Wir Mediziner lernten in unserer Ausbildung bisher üblicherweise, wie Krankheiten richtig diagnostiziert werden und welche Therapieoptionen für deren Heilung oder Linderung zur Verfügung stehen.
Speziell in der Notfallmedizin müssen Ärzte in der Lage sein, in kürzester Zeit Situationen richtig einzuschätzen und ohne Verzug die nötigen Gegenmaßnahmen einzuleiten. Umso mehr frustriert es uns, wenn – wie oft im Falle von älteren, multimorbiden Menschen – die Probleme des Patienten nicht in den so mühsam erarbeiteten Horizont unserer Kenntnisse passen wollen.
Schon heute stellen ältere Menschen den Großteil der Patienten in Notfallaufnahmen. So waren an der Zentralen Notfallaufnahme (ZNA) des Klinikums Klagenfurt im Jahr 2011 von den 35.718 ambulant internistisch vorgestellten Patienten 10.603 (30 %) älter als 65 Jahre und 2.776 (8 %) älter als 85 Jahre. Von den 18.303 über die ZNA aufgenommenen Patienten aller Abteilungen waren 9.931 (54 %) älter als 65 Jahre und 2.517 (14 %) sogar älter als 85 Jahre. Außerdem waren 31 % aller an der Intensivstation aufgenommen Patienten 75 Jahre oder älter.
Wenn wir also vom geriatrischen Patienten in der Notfallaufnahme sprechen, so handelt es sich dabei nicht um ein Thema der Zukunft, sondern um eine bereits seit langem existierende klinische Realität. Weiters kommt es zu einer zunehmenden Konzentrierung geriatrischer Patienten bei steigender Intensität der medizinischen Betreuung.
Geriatrische Patienten sind definiert durch höheres Lebensalter (≥ 70 a ) und Multimorbidität oder durch ein Lebensalter über 80 a.
Das heißt, nicht jeder ältere Patient bedarf einer umfassenden geriatrischen Betreuung, allerdings muss bei ausnahmslos jedem Patienten in fortgeschrittenem Alter die Therapie den altersspezifischen Bedürfnissen angepasst und auf die Vermeidung altersspezifischer Komplikationen (wie zum Beispiel dem Verlust von Mobilität und Selbstständigkeit oder der Bildung chronischer Ulzera) in jedem Fall geachtet werden. Daraus ergibt sich die Forderung zunehmender Schulung aller Ärzte bezüglich der Problematik des älteren Patienten.
Symptome oft unspezifisch: Geriatrische Patienten weisen, trotz schwerer Erkrankung, oft nur unspezifische Beschwerden auf. So verlaufen schwere Infektionen in 30 % ohne Fieber, oft findet man keinen Husten bei Atemwegs- oder fehlende Dysurie bei Harnwegsinfekten. Auch Pneumonien sind, speziell bei exsikkotischen Patienten, häufig im Röntgen nicht nachweisbar.
Stattdessen findet man häufig unspezifische Symptomkomplexe wie Verschlechterung des funktionellen Status („AZ-Verschlechterung“), Verwirrtheit oder Nahrungsverweigerung, Sturz, Synkopen oder allgemeine Schwäche.
Das heißt, der Arzt bewegt sich also auf sehr glattem Parkett und läuft aufgrund atypischer oder fehlender Klinik, schwieriger oder mangelnder Anamneseerhebung bei gleichzeitiger Fülle gesundheitsrelevanter Daten Gefahr, verhängnisvollen Irrtümern zu erliegen. Speziell unter Zeitdruck, im Notfallsetting einer ZNA, ist dieses Risiko besonders hoch.
Die üblichen Triagemodelle in Notfallaufnahmen berücksichtigen die Problematik des geriatrischen Patienten nur ungenügend, und es besteht aufgrund atypischer Symptomatik und milden Verlaufs die Gefahr, die Problematik zu unterschätzen, zumal oft auch die Zuweisungsdiagnosen sehr unspezifisch gehalten sind (z. B. AZ-Verschlechterung).
Intervention und Assessment: Aufgrund der eingangs erwähnten großen Zahl älterer Patienten in der Notfallaufnahme ist es natürlich undenkbar und auch nicht sinnvoll, all diese einer umfassenden geriatrischen Intervention inklusive geriatrischen Assessments zuzuführen.
Es bedarf also vielmehr eines Instruments zur Identifizierung der Patienten, die von einer geriatrischen Intervention profitieren könnten und demzufolge möglichst rasch einer solchen zugeführt werden sollten.
