Allerdings entsprach unser Wissen über dieses Antibiotikum noch vor kurzem dem Wissensstand von 1950, einer Zeit, in der Medikamente nicht ausreichend getestet wurden. Um die heutige klinische Anwendung von Colistin auf eine rationale Basis zu stellen, werden grundlegende Studien ohne Beteiligung der Pharmaindustrie nachgeholt und der Wissensnotstand mit modernen Methoden behoben.
Colistin (= Polymyxin E) ist eine Lipopeptidmischung mit Colistin A und B als Hauptkomponenten, die die Integrität der bakteriellen Zellmembran zerstört und somit konzentrationsabhängig gramnegative Bakterien schnell abtötet. Colistin wird typischerweise bei schweren Infektionen durch multiresistente Pseudomonas oder Acinetobacter, aber auch Enterobakterien (z. B. Klebsiella, E. coli) eingesetzt, die gegenüber allen üblichen Antibiotika resistent sind. Trotz guter Empfindlichkeit bei herkömmlicher MHK-Testung sind häufig einzelne Colistin-resistente Zellen vorhanden (Heteroresistenz), die zu resistenten Populationen anwachsen können. Extrem hohe Konzentrationen wären notwendig, um dies zu verhindern. Daher wird derzeit von einer Monotherapie mit Colistin abgeraten und optimale Kombinationspartner ermittelt.
Colistin steht als Colistinsulfat für die enterale und topische Anwendung sowie als Prodrug Colistinmethansulfonat (CMS) für die parenterale und auch inhalative Therapie in Österreich zur Verfügung. Antibakteriell inaktives, aber weniger toxisches CMS wird in vivo in aktives Colistin umgewandelt. Colistin-Präparate, Formulierungen und Dosierungsangaben unterscheiden sich weltweit je nach Hersteller. Diese Unterschiede stiften Verwirrung, wenn die internationale Literatur oder unterschiedliche Hersteller herangezogen und verglichen werden. Die Angaben beziehen sich entweder auf CMS, Colistinsulfat (für In-vitro-Testung verwendet) oder Colistin (Base) und sind in mg (US, Australien) oder internationalen Einheiten (IE) (Europa) als biologische Einheit angegeben. 1 mg CMS entspricht ca. 12.500 IE. 3 Millionen IE entsprechen somit 240 mg CMS und ca. 90 mg Colistin. Angaben in mg Colistin (Base) sind irreführend, da die in vivo Umwandlung von CMS zu Colistin (Base) von vielen Faktoren abhängt und kaum vorhergesagt werden kann.
Erst die Entwicklung sensitiver chromatografischer Analysemethoden ermöglichte die Erarbeitung von pharmakokinetischen Daten, die zwischen inaktivem CMS und aktivem Colistin unterscheiden können. Nach Verabreichung von parenteralem CMS beginnt die unvollständige Umwandlung von CMS in Colistin (ca. 30 %), die durch die vorwiegend renale Eliminierung von CMS mit kurzer Halbwertszeit limitiert ist. Umgewandeltes Colistin wird nicht-renal mit langer Halbwertszeit ausgeschieden. Diese komplexen pharmakokinetischen Interaktionen zwischen CMS und Colistin erschweren die Bestimmung der richtigen Dosierung, die stark von der Nierenfunktion abhängt. Eine zusätzliche Herausforderung ist die beträchtliche konzentrationsabhängige Bindung von Colistin an Akute-Phase-Plasmaproteine (Alpha-1 Acid Glycoprotein) sowie verschiedene Zellbestandteile und somit die Bestimmung von ungebundenen Colistin-Konzentrationen. Erst kürzlich wurde eine grundlegende pharmakokinetische Studie veröffentlicht, die einer Phase-I-Studie der Medikamentenentwicklung entspricht (W. Couet et al., 2011). Immer klarer wird die Tatsache, dass die ursprünglichen Dosierungsangaben der Fachinformation veraltet sind.
