Die Arzneimitteltherapie im höheren und hohen Lebensalter steht unter anderen Vorzeichen als bei jüngeren Patienten. Exemplarisch für die Vielzahl von Unterschieden seien die Veränderungen in der Pharmakokinetik und -dynamik im Alter genannt: Resorptionsstörungen, Verschiebung der Kompartimente hin zu mehr Fettgewebe, verminderter Phase-I- und -II-Metabolismus sowie Einschränkung der Nierenfunktion führen einerseits zu deutlich längeren Halbwertszeiten, und die altersbedingten Veränderungen an den Endorganen resultieren andererseits in unerwarteten Wirkungen von Arzneimitteln. So ist beispielsweise im Alter die kardiovaskuläre Katecholaminsensitivität und Barorezeptoraktivität herabgesetzt, was zu vermehrten Orthostasereaktionen führt, insbesondere beim Gebrauch von Nitraten und zentralen Alphablockern. Durch diese Veränderungen sind alte Menschen 2-3-mal vulnerabler für unerwünschte Arzneimittelereignisse. Dies rechtfertigt einen zurückhaltenden und vorsichtigen Umgang mit Medikamenten.
In praxi ist jedoch eher das Gegenteil der Fall: Alte Menschen sind die Hauptkonsumenten von Arzneimitteln. Die Parallelverordnung von 8, 10 oder 15 Medikamenten ist bei älteren internistischen Patienten keine Seltenheit. Diese Polypharmakotherapie führt zu unkalkulierbaren Interaktionen (Drug-Drug und Drug-Disease) und erhöht das
Risiko für Medikationsfehler (z. B. falsche Dosis, falsche Einnahme, altersinappropriate Medikamente, Undertreatment) eklatant.
Da stellen sich im Einzelfall gleich mehrere Fragen: Welche Medikamente sind denn wirklich wichtig und nützlich für einen 90-jährigen Patienten? Was ist die richtige Dosis bei einer eingeschränkten Nierenfunktion und bei niedrigem Körpergewicht? Wie ist die richtige Behandlungsdauer? Wie gefährlich ist das Medikament im hohen Alter?
Leider geben nur wenige Studien auf diese Fragen Antwort. Die Kardiologie bzw. die Hypertensiologie stehen dabei noch vergleichsweise gut da: mit PROSPER (Hyperlipidämie), SHEP und HYVET (Hypertonie), TIME (KHK) oder PARTNER (Aortenstenose) gibt es dankenswerterweise mehrere Studien, die speziell auf den alten Patienten fokussieren. Für die allermeisten kontrollierten Studien in der Medizin gilt jedoch: Polymorbide alte Patienten werden entweder gar nicht eingeschlossen oder sind stark unterrepräsentiert. Daher sollte man generell sehr vorsichtig sein mit der 1:1-Übertragung von Studienergebnissen auf ältere Patienten!
Aber warum sollten Therapien, die beim 60-Jährigen funktionieren, nicht auch beim 90-Jährigen gut sein? Bekanntlich steigt ja ein Therapieeffekt mit dem vorliegenden Grundrisiko an. So hat ein 85-Jähriger mit Bluthochdruck ein höheres 5-Jahres-Risiko für Schlaganfall, Herzinsuffizienz und Tod als ein 60-Jähriger. Entsprechend führt die Blutdrucksenkung beim Hochbetagten auch zu rasch messbaren und relativ großen Effekten. Andererseits macht eine Hyperlipidämie-Therapie zur Primärprophylaxe einer KHK oder ein allgemeines Prostatakrebs-Screening im höheren Lebensalter kaum Sinn, weil die Betroffenen den Effekt der Maßnahme sehr wahrscheinlich gar nicht mehr erleben. Daher sollten im hohen Lebensalter nur Therapien eingesetzt werden, die zu zeitnahen Effekten führen.
Hochdrucktherapie, orale Antikoagulation bei Vorhofflimmern, Schrittmacher- oder Herzklappenimplantationen sind solche Therapien, die rasch wirksam sind und daher trotz vieler Bedenken und Einschränkungen gerade beim betagten Patienten umgesetzt werden sollten. Dabei sollte jedoch der alte Leitspruch: “Start low, go slow, but go” unbedingt beherzigt und gegebenenfalls noch ergänzt werden um “Be always alert”.
Dieses “Stets auf der Hut sein” umfasst ein regelmäßiges Review der Medikationslisten im Sinne einer Checkliste und bei bestimmten Medikamenten wie Diuretika, Antithrombotika, Antiarrhythmika, aber auch Psychopharmaka und Analgetika ein regelmäßiges Therapiemonitoring (z. B. Na, K, Kreatinin, Blutbild, EKG).
Schließlich muss geklärt werden, was zu tun ist, wenn ein alter Patient 10 oder mehr
verschiedene Medikamente einnimmt und womöglich alle evidenzbasiert sind (“thoughtfull polypharmacy”). Dann sollte im Sinne der Arzneimittelsicherheit und mit Hilfe des Patienten priorisiert werden mit dem Ziel, am Ende nicht mehr als 8 oder 10 Arzneimittel einzunehmen. Die behandelnden Ärzte müssen dabei gemeinsam mit den Patienten herausfinden, welche Therapie wirklich wichtig ist und auf welche man ggf. verzichten könnte. Am Ende eines solchen Prozesses kann dann schon einmal stehen, dass die Arthritis- und Herzinsuffizienzbehandlung dem Patienten viel wichtiger ist als die Prophylaxe einer KHK mit Statin oder einer Gicht mit Allopurinol.
“To do”-Liste: Für die Zukunft wünscht man sich in Anbetracht der zunehmenden Problematik eine verbindliche Beteiligung alter Patienten in den Prozess der Arzneimittelentwicklung und -prüfung (Phase-II/IV-Studien). Weiters sollten die Fachgesellschaften in ihren Empfehlungen und Leitlinien stets ein Kapitel für den alten Patienten einfügen. Das Arzneimittelreview muss weiter entwickelt, gelernt und vergütet werden. Dabei ist die Integration von klinisch geschulten Apothekern und noch zu entwickelnder Software zu befürworten. Und schließlich sollte das Phänomen “Polypharmakotherapie” in die Diagnosenliste mit aufgenommen werden, um eine Handlung anzustoßen.