Aus buddhistischer Sicht ist es neben der Linderung körperlicher und psychischer Beschwerden eine wesentliche Aufgabe von Ärzten, das Vertrauen der Patienten in deren Geist zu stärken. Das bedeutet, auch Schwerkranken dabei zu helfen, sich nicht von der Krankheit vereinnahmen zu lassen.
Die buddhistische Lehre geht davon aus, dass im Fall nur mehr schwer kontrollierbarer körperlicher Symptome der Geist als Rückzugsort dienen kann. Betrachtet man den menschlichen Körper, so ist er von Geburt an bis zum Tod einem ständigen Wandel unterworfen und somit ein Repräsentant von Vergänglichkeit. Der Körper gilt als Lehrer der Unbeständigkeit. Dazu der indische Meister Shantideva: „Am Ende wird mein Körper wieder Staub. Unfähig, sich selbst zu bewegen, werden andere Kräfte ihn antreiben. Wieso halte ich diese zerbrechliche und kurzlebige Gestalt für mein Ich?“1 Die Annahme von einem eigenen Selbst, das von anderen getrennt existiert, gilt im Buddhismus als fundamentaler Irrtum. Wesentlich ist, nicht nur für uns selbst, sondern für alle Wesen zu sorgen. Der Beziehung zwischen Ärzten und Patienten wird große Bedeutung beigemessen. Dazu zählen Liebe, Verständnis und Mitgefühl wie auch die Bereitschaft, anderen Lebewesen zu helfen. Menschen mit einer nicht heilbaren, progredienten Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung brauchen Zuwendung auf mehreren Ebenen. Ein französisches Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert fasst die Aufgaben eines Arztes zusammen: „Guérir – quelquefois, soulager – souvent, consoler – toujours (Heilen – manchmal, lindern – oft, trösten – immer),“2 Wenn mehr medizinische und therapeutische Möglichkeiten in den Hintergrund rücken, tritt die menschliche Zuwendung in den Vordergrund. Cicely Saunders, die neben Elisabeth Kübler-Ross als Begründerin der modernen Hospizbewegung und Palliative Care gilt, betont den Grundsatz „high person, low technology“. Das medizinisch mit viel technischem Aufwand Machbare tritt in der Palliative Care in den Hintergrund. Ein würdevoller Umgang mit chronisch, schwer Kranken und sterbenden Menschen beinhaltet auch, das bevorstehende Lebensende nicht auszublenden. Vorausgesetzt, die Patienten sind bereit, sich darüber auszutauschen. Die buddhistische Philosophie betrachtet den Tod als selbstverständliches Element unseres Daseins. Der Sterbeprozess als körperliches Geschehen eröffnet ihrer Ansicht nach immer noch die Möglichkeit, den Geist vorzubereiten und zu schulen. Meditationspraktiken oder das Rezitieren von Mantras fördern einen klaren Geist und unterstützen dabei, schlechtes Handeln und Denken zu vermeiden. Der Tod repräsentiert in größtem Maße die dem Menschen innewohnende Angst eines Kontrollverlustes. Der Körper ist am Ende des Lebens zumeist nicht steuerbar, der Geist kann es bis zuletzt bleiben. Dazu der buddhistische Lehrer Chökyi Nyima Rinpoche: „Der Geist der gewöhnlichen Menschen ist ständig mit den acht weltlichen Belangen beschäftigt: Verlangen nach Vergnügen, Lob, gutem Ruf, materiellem Gewinn und Abneigung gegen das Gegenteil. Dann gibt es die Sorge und den Schmerz, das zu verlieren, was wir haben, und nicht zu bekommen, was wir uns wünschen. Kurz, die meisten Menschen, die keine Praktizierenden sind, verbringen ihr Leben mit weltlichen Zielsetzungen; sie denken an sich selbst, kümmern sich um ihre Freunde und bekämpfen ihre Feinde.“3 Fraglich ist, warum der berufliche medizinische Alltag eine geistige Auseinandersetzung mit dem Tod eher verdeckt als fördert: „Der Tod hat einen Januskopf, er blickt nicht nur ins Diesseits und Jenseits, sondern er ist auch die Schwelle, da Leiderfahrung und Glückseligkeit, da Starre und lebendiges Leben ineinander übergehen. So nimmt die Frage nach dem Sinn des Todes seit ältesten Zeiten einen breiten Raum im Denken der Menschen ein. Auch unsere Zeit kann an der Frage nicht vorübergehen, zu deutlich tritt der Tod uns täglich gegenüber; ja, sogar auf dem Weg über die Fernsehschirme tritt er allabendlich in unser Bewußtsein. Doch kaum eine andere Zeit sah den Tod so sehr eindimensional wie die unsrige. Der Tod ist für viele nur mehr das sinnlose Ende eines sinnentleerten Lebens; er ist nur mehr der dunkle, der nehmende, der hinraffende Sensenmann. Als wir im Westen begannen, den Tod seines Sinnes, den er durch Religion und Mythen erhielt, zu entkleiden, war der zweite Schritt, nämlich die totale Profanierung des gesamten Menschenlebens, nur eine Frage der Jahrzehnte. Wir können dem Tod keinen Sinn mehr geben, wir sehen in ihm nur mehr das Versagen gewisser Organfunktionen. Der Tod wurde zu einem physiologischen Zustand des Körpers. Doch diese Idee befriedigt so wenig, daß wir mit aller Anstrengung bemüht sind, dem Tod erst gar nicht ins Auge schauen zu müssen. Wir sperren die Kranken und Sterbenden in leere Kammern, die mit Apparaturen angefüllt sind, und berauben sie dessen, wonach sie am meisten verlangen, der menschlichen Nähe.“4
