UNIVERSUM INNERE MEDIZIN: In den Zeitraum seit der letzten Konsensus-Fassung 2007 fällt die intensive Suche nach neuen Parametern zur besseren Vorhersage des individuellen Frakturrisikos. In der neuen Fassung wird auf das mittlerweile entwickelte FRAX-Tool verwiesen, das aufgrund von 7 klinischen Risikofaktoren zusätzlich zur Knochendichte ein 10-Jahres-Frakturrisiko errechnet. Bei einem von diesem Tool online errechenbaren Risiko von > 20% soll unabhängig von der Knochendichte eine osteoprotektive Therapie eingeleitet werden?
Prim. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Resch: Das war mit ein Grund für die Konsens-Aktualisierung. Wir sind davon abgerückt, Risiko, Diagnose und Behandlung ausschließlich nach dem T-Score auszurichten. Aus der Erfahrung von vielen Kohortenstudien wissen wir, dass die Knochendichte als Surrogatparameter in vielen Fällen zu wenig und zu ungenau ist. Es gibt ja Patienten, die haben sich etwas gebrochen, weisen aber eine normale Knochendichte auf und vice versa. Das FRAX-Tool zur Berechnung des individuellen, zu erwartenden Frakturrisikos relativiert in vielen Fällen den T-Score. Das hat sogar das Versicherungssystem erkannt und in den Erstattungskodex aufgenommen, dass man nicht mehr ausschließlich nach dem T-Score schaut, sondern nach dem Frakturrisiko. Der Schwellenwert nach dem FRAX-Tool ist definiert als eine Zahl von 20% für jede größere osteoporoseassoziierte Fraktur oder 8% für eine Hüftfraktur. Man muss also nur mehr das Risikoausmaß in Prozent angeben und nicht mehr die Knochendichte.
Die Hormonersatztherapie war nach den Nutzen-Risiko-Diskussion im Gefolge der WHIStudie schon in Ihrem Konsens 2007 nur mehr als sekundäre Therapieoption der Osteoporose gereiht, jetzt wird sie im Bereich “Prävention” abgehandelt, allerdings auf einen nachhaltigen knochenprotektiven Effekt bei früher postmenopausaler Verabreichung aus nicht-osteologischer Indikation hingewiesen. Wie beurteilen Sie die Chancen für eine Renaissance der HRT in primär osteologischer Indikation im postmenopausalen “Window of Opportunity”, die manche GynäkologInnen befürworten, in einer zukünftigen Fassung?
Wenn ich nach der Evidenz behandeln möchte, werde ich sehr rasch sehen, dass es für die Hormone zwar sehr viele ältere osteologische Daten gibt, die Qualität der Daten für die modernen Medikamente aber eine sehr viel bessere ist. Eine Hormontherapie kann aber, wenn sie von einem Gynäkologen überwacht wird, eine durchaus ebenbürtige Option in einem gewissen Lebensalter der Patientin sein.
Gerade bei jüngeren Patientinnen, peri- oder postmenopausal, sollte man überlegen, ob sie nicht doch dafür in Frage kommen. Hormonsubstitution also überall dort, wo zuwenig Hormon da ist und wo man es gefahrlos substituieren kann – das sollte sich auch in der Zukunft nicht ändern.
Deutlich mehr Platz und Betonung wurde der präventiven und therapeutischen Bedeutung von Kalzium und Vitamin D eingeräumt, sogar die jüngste Diskussion um das Risikopotenzial der Kalzium-Monotherapie wird rekapituliert.
