Die neuen ESC- und ACC/AHA-Guidelines: Das Management arterieller Hypertonie

Trotz vieler effektiver, sicherer und kostengünstiger antihypertensiver Präparate stellt die flächendeckende Blutdruckkontrolle eine Herausforderung dar. So erreichen in Österreich nur 41 % der diagnostizierten, behandelten und überwiegend therapietreuen Patienten das Blutdruckziel.1
Die kürzlich veröffentlichten neuen Leitlinien der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft (präsentiert beim diesjährigen ESC-Kongress, 26. August 2018) und die Ende 2017 publizierten Leitlinien des American College of Cardiology (ACC) bzw. der American Heart Association (AHA) beinhalten teils kontrovers diskutierte Neurungen hinsichtlich Diagnostik und Therapie.2, 3 Nachfolgend sollen einige praxisrelevante Teilaspekte dieser Leitlinien beleuchtet werden.

Blutdruckgrenzwerte – „A never ending story“

Praxis-Blutdruckmessung: Die im November 2017 veröffentlichten ACC/AHA-Leitlinien brachten durch eine Reklassifizierung der Blutdruckgrenzwerte einmal mehr Dynamik in die Diskussion um Diagnosekriterien und Therapieziele.
Diese Empfehlungen basieren auf einer Reihe von Meta-Analysen, in welchen normotensive Patienten (< 120/80 mmHg) und Patienten mit hochnormalem Blutdruck (120–29 mmHg systolisch, 80–84 mmHg diastolisch) oder „Prä-Hypertonie“ (130–139 mmHg systolisch, 85–89 mmHg diastolisch) verglichen wurden: Patienten mit Prä-Hypertonie wiesen gegenüber normotensiven Patienten ein etwa 1,5- bis 2-fach erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Myokardinfarkt, koronare Herzerkrankung, Insult) auf.4–6 Somit ist in den aktuellen ACC/AHA-Leitlinien ein erstgradiger Hypertonus mit systolischen/diastolischen Blutdruckwerten zwischen 130 und 139 bzw. 80 und 89 mmHg definiert (Tab. 1).2

 

 

Die ESC-Leitlinien definieren arterielle Hypertonie anhand jenem Grenzwert, ab welchem die Vorteile einer Therapie den potenziellen Schaden eindeutig überwiegen.3 Obwohl zahlreiche epidemiologische oder auch großangelegte prospektiv randomisierte Studien die Korrelation zwischen systolischen Blutdruckwerten > 115 mmHg und kardiovaskulären Ereignissen belegen, führen Interventionen zur Blutdrucksenkung in diesen Patienten mit „hochnormalem“ Blutdruck nicht eindeutig zu einer Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen.7–9 So war etwa auch im rezent veröffentlichten HOPE-3-Trial (n = 12.705), welches Patienten mit moderatem kardiovaskulärem Risiko rekrutierte, eine systolische Blutdrucksenkung von 6 mmHg bei einem Ausgangswert von 138,1 mmHg nicht mit einer signifikanten Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse assoziiert.7 Weiters sei erwähnt, dass in mehreren „positiven“ randomisierten Studien (so auch im SPRINT-Trial) Patienten mit hochnormalen Blutdruckwerten bereits unter antihypertensiver Pharmakotherapie standen, d. h. unbe­handelt anzunehmenderweise Blutdruckwerte > 140/80 mmHg aufwiesen.10, 11
Welche Grenzwert-Klassifikation man in seiner klinischen Routine auch einsetzen möchte, beide Leitlinien halten fest, dass zur Diagnosesicherung mittels Praxis-Messung der Blutdruck bei zumindest 2 verschiedenen Arztbesuchen erhöht sein muss und dass mehrmals pro Arztbesuch gemessen werden sollte (ESC: 3 Messungen; ACC/AHA ≥= 2 Messungen pro Arztbesuch).2, 3