Die Verbindung von Pharmakokinetik und Pharmakodynamik (PK/PD) und besonders die Korrelation zum klinischen Erfolg erfordert neue Studien. Um dieses Gebiet voranzutreiben und die optimale Dosierung von Colistin zu charakterisieren, wird derzeit das vom 7. Rahmenprogramm der EU geförderte Projekt AIDA (Preserving Old Antibiotics For The Future, www.aida-project.eu) durchgeführt. Die bisher größte multizentrische, randomisierte, klinische Studie mit pharmakokinetischen und integrierten In-vitro- und In-vivo-PK/PD-Analysen wird unser Wissen um dieses „vergessene“ Antibiotikum bereichern.
Bis die Ergebnisse des AIDA-Projekts und anderer Studien vorliegen, muss mit vorläufigen Informationen gearbeitet werden. Garonzik et al. publizierten Dosierungsvorschläge für Intensivpatienten mit unterschiedlicher Nierenfunktion in Abhängigkeit von der In-vitro-Empfindlichkeit des Erregers, dem Infektionsort und der Schwere der Infektion. Zusammenfassend gelten folgende Prinzipien: Da erst nach einigen Tagen ausreichende Konzentrationen von aktivem Colistin im Blut erreicht werden, ist eine hohe Initialdosis notwendig (Tagesdosis in einer Gabe). Bei reduzierter Nierenfunktion sinkt die renale Clearance von CMS und mehr Colistin wird gebildet. Die Anpassung der Erhaltungsdosis an die Nierenfunktion ist daher wichtig. Nach derzeitigem Wissensstand führt bei normalgewichtigen Erwachsenen mit normaler Nierenfunktion eine Initialdosis von 6–9 Mio. IE, gefolgt nach 12–24 Stunden von Erhaltungsdosen 3 x 2–3 Mio. IE zu ausreichenden Konzentrationen. Derzeit wird in PK/PD-Simulationen im Rahmen des AIDA-Projektes geklärt, ob die Erhaltungsdosierung nach 12 oder 24 Stunden beginnen und 2 x 4,5 Mio. IE betragen sollte. Ein wichtiger Faktor bei der Dosierungsentscheidung ist das Risiko von nephrotoxischen Wirkungen.
Die konzentrationsabhängige Toxizität limitiert die optimale Dosishöhe. Neuere Studien bestätigen Nephrotoxizität (akute tubuläre Nekrose) und Neurotoxizität als wichtigste Nebenwirkungen, wenngleich in geringerem Ausmaß als ursprünglich angenommen. Eine Therapiedauer von über 14 Tagen und Kombination mit Aminoglykosiden erhöht das Risiko für Nephrotoxizität deutlich. Warum einige Patienten überhöhte Konzentrationen von Colistin im Blut aufweisen, die über die erklärbare hohe Variabilität in Intensivpatienten hinausgeht, ist noch nicht bekannt. Neurotoxische Wirkungen (z. B. Parästhesien, Sehstörungen, Ataxie, neuromuskuläre Blockade) treten weit seltener auf und sind ebenfalls abhängig von der Therapiedauer.
Colistin als Inhalation ist bei Patienten mit zystischer Fibrose (CF) erprobt. Ob die Ergebnisse auch für andere Indikationen und Patientengruppen gelten, ist ungewiss. Kleine Studien bei Non-CF-Bronchiektasien sowie bei Beatmungspneumonie, verursacht durch multiresistente gramnegative Bakterien, besonders Pseudomonas und Acinetobacter, zeigten einen positiven klinischen Effekt. Größere randomisierte Studien wären notwendig, um zu klären, ob die Dosierung von 2 x 1–2 Mio. IE ausreicht und welche intravenösen Antibiotika die Therapie optimal ergänzen. Pharmakokinetische Studien bei Intensivpatienten, die die Konzentrationen im Alveolarfilm, aber auch systemische Konzentrationen untersuchen, werden dringend benötigt.