Die erschreckende Bilanz des Ausbruchs: 3.052 EHEC-Infizierte, 852 Patienten mit HUS und mindestens 54 Tote. Somit bestand die größte Häufung des HUS, welches erstmals 1955 von Gasser et al. beschrieben wurde.1 Nicht nur die Zahl der Erkrankten, sondern auch die besondere Schwere der Erkrankung stellte für alle Beteiligten, von Robert-Koch-Institut (RKI) bis Mikrobiologie, von Notaufnahme bis Krankenhaushygiene, insbesondere aber für viele Bereiche der inneren Medizin und Neurologie eine noch nie dagewesene Herausforderung dar. Durch die hohe Leistungsbereitschaft aller Beteiligten, die Anwendung flexibler und unkonventioneller Lösungen sowie durch die Bereitschaft, über Grenzen der Fachdisziplinen, Bundesländer und Krankenhausstruk – turen hinaus zur handeln, hat die deutsche Medizin mit der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) als Lotse diese Herausforderung vorbildlich gemeistert.
Neben der bekannten Trias des HUS, bestehend aus Hämolyse, Thrombopenie und akuter Nierenschädigung, präsentierte sich mehr als die Hälfte der Patienten mit einer neurologischen und psychiatrischen Symptomatik. Unruhe, heftigste Kopfschmerzen, Angstzustände, Agitiertheit, Konzentrationsstörungen und Wortfindungs- und Sehstörungen sowie Apraxie waren häufig Vorboten eines Zustandes, der teilweise in Stupor oder zerebrale Krampfanfälle mündete. Bemerkenswert war das Fehlen eindeutiger Korrelate im CT/MRT. Im Gegensetz zur thrombozytisch-thrombopenischen Purpura (TTP) waren viele Fälle zu beobachten, in denen die neurologische Symptomatik nach Besserung der Hämolyse auftrat. Eine temporäre Dialysepflichtigkeit kam laut Interims- Auswertung des EHEC-HUS-Registers der DGfN bei ca. zwei Drittel aller Patienten vor. Knapp ein Viertel der HUS-Patienten waren beatmungspflichtig. Neben den zerebralen Krampfanfällen und der Abwesenheit von Schutzreflexen war die Intubation häufig auch aufgrund des ausgeprägten Kapillarlecks der Patienten mit einer resultierenden respiratorischen Verschlechterung notwendig.
Die befürchtete Welle an Todesfällen und dauerhaft dialysepflichtigen Patienten blieb aus. Dies war nicht nur Glück, sondern Ergebnis eines hochleistungsfähigen Gesundheitssystems. Inwieweit spezifische Therapien zu diesem guten Verlauf beitrugen, bleibt bisher unklar.
Plasmapherese: Während bei Kindern mit HUS aggressives Volumenmanagement allein zur Therapie des HUS ausreicht2, fühlte man sich durch einige wenige Studien dazu ermutigt, beim Erwachsenen mit HUS einen Plasmaaustausch durchzuführen. Ca. 90 % der HUS-Patienten erhielten laut EHEC-HUS-Register der DGfN eine Plasmapheresetherapie. Eine wissenschaftlich fundierte Basis hierfür fehlte. Die Autoren der größten Arbeit, in der der Effekt der Plasmapherese bei 22 (!) Patienten untersucht wurde, enden mit der Bemerkung, dass Plasmapherese „promising“ vielversprechend sei.3 Auch eine Metaanalyse der wenigen Daten stellt die Sinnhaftigkeit der Plasmapherese in Frage.4 Dennoch wurde die Plamapherese nicht nur 2010 in den Amerikanischen Apherese Guidelines (halbherzig) empfohlen5, sondern auch von der DGfN zur HUS-Therapie. War dies gerechtfertigt? Vielleicht nicht – aber wer sich von Mai bis Juli 2011 in Kiel, Lübeck, Hamburg oder Hannover aufgehalten hat, kann ahnen, warum dieses Verfahren trotz fehlender randomisierter kontrollierter Studien eingesetzt wurde. Aufgrund des fast flächendeckenden Einsatzes der Plasmapherese in der Krise bei knapp 90 % aller HUSPatienten wird es schwer werden, die Rolle der Plasmapherese bei EHEC-assoziiertem HUS abschließend zu klären.
Eculizumab: Mitten in der Krise, am 25. Mai 2011, erfolgte die Publikation eines Berichts von der erfolgreichen Behandlung dreier Kinder mit schweren neurologischen Symptomen bei HUS mit dem Antikörper Eculizumab. Dieses Medikament, welches in das Komplementsystem eingreift, war bereits für die nächtliche paroxysmale Hämoglobinurie zugelassen und ist es mittlerweile auch für das atypische, nicht EHEC-assoziierte, HUS. Gedacht als „Reservemedikament“ für HUSPatienten, die sich unter Plasmapheresetherapie nicht besserten, erhielt dann wohl doch ein Drittel aller HUS-Patienten die Therapie mit diesem Medikament. Möglich wurde dies nur dadurch, dass die produzierende Firma (Alexion) das sonst mehrere Tausend Euro kostende Medikament kostenfrei zur Verfügung stellte – ein Vorgehen, welches Alexion ein philanthropisches Image und eine schnelle Erhebung potenziell zulassungsrelevanter Daten einbrachte. Die Medienpräsenz des „Wundermittels“ führte auch dazu, dass EHEC-Patienten, die nicht an HUS litten, oder deren Angehörige nach Eculizumab verlangten. Welchen Effekt die Therapie hatte, lässt sich noch nicht sicher sagen.