Das Ende des Lebens ist etwas derart Persönliches, dass die Wissenschaft davon irritiert ist. Wie auch soll mit etwas umgegangen werden, das niemand „erleben“ kann, ohne selbst dabei zu sterben? Durch die intensive Beziehung, die das Personal auf Palliativstationen zu Patienten aufbauen kann, könnte der Buddhismus für Mitarbeiter als Inspiration dienen. Außer Stande zu sein, Patienten eine kurative Therapie anzubieten, mag zu einem distanzierten Verhalten führen. Hier kann der Buddhismus hilfreich sein, indem er die Wichtigkeit der Verwendung von Mitgefühl und Weisheit betont. Im Gegensatz zum allgemeinen Glauben besagt die Erfahrung aus der alltäglichen Arbeit auf Palliativstationen, dass sich Patienten nach einem Gespräch über das Lebensende erleichtert fühlen. Für manche ist es eine Entlastung, einer Situation offen zu begegnen, anstatt sie zu vermeiden. Joshua et al. untersuchten die Schmerzwahrnehmung in einer Gruppe von geschulten Zen-Meditierenden: Zen-Meditation wurde mit einer geringeren Schmerzempfindlichkeit assoziiert. Ein hoch wirksames endogenes Opioid-Systems mit β-Endorphin-Produktion sowie eine Reduzierung des Kortisolspiegels könnte eine mögliche Erklärung bieten.5 Im Kontakt mit Patienten, die an lebensbedrohlichen Krankheiten leiden, fließen deren persönliche Empfindungen in einem großen Ausmaß in die Betreuung ein. Bestimmte Elemente des Buddhismus könnten hilfreich auf Palliativstationen sein, ohne unbedingt zu erwähnen, dass sie buddhistisch wären. Beispiele hierfür sind die Ausrichtung auf das Hier und Jetzt, die Kenntnis über die Vergänglichkeit aller Dinge (wozu auch unangenehme Symptome zählen) oder in der Begegnung mit Patienten mitfühlend präsent zu sein. Buddhistische Praxis kann dazu beitragen, Leid zu vermeiden, aber auch dabei unterstützen, das menschliche Dasein als leidvoll anzuerkennen. Dies kann besonders bei unheilbaren Erkrankungen als mentale Stütze dienen. Die Aufrechterhaltung eines starken und klaren Verstandes kann im Rahmen eines sich verschlechternden Gesundheitszustandes erschwert sein. Schmerz, Angst oder Unsicherheit führen zu großem Stress. Deshalb ist es laut buddhistischer Lehre hilfreich, den eigenen Geist vorzubereiten. Patienten wird es auf diese Weise möglich, sich auf sich selbst zu konzentrieren und so unabhängiger von äußeren Einflüssen zu werden. Im Falle von unheilbaren Erkrankungen werden das Lebensende sowie die eigene Intimität in die Hände von medizinischem Personal gelegt. Würde man die buddhistische Lehre und ihre Praxis nützen, bliebe eine individuelle und autonome Möglichkeit der Zuwendung bestehen. Der Umgang mit Leid ist das gemeinsame Element von Buddhismus und Palliative Care. Es ist ein Ziel der buddhistischen Praxis, alle fühlenden Wesen vom Leiden zu befreien, so wie es ein medizinisches Ziel der Palliative Care ist, Leiden zu lindern.
FACT-BOX
Palliative Care und buddhistische Philosophie berühren sich in elementarer Weise. Wenn die buddhistische Lehre die Vergänglichkeit aller Lebewesen zum zentralen Thema hat, so ist die palliative Versorgung mit der individuellen Vergänglichkeit des einzelnen Patienten befasst. Insbesondere im Falle unheilbarer Erkrankungen ist die Behandlung von Patienten neben der medizinischen Symptomkontrolle um mitfühlende Zuwendung erweitert. Palliative Care kann hier im Rückgriff auf die buddhistische Philosophie Nutzen für die täglichen Herausforderungen ziehen.
1 Baker I.A.: Das große Buch der tibetischen Heilkunst. Lübbe, 1999; S. 55
2 http://www.medizin-ethik.ch/publik/arzt_sterben.htm
3 Chökyi Nyima Rinpoche: Das Bardo-Buch. Ein Führer durch Leben, Tod und Wiedergeburt. Otto Wilhelm Barth Verlag, 1998; 40
4 Dargyay E.: Das Tibetische Buch der Toten. Otto Wilhelm Barth Verlag, 1977/2004; 22-23
5 Grant J.A., Rainville P., Psychosom Med 2009; 71 (1):106-14