Als geeignetste Maßnahme wurde die Anwendung von Screeninginstrumenten erachtet, mittels derer jene Patienten identifiziert werden können, die in der Folge einem geriatrischem Assessment zugeführt werden sollen.
Der diesbezüglich am besten validierte Screening-Test ist der kanadische ISAR-Test (Identification of Seniors At Risk), der mittels 6 einfacher Fragen, die vom Patienten oder Angehörigen mit Ja oder Nein beantwortet werden können, die wesentlichen Problembereiche geriatrischer Patienten erfasst. Falls 2 dieser Fragen mit Ja beantwortet werden, sollte der Patient einem geriatrischen Assessment zugeführt werden.1
Wie bereits ausgeführt, kommt es im Alter gehäuft zu oligosymptomatischen Krankheitsverläufen. Eine plötzliche Verschlechterung des Funktionsstatus, wie auch der Verlust von Selbstständigkeit oder Mobilität, ist oft das einzige Zeichen einer zugrunde liegenden schweren Erkrankung und sollte daher immer diesbezüglich abgeklärt werden.
Weitere klinische Warnsymptome bei älteren Patienten sind:
Ein Problem bei der Mehrzahl der geriatrischen Patienten ist die Polypharmazie. So wurde in einer Erhebung im Jahr 2008 bei fast 60 % älterer, stationär aufgenommener Patienten eine Polypharmakotherapie von mehr als 6 Medikamenten festgestellt.2 Laut dem deutschen GEK-Arzneimittel-Report 2006 erhielten 35 % der Männer und 40 % der Frauen über 65 a sogar 9 oder mehr Wirkstoffe in Dauertherapie – und das, obwohl Multimedikation von mehr als 5 Arzneimitteln ein unabhängiger Risikofaktor ist.3
Wenig wundert es also, dass 10 % der Krankenhausaufnahmen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen sind.2 Polymedikation erhöht auch das Risiko für Arzneimittelinteraktionen, so kann man ab 8 Wirkstoffen von einer hundertprozentigen Wahrscheinlichkeit von relevanten Interaktionen ausgehen, wodurch die Wirkung bestimmter Wirkstoffe erhöht oder vermindert werden kann.
Notfallsituation Delir: Auch das beim geriatrischen Patienten häufige Delir kann medikamentös bedingt sein und stellt eine Notfallsituation dar, die oft nicht erkannt wird, obwohl sie meist gut behandelbar ist und mittels CAM-Score ein valides Screeningtool zur Verfügung steht.4 Ein weiterer durch Medikamente verursachter, potenziell lebensbedrohlicher Notfall ist das Serotoninsyndrom.5 Die wichtigsten Verursacher sind SSRI und einige andere Antidepressiva, Opiatanalgetika und bestimmte Antikonvulsiva.
Verschreibepraxis optimieren: Eine sinnvolle Verschreibepraxis beim geriatrischen Patienten erfordert zunächst eine Gewichtung der gesundheitlichen Probleme des Patienten sowie die klare Definition der Therapieziele, die Kenntnis von Verschreibungsrichtlinien wie zum Beispiel MAI-Index (Regeln für den angemessenen Einsatz von Medikamenten, siehe Abb.) und Priscus-Liste (eine Liste von im Alter potenziell problematischen Wirkstoffen, unter www.priscus.net) sind dabei eine wertvolle Hilfe.
CONCLUSIO: Ein Großteil der Patienten in Notaufnahmen sind ältere Menschen, von denen viele von einer umfassenden geriatrischen Intervention profitieren könnten.
Geriatrische Patienten sind durch Alter und Multimorbidität definiert, Krankheitsverläufe bei diesen Patienten sind oft oligosymptomatisch und atypisch, häufig findet man anstelle von genau definierten Akuterkrankungen komplexe geriatrische Symptomkomplexe.
Mittels spezieller Screeningtests können diese „geriatrischen Patienten“ identifiziert werden und sollten dann frühestmöglich einer umfassenden geriatrischen Intervention inklusive geriatrischen Assessments zugeführt werden.
Angesichts der demografischen Entwicklung muss es jedoch klar sein, dass auch in Zukunft nicht jeder ältere Mensch geriatrisch betreut werden wird können, vielmehr muss es die Pflicht aller beteiligten Ärzte sein, sich mit der Problematik des Alters auseinanderzusetzen.
Dabei gibt das zunehmende Interesse am österreichischen Geriatrie-Diplom durchaus Anlass zu vorsichtigem Optimismus.