesetzt werden, bei denen eine R0-Resektion erreicht werden kann (S3: B, EAU: A). Der Patient soll über die Möglichkeit und Grenzen einer potenzerhaltenden radikalen Prostatektomie aufgeklärt werden (S3: ST, EAU: A).

Lokal fortgeschrittenes PCa: Die radikale Prostatektomie stellt für das lokal fortgeschrittene Prostatakarzinom eine primäre Therapieoption dar (S3: ST, EAU: C). Patienten mit einem erhöhten Risikoprofil sollen über das Risiko positiver Resektionsränder und häufig resultierender zusätzlicher notwendiger Maßnahmen (perkutane Strahlentherapie, hormon­ablative Therapie etc.) informiert werden (S3: A, EAU: C).

Hormontherapie

Patienten mit lokal begrenztem PCa, welche eine kurative Therapie ablehnen, kann nach ausführlicher Aufklärung eine palliative hormonablative Therapie angeboten werden (S3: C, EAU: C). Patienten mit einem lokal fortgeschrittenen PCa kann eine hormonablative Therapie mittels bilateraler Orchiektomie, LHRH-Analogon, GnRH-Blocker oder mit Antiandrogen angeboten werden (S3: C). Die hormonablative Therapie ist beim PSA-Rezidiv oder bei PSA-Progression keine Standardtherapie (S3: ST). Patienten mit symptomatischem metastasiertem Prostatakarzinom soll eine medikamentöse oder operative Androgendeprivation empfohlen werden (S3: A, EAU: A), während sie asymptomatischen Patienten angeboten werden kann (S3: C). Folgende Punkte sollen mit dem Patienten besprochen werden: 1. der palliative Charakter der Therapie; 2. Einfluss auf die Lebensqualität; 3. unerwünschte Wirkungen der Androgendeprivation; 4. die Verlängerung des progressionsfreien Überlebens; 5. fragliche Verlängerung des Gesamtüberlebens (S3: A).

Kastrationsrefraktäres PCa: Das kastrationsrefraktäre PCa wird von den Richtlinien wie folgt definiert: Serumtestosteronspiegel im Kastrationsniveau (Testosteron < 50 ng/dl oder 2 ng/ml, Antiandrogenentzug (4 Wochen Flutamid, 6 Wochen für Bicalutamid), PSA-Progression trotz konsekutiver hormoneller Manipulation. Patienten mit symptomatischer progredienter Erkrankung unter medikamentöser Kastration und in gutem Allgemeinzustand soll als Erstlinientherapie die Gabe einer zytostatischen Therapie mit Docetaxel 75 mg/m2 Körperoberfläche alle drei Wochen in Kombination mit Prednisolon 5 mg zweimal täglich angeboten werden (S3: A, EAU: A). Patienten mit progredienter Erkrankung nach/unter Chemotherapie und ECOG-Status 0–1 sollen über die Möglichkeit einer Zweitlinientherapie mit Cabazitaxel informiert werden (S3: A, EAU: A). Bei Progression unter Docetaxel soll Abirateron (Androgenbiosyntheseinhibitor – CYP-17-Inhibitor) verabreicht werden (S3: A, EAU: A). Auf eine Anwendung von Abirateron auch bei chemonaiven Patienten und ein weiteres Präparat vor der Zulassung (MDV3100) wird hingewiesen.

Therapie der Knochenmetastasen: Zur Vorbeugung und Reduktion von Komplikationen bei Knochenmetastasen im kastrationsresistenten Stadium soll als Bisphosphonat Zoledronsäure oder der monoklonale Antikörper Denosumab angeboten und der Patient über Nutzen und Schaden aufgeklärt werden (S3: ST, EAU: A). Bei Knochenmetastasen mit Risiko einer spinalen Kompression oder einer Fraktur sowie lokalisierten Knochenschmerzen soll eine perkutane Bestrahlung unter Fortführung der systemischen Therapie empfohlen werden (S3: A, EAU: B).

Was bedeuten diese Empfehlungen für unsere tägliche Arbeit?

Es ist bisher unklar, inwiefern Leitlinien eine Rolle für die Arbeit in der täglichen Praxis haben. Rezente Arbeiten zeigen, dass sich Urologen in Spanien und Italien nur gering an die Leitlinien des Prostata-Ca halten6–7. Dabei können die Leitlinien die Behandlungsqualität erhöhen. Die Leitlinien haben zwar keine bindende Wirkung, stellen aber eine umfassende und stringente Zusammenfassung der Evidenz dar und bieten somit bei den meisten Fragestellungen und Entscheidungen eine wichtige Stütze. Schlussendlich muss aber jeder Arzt nach eigener Beurteilung beraten und behandeln. Leitlinien sind eine wertvolle Ergänzung des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrung und sollten Einzug in den praktischen Alltag finden.

 

1 Gesundheit Statistik Austria, aufgerufen am 06. 08. 2012

2 Robert Koch Institut (RKI), Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland (GEKID). Krebs in Deutschland 2003–2004. Häufigkeiten und Trends. 6th ed., Berlin 2008.

3 Leitlinienprogramm Onkologie, S3-Leitlinie Prostatakarzinom, Version 2.0, 1. Aktualisierung Sep 2011

4 Heidenreich A et al., Eur Urol 2011; 59(1):61–71.

5 Mottet N et al., Eur Urol 2011; 59(4):572–83.

6 Alcaraz A et al., BJU Int 2011; 108(1):61–6. Epub 2011 Jan 11.

7 Simonato A et al., Adv Urol 2012; 2012:651061. Epub 2012 May 15.