Antibiotika: Einen möglichen Nebeneffekt von Eculizumab, die erhöhte Gefahr einer Meningokokkenmeningitis, versuchte man durch die Gabe von Azithromycin zu vermeiden – ein Antibiotikum, das aber viel mehr zu leisten vermag, als man bisher annahm. Die Gabe von Antibiotika bei EHEC ist verpönt, da man hierdurch eine vermehrte Freisetzung von Shigatoxin befürchtet. Eindeutig belegt ist der klinische relevante Nachteil einer Antibiotikatherapie jedoch bisher nicht. Eines der ersten publizierten Ergebnisse aus der Krise ist die Tatsache, dass Antibiotika wie Azithromycin zumindest beim Ausbruchsstamm des Jahres 2011 keine vermehrte Freisetzung von Shigatoxin auslösen.6 Dies erklärt auch, dass die Verwendung von Azithromycin mit einer deutlich reduzierten Dauer der Nachweisbarkeit von O104:H4 im Stuhl von EHEC-Patienten assoziiert ist.7
Es bleibt zunächst ein Gefühl der Dankbarkeit für die große Teamleistung bei der Bewältigung der Krise. Für viele Patienten bleibt zum Glück wohl auch nur die Erinnerung an eine bedrohliche Zeit, in der sie aus voller Gesundheit heraus schwer krank wurden. Gut zwei Wochen lagen die Patienten mit HUS im Krankenhaus, viele auf der Intensivstation. Die meisten Patienten haben ihre Nierenfunktion nach gut einer Woche Dialysepflichtigkeit wieder erlangt und sind nicht mehr dialysepflichtig. Es ist jedoch davon auszugehen, dass ca. ein Dutzend Patienten in ganz Deutschland dauerhaft dialysepflichtig bleiben werden. Auch die teils schweren neurologischen und psychiatrischen Probleme waren bereits bei Entlassung häufig wieder verschwunden. Wir wissen jedoch, dass Patienten mit einem akuten Nierenversagen ein deutlich erhöhtes Risiko haben, später eine chronische Niereninsuffizienz bis hin zur Dialysepflichtigkeit zu erleiden. Einige Patienten werden auch Hilfe bei der Verarbeitung des Erlebten brauchen. Eine längerfristige ambulante Betreuung dieser Patienten ist also erforderlich. Für mindestens 54 Patienten, einige von ihnen bereits vorher chronisch krank und im fortgeschrittenen Lebensalter, andere jedoch jung und bis zur EHEC-Erkrankung gesund, endete die EHEC-Epidemie tödlich. Warum dies so war, gilt es zu ergründen. Es bleibt auch zu klären, warum die Krankenhäuser die Kosten zur intensiven Notfallbehandlung der vielen Hundert Patienten, die sich im zweistelligen Millionenbereich bewegen, selbst tragen müssen. Eine HUS-Krise sollte nicht weniger wichtig als eine Bankenkrise sein!
Vor uns liegt noch die abschließende Analyse der in der Krise gesammelten Daten, die rückblickende Wertung der Therapiestrategien und der Organisationsstrukturen sowie eine offene von partei- und standespolitischen Querelen freie Diskussion, an deren Ende eine Verbesserung der Strukturen auf Bundes- und Landesebene, eine Optimierung der Diagnose und Therapie der Erkrankung sowie die Identifizierung künftiger Forschungsschwerpunkte stehen sollte. Die ersten Schritte hierzu sind getan8, die Wegstrecke, die vor uns liegt, ist jedoch noch lang.
1 Gasser C., Gautier E., Steck A., Siebenmann R.E., Oechslin R.: Hemolytic-uremic syndrome: bilateral necrosis of the renal cortex in acute acquired hemolytic anemia. Schweiz Med Wochenschr 1955; 85:905-909
2 Hickey C.A., Beattie T.J., Cowieson J. et al.: Early volume expansion during diarrhea and relative nephroprotection during subsequent hemolytic uremic syndrome. Arch Pediatr Adolesc Med 2011; 165:884-889
3 Dundas S., Murphy J., Soutar R.L., Jones G.A., Hutchinson S.J., Todd W.T.: Effectiveness of therapeutic plasma exchange in the 1996 Lanarkshire Escherichia coli O157:H7 outbreak. Lancet 1999; 354:1327-1330
4 Michael M., Elliott E.J., Craig J.C., Ridley G., Hodson E.M.: Interventions for hemolytic uremic syndrome and thrombotic thrombocytopenic purpura: a systematic review of randomized controlled trials. Am J Kidney Dis 2009; 53:259-272
5 Szczepiorkowski Z.M., Winters J.L., Bandarenko N. et al.: Guidelines on the use of therapeutic apheresis in clinical practice – evidence-based approach from the Apheresis Applications Committee of the American Society for Apheresis. J Clin Apher 2010; 25:83-177
6 Bielaszewska M., Idelevich E.A., Zhang W. et al.: Epidemic Escherichia coli O104:H4: Effects of antibiotics on Shiga toxin 2 production and bacteriophage induction. Antimicrob Agents Chemother 2012
7 Nitschke M., Sayk F., Hartel C. et al.: Association between azithromycin therapy and duration of bacterial shedding among patients with Shiga toxin-producing enteroaggregative Escherichia coli O104:H4. JAMA 2012; 307:1046-1052 8 Experiences from the Shiga toxin-producing Escherichia coli O104:H4 outbreak in Germany and research needs in the field, Berlin, 28.–29. November 2011. Euro Surveill 2012; 17 (7)