Schmerzprozess: Häufig ist die Schmerzursache nicht mehr vorhanden oder erkennbar und kann daher auch nicht behandelt werden. Am Beginn des Prozesses steht in der Regel, dass primäre „Schmerzsensoren“ (Nozizeptoren) in den peripheren Geweben, z. B. in den Gelenken, aktiviert werden. Pathologische Veränderungen in der Umgebung der Nozizeptoren führen zur verstärkten Aktivität der Neurone und zur Nozizeptorsensibilisierung. Wenn im Verlauf der schmerzhaften Erkrankungen die Nozizeptoren dauerhaft aktiviert werden, verändert die anhaltende Aktivität aus der Peripherie auch die Ansprechbarkeit zentraler nozizeptiver Neurone im Rückenmark und Gehirn. Als Folge der Veränderungen in der betroffenen Körperregion wird im Rückenmark die Informationsübertragung an den Synapsen effizienter und das beim Gesunden wirksame endogene Schmerzhemmsystem heruntergefahren: Die schmerzverarbeitenden Areale des Gehirns erhalten mehr Zustrom. Dadurch verändert sich die Verarbeitung der Information aus der schmerzhaften Körperregion, die neuronale Schmerzmatrix weitet sich aus und kann sich auf die Informationsverarbeitung des gesamten Gehirns negativ auswirken.1 Beim chronischen Schmerz haben die Neuronen eine Art Schmerzgedächtnis gebildet, das sich als Veränderung einzelner Moleküle, Synapsen, einer effizienten Kommunikation zwischen den Neuronen und insgesamt einer verstärkten Aktivität des gesamten Netzwerkes manifestiert.
Bedeutung der Ionenkanäle
In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Ionenkanälen entdeckt, die als Sensoren für Temperaturänderungen oder mechanische Einflüsse (Schlag, Stoß) an der Entstehung von akuten Schmerzen beteiligt und essenziell für die Warnfunktion des Schmerzes sind. Diese Ionenkanäle in der Zellmembran von Nozizeptoren werden durch potenziell gewebeschädigende Temperaturen, z. B. der Ionenkanal TRPV1 durch starke Hitzeeinwirkung (> 43 °C) oder sein Verwandter TRPA1 durch starke Abkühlung (< 10 °C), geöffnet. Es fließt dann elektrischer Strom und die Nozizeptoren werden aktiviert. Je stärker der auslösende Reiz ist, desto weiter öffnet sich der Ionenkanal, desto mehr elektrischer Strom fließt und desto aktiver sind Nozizeptoren. Nachfolgend werden auch die Neuronen im zentralnervösen Anteil der gesamten Schmerzbahn stärker aktiviert und die Schmerzempfindung wird intensiver.
Die gleichen Ionenkanäle spielen auch eine Schlüsselrolle am Beginn der Schmerzchronifizierung. Im Rahmen von Entzündungen und/oder Nervenverletzungen werden Immunprozesse aktiviert, und Zellen des Immunsystems setzen verschiedene Faktoren und Entzündungsmediatoren frei, die über intrazelluläre Signalkaskaden die Ionenkanäle in den Nozizeptoren empfindlicher machen. Nozizeptoren reagieren dann auch auf schwache, normalerweise nicht schmerzhafte Ereignisse mit gesteigerter Aktivität und aktivieren die Schmerzbahn. Die Informationsverarbeitung in den Neuronen der Schmerzbahn wird gesteigert und die Neurone „lernen Schmerz“.2 Das System bleibt hyperaktiv, auch wenn der initiale Gewebeschaden, z. B. die Operationsnarbe, bereits abgeheilt ist.
Nerven- und Immunsystem
Die Interaktionen zwischen Immunsystem und Nervensystem sind komplex. So finden sich auf Immunzellen Rezeptoren für die endogenen schmerzhemmenden Opioide oder Cannabinoide. Bei Gewebeverletzungen und Entzündungen werden nicht nur im betroffenen Organ, sondern auch im Rückenmark Immunzellen und Mikroglia aktiviert und bioaktive Moleküle, z. B. Zytokine oder Prostaglandine, freigesetzt. In Mausmodellen für chronischen Schmerz findet man Rezeptoren für Entzündungsmediatoren, die von Immunzellen freigesetzt werden, nicht nur in den peripheren Nozizeptoren, sondern auch im Rückenmark. Die Mediatoren verstärken direkt die Aktivität der Neuronen im Rückenmark und modulieren inhibitorische, z. B. glyzinerge Interneuronen im spinalen Hinterhorn. Es kommt dadurch indirekt zur Schmerzverstärkung durch Verminderung der endogenen Schmerzhemmung. Immunmediatoren wie Zytokine wirken als Chronifizierungsfaktoren auf allen Verarbeitungsebenen des nozizeptiven Systems.
Schmerzchronifizierung
In den letzten Jahren wurden große Fortschritte bei der Erforschung der Pathophysiologie der Schmerzchronifizierung gemacht und eine Vielzahl von Faktoren und Signalwegen gefunden, die das nozizeptive System plastisch verändern. Pharmakologische Ansätze zum „Löschen“ chronischer Schmerzen ergeben sich aus diesen pathophysiologischen Veränderungen von neuronalen Netzwerken, Neurotransmittern und Immunmediatoren sowie von Ionenkanälen und Rezeptoren. TRPV1- oder TRPA1-Antagonisten oder Opioide wirken im Tiermodell antihyperalgetisch. Schmerzrelevante Ionenkanäle sind jedoch entgegen ursprünglichen Hoffnungen inzwischen auch in anderen Systemen gefunden worden. Der TRPV1-Kanal spielt auch eine wichtige Rolle bei der Thermoregulation und der klinische Einsatz z. B. von TRPV1-Antagonisten wurde durch fieber – induzierende Wirkungen verzögert. Auch Neutralisationsstrategien für die klassischen proinflammatorischen Zytokine Tumornekrosefaktor-α, Interleukin-1β und Interleukin 6 (IL-6) sind in Tiermodellen untersucht worden. Sie reduzieren Entzündungsreaktionen und können die Nozizeptorsensibilisierung und die Entstehung chronischer Hyperalgesie wirksam hemmen. Klinisch vielversprechend ist ebenso die Neutralisation des Nervenwachstumsfaktors (NGF).3 Die verwendeten Immunmodulatoren sind in der Regel humanisierte Antikörper oder „receptor bodies“, die parenteral verabreicht werden müssen. Hinzu kommen teilweise immunsuppressive Wirkungen, die Risiken mit sich bringen. