Schulschwänzen, Compliance und Gesundheitsziele – eine sommerlich zufällige Aneinanderreihung von Themen, die weiter keinen markanten Zusammenhang haben? Beiläufig ist die Aufzählung keineswegs, findet Dr. Lothar Fiedler, Obmann der Fachgruppe Innere Medizin in der Österreichischen Ärztekammer. Schulschwänzen ist ein Beispiel für mangelnde Compliance in der Schule und gefährdet wie in der Medizin wichtige Lebensziele. Beide, Patienten wie Schülerinnen und Schüler, müssen auch das Ihre dazu tun, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Eine Binsenwahrheit. „Aber ich frage mich, wann Politik und Gesellschaft bereit sein werden, das den Menschen ehrlich zu vermitteln und notfalls auch mit geeigneten Maßnahmen durchzusetzen“, sagt Fiedler dazu.
Eben hat sich Österreich Gesundheitsziele gesetzt, mit deren Hilfe erreicht werden soll, dass die Österreicherinnen und Österreich zwei Jahre länger als bisher gesünder leben werden können. Diese Ziele reichen im Einzelnen von gesundheitsfördernden Lebens- und Arbeitsbedingungen bis zu einer qualitativ hoch stehenden und effizienten Gesundheitsversorgung. Ein Fachgremium soll bis Ende des Jahres geeignete Maßnahmen ausarbeiten. Auf die Details und deren Umsetzungskraft, so Fiedler, kann man gespannt sein. Denn im ärztlichen Alltag stehen viele Mediziner vor Problemen, die mit noch mehr ärztlicher Kunst oder mit noch mehr Medikamenten allein nicht zu lösen sind.
Auch wenn manche Untersuchungen das zu suggerieren scheinen. Wie eben eine Studie, gesponsert von Pharmaindustrie und Wirtschaftskammer, die Österreichs Gesundheitssystem hohen Mitteleinsatz, aber nur eine mäßige Performance zuschrieb. Die Niederlande auf dem Spitzenplatz, Österreich mit besonders enttäuschenden Werten bei Diabetes und koronarer Herzkrankheit nur auf Platz 10 von 17 verglichenen EU-Ländern. Man rät zur „besseren Ressourcennutzung“ und dazu – erraten! –, die freiwerdenden Mittel in „innovative Lösungen“ zu investieren. Ein Schelm, der dabei an den breiten Einsatz von neuen teuren Medikamenten mit relativ geringen Vorteilen gegenüber gängigen Therapien denkt. „Medikamente allein können das nicht lösen“, stellt Fiedler klar. Auch wenn neue Therapien gegenüber Standardtherapien „aggressiv“ beworben würden, Stichwort neue Antikoagulantien. Fiedler vermisst demgegenüber unabhängige Studien über soziale und demografische Determinanten bei wichtigen Krankheitsbildern und deren Therapie. Für ihn wäre das eine Aufgabe der öffentlichen Hand.
Denn wer ist schuld, wenn es da und dort Defizite gibt? „Nur die Ärzte oder ist es nicht auch oft eine Frage der Compliance?“, fragt Fiedler. Und hier ist man beim Punkt angemessener Lebensstil, den bisher weder Politik noch Gesellschaft wirklich aufgreifen wollten. „Bei uns fehlt das öffentliche Bewusstsein dafür“, hält Fiedler fest. Ganz anders als beispielsweise in Finnland, wo vor rund 30 Jahren Herzkrankheiten ein eklatantes Problem waren. Durch eine nationale Kraftanstrengung mit Verbesserung der Ernährung und des Lebensstils samt weit reichenden Maßnahmen für das tägliche Leben der Bevölkerung konnten die Ergebnisse spektakulär verbessert werden. Unsere Ärzte, so Fiedler, geben Verhaltensratschläge ebenso an ihre Patienten weiter wie die skandinavischen Kollegen, aber das Engagement der Politik hielt sich bisher in Grenzen. „Es braucht einen öffentlichen Auftrag dafür, der dann für die Menschen auch mit spürbaren Auswirkungen verbunden ist“, verlangt Fiedler. Reduktion des Körpergewichts eines Patienten etwa: „Das können die Ärzte alleine nicht schaffen!“
Ein Blick in die Schulen zeigt, wo die Probleme lauern. In jeder Klasse gibt es mehrere schwer übergewichtige Kinder. Vor 20 oder 30 Jahren waren solche Schüler noch Ausnahmen. Viele Lehrer geraten selbst in ein Burnout, weil sie wenig Möglichkeiten sehen, die Kinder entsprechend ihrer Verantwortung zu beeinflussen, nicht nur in puncto Lebensstil. Das viele Schulschwänzen ist nur ein Symptom, zeigt aber ein grundlegendes Defizit. „Wir haben gesetzliche Schulpflicht, und es wird lang diskutiert, ob es Sanktionen geben darf, die durchzusetzen“, wundert sich Fiedler. Das bisherige Tolerieren sei keine gute Richtschnur für die spätere Lebensgestaltung. Der Staat müsse sich besinnen, so Fiedler, dass er den Menschen gegenüber auch Verantwortung in der Vermittlung der Haltung zur Gesundheit habe. „Doch dazu brauchen wir Politiker mit Vorbildcharakter! Ich bin kein leidenschaftlicher Revolutionär und hoffe auf die Verantwortung und Courage unserer Justiz, sonst wird es zumindest eine zivile Revolution geben müssen!“
Dr. Lothar Fiedler: „Der Staat muss sich auf seine Verantwortung besinnen.“