„Out-of-Office“-Blutdruckmessung

In den europäischen Leitlinien blieben die Grenzwerte für die Heimblutdruckmessung und 24-Stunden-Blutdruckmessung unverändert (135/85 mmHg Heimblutdruck und 24-Stunden-Tagesintervall, 130/80 mmHg 24-Stunden-Gesamtdurchschnitt, 120/70 mmHg 24-Stunden-Nachtintervall).
Die amerikanischen Leitlinien nennen zu erwartende Vergleichswerte für die Heim- und die 24-Stunden-Blutdruckmessung korrespondierend zum Praxisblutdruck. Korrespondierend zu einem Praxis-Blutdruck von 130/80 mmHg sind idente Werte für die Heimblutdruckmessung und das 24-Stunden-Tagesintervall angegeben (die Differenz zwischen den Messmethoden wird erst im höheren Blutdruckbereich relevant12). Die entsprechenden Grenzwerte für 24-Stunden-Gesamtdurchschnitt und 24-Stunden-Nachtintervall sind mit 125/­75 mmHg und 110/65 mmHg genannt.2
Während die europäischen Leitlinien „Out-of-Office“-Messungen dann empfehlen. wenn diese „logistisch und ökonomisch“ sinnvoll erscheinen, oder wenn spezifische klinische Situationen vorliegen (Verdacht auf Weißkittelhypertonie, maskierte Hypertonie, Beurteilung von Behandlungseffekten und Nebenwirkungen), ist die „Out-of-Office“-Messung in den amerikanischen Leitlinien zur Diagnosesicherung und Therapieanpassung routinemäßig empfohlen (Empfehlungsgrad IA).2, 3

Therapieziele

Beide Leitlinien halten fest, dass der Nettonutzen einer antihypertensiven Therapie nicht nur vom Blutdruck abhängt, sondern maßgeblich vom kardiovaskulären Gesamtrisiko des Patienten mitbestimmt ist. Daran orientiert sich auch die Indikation zur Einleitung einer medikamentösen Therapie (stets begleitet von Maßnahmen zur Lebensstilmodifikation), wie in Tabelle 2 (ESC-Leitlinien) und Tabelle 3 (ACC/AHA-Leitlinien) dargestellt.2, 3
Die ACC/AHA-Leitlinien definieren entsprechend der Reklassifikation der Hypertonie ersten Grades für die allermeisten Subgruppen ein Therapieziel von < 130 mmHg systolisch und < 80 mmHg diastolisch. Dazu zählen Patienten mit ischämischer Herzerkrankung, Herzinsuffizienz, chronischer Nieren­insuffizienz, Insult oder TIA (Sekundärprävention, Empfehlungsgrad IIb), PAVK, Diabetes mellitus und selbstbestimmte nichtinstitutionalisierte ältere Patienten = 65 Jahre (systolisch < 130 mmHg).2
Die ESC-Leitlinien empfehlen eine Blutdrucksenkung < 140 mmHg systolisch und < 90 mmHg diastolisch für alle Patienten, und sofern die Therapie gut vertragen wird, ein Therapieziel von 130/80 mmHg oder darunter.
Wie in Tabelle 4 dargestellt, sind für einzelne Subgruppen unterschiedliche Therapieziele mit teils eng begrenzten Optimalwerten genannt.3
Diese Empfehlungen basieren auf der SPRINT-Studie und rezenten Meta-Analysen randomisierter Studien, welche intensive vs. weniger intensive Therapiestrategien oder unterschiedliche Blutdruckziele verglichen haben.10, 11, 13 So lässt sich aus einer großen Meta-Analyse von 123 Studien (n = 613.815) eine 20-prozentige Reduktion schwerer kardiovaskulärer Ereignisse pro 10 mmHg systolischer Blutdrucksenkung ableiten. Dieser Trend war auch im niedrigen Blutdruckbereich < 130 mmHg signifikant.11

Neue Therapieziele zugunsten von Industrie und Ärzteschaft?