Das war ein weiteres wichtiges Anliegen des Konsensus. Die unkontrollierte Ca-Substitution über die Masse der Patienten würde ich schon hinterfragen. Es gibt ja Studien, die meinen, Ca-Supplemente könnten ungünstig für die Gefäße sein. Ich persönlich würde nicht so weit gehen und sagen, das ist alles nicht haltbar. Die Patienten, die über die Nahrung genug Ca zuführen, denen verschafft man natürlich einen Overload – man muss sich schon überlegen, was daraus resultiert. In den deutschen DVO Leitlinien wird nur mehr Vitamin D empfohlen. Nur dort, wo es einen Grund dafür gibt, dass man Ca nicht über die normale Ernährung zuführen kann – etwa Laktoseintoleranz -, dort bietet man es an, aber nicht mehr als automatische Begleittherapie, das ist eigentlich ziemlich verschwunden. Unterm Strich sollte man Ca-Supplemente kritischer einsetzen, und man sollte sie nur jenen Patienten geben, die eine negative Ca-Bilanz aufweisen. Beim Vitamin D sollte man sehr genau darauf achten, dass es im Normbereich ist.
Mit dem Antikörper Denosumab musste ja ein Kapitel völlig neu dazugeschrieben werden.
Auch hier hat es natürlich einer wichtigen Aktualisierung bedurft. Wir haben versucht, eine Positionierung für Denosumab zu definieren, weil diese neue Option in “Arznei & Vernunft 2010” in der zeitlichen Überschnei dung von Richtlinienerstellung und Markteinführung noch nicht den fairen gleichen Raum haben konnte. Das wollten wir korrigierend nachholen.
Sehr ausführlich und detailliert finden sich nun differenzialtherapeutische Überlegungen zu Einnahmeoptionen, Sicherheit, Verträglichkeit und Kontraindikationen der einzelnen in der Erstlinienbehandlung zugelassenen Medikamente. Das impliziert zwar die theoretische Möglichkeit einer individualisierten Therapieentscheidung, die ökonomisch motivierten Erstattungsvorgaben in Österreich bevorzugen jedoch – bei Berücksichtigung der Kontraindikationen – den Erstlinieneinsatz von oralen Bisphosphonaten. Sehen Sie Risiken für Patienten bzw. eventuell auch für die Gesundheitsökonomie, wenn aufgrund dieser Einschränkungen nicht gleich die individuell am besten geeignete Therapie verschrieben wird?
Es gibt Substanzen mit einem ähnlichen Wirkspektrum. Und natürlich richtet man sich da auch nach der Kosten-Nutzen-Relation. Solange keine klare Evidenz existiert, die zeigt, dass eine Substanz besser ist als die andere, ist die Vorgangsweise der Versicherer und des Gesundheitssystems nachzuvollziehen. Das ist der Hintergrund, warum aufgrund des Preisniveaus Aclasta® (Zoledronat) seit einiger Zeit einfacher zugänglich ist und Protelos® (Strontiumranelat) bei gleicher Evidenzlage nach wie vor im Hintertreffen. Prolia® (Denosumab) ist es gelungen, eine Mittelstellung einzunehmen. Es befindet sich aber noch in der Einführungsphase, wenn in Zukunft eine Angleichung stattfindet, bin ich überzeugt, dass es auch in der ersten Reihe steht.
Der Therapiekomfort und die verschiedenen Galeniken, die mir eine bessere Mitarbeit des Patienten versprechen, das ist natürlich ein anderes Kapitel – abseits der objektiven Wirksamkeitsevidenz. Für mich ist es daher wichtig, dass der Patient in der Praxis auch in der Auswahl des Medikaments mitentscheiden kann. Wenn ein Patient schon von vorherein sagt, dass er Magenprobleme, Sodbrennen hat – was bei jedem Zweiten der Fall ist – oder andere Dyskomforts in diesem Zusammenhang, erspare ich im den oralen Weg und biete ihm sofort eine parenterale Alternative an.
* Konsensus “Osteoporose – Prävention und Therapie” unter der Ägide der ÖGKM (Vorsitz: Prim. Univ.-Prof. Dr. Johann Bröll und Prim. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Resch). Österreichische ÄrzteZeitung Dezember 2011; Supplementum