Mit den nun niedrigeren Therapiezielen wurde vor allem in Laienmedien die Frage aufgeworfen, ob diese industriegetrieben oder wirtschaftlich motiviert seien. Es gaben 3 der 21 ACC/AHA-Guideline-Autoren und 24 der 28 ESC-Guideline-Autoren relevante Interessenkonflikte an. In Bezug auf die rezenten ACC/AHA- und ESC-Leitlinien zum Management von arterieller Hypertonie sei Folgendes erwähnt:
Jene rezenten Metaanalysen und die SPRINT-Studie, welche die Leitlinien maßgeblich beeinflusst haben, wurden von Entitäten finanziert, die nicht von erhöhten Gesundheitsausgaben profitieren (u. A. National Heart, Lung and Blood Institute, USA; Ministry of Health of Italy, Italien; National Institute of Health Research, Großbritannien).10, 11, 13, 14
Die in den Studien verwendeten Prüfsubstanzen sind fast ausschließlich generisch verfügbar. Für die Industrie weniger günstige Empfehlungen werden medial selten transportiert. Als Beispiel sei genannt, dass die ESC-Leitlinien device-basierte Therapien (renale Denervation, Barorezeptorstimulation) in der Routineanwendung auf eine Klasse-III-Indikation (nicht empfohlen) herabgestuft haben.3

Therapieeinleitung mit 1 vs. 2 Substanzen

Beide Leitlinien empfehlen in unterschiedlicher Formulierung, die antihypertensive Therapie mit einer Kombination, bestehend aus zwei Erstliniensubstanzen, zu initiieren. Ausgenommen sind Patienten mit gering erhöhten Blutdruckwerten (ESC: < 150 mmHg systolisch; ACC/AHA: < 20/10 mmHg über dem Blutdruckziel). Die ESC-Leitlinien nehmen zusätzlich ältere, gebrechliche Patienten und jene mit geringem Risiko aus und betonen, dass Kombinationspräparaten gegenüber einer Einzelverschreibung der Vorzug zu geben ist.2, 3

Zusammenfassung

In beiden Leitlinien ist der Trend zu niedrigeren Blutdruckzielen evident, ein Umstand, der dem SPRINT-Trial und rezenten Meta-Analysen randomisierter Studien zuzuschreiben ist.10, 11, 13, 14
Nichtsdestotrotz erreichen nur 13 % aller an Hypertonie erkrankten Personen das Blutdruckziel, da die Diagnose nur bei jedem zweiten Betroffenen gestellt ist und in den meisten Ländern nur etwa 35 % aller Behandelten kontrollierte Blutdruckwerte < 140/90 mmHg aufweisen.15 Somit erübrigt sich für die überwiegende Mehrheit aller Patienten die Diskussion um Zielwerte zwischen 120 und 130 mmHg systolisch.
Erfreulicherweise beinhalten beide Leitlinien Strategien, um therapeutische Hürden zu überwinden. Eine aus ärztlicher Sicht sehr effiziente, wenig zeitintensive Maßnahme zur Steigerung der Adhärenz ist, simple Therapiestrategien einzusetzen. Dazu zählen die Vermeidung einer 2-mal täglichen Dosierung (bei fast allen Erstliniensubstanzen aus pharmakokinetischer Sicht unnötig) und die Verwendung von Kombinationspräparaten.2, 3

1 Rohla M et al., J Hypertens 2016; 34(7):1432–40
2 Whelton PK et al., J Am Coll Cardiol 2018; 71(19):e127–e248
3 Williams B et al, Eur Heart J 2018; 39(33):3021–3104
4 Huang Y et al, Neurology 2014; 82(13):1153–61
5 Huang Y et al., J Am Heart Assoc 2015; 4(2): DOI: 10.1161/JAHA.114.001519
6 Huang Y et al., Am Heart J 2014; 167(2):160-8 e1
7 Lonn EM et al., N Engl J Med 2016; 374(21):2009–20
8 Brunstrom M et al., JAMA Intern Med 2018; 178(1):28–36
9 Lewington S et al., Lancet 2002; 360(9349):1903–13
10 Wright JT, Jr. et al., N Engl J Med 2015; 373(22):2103–16
11 Ettehad D et al., Lancet 2016; 387(10022):957–67
12 Asayama K et al., Hypertension 2014; 64(5):935–42
13 Bundy JD et al., JAMA Cardiol 2017; 2(7):775–81
14 Thomopoulos C et al., J Hypertens 2016; 34(4):613–22
15 Chow CK et al., JAMA 2013; 310(9):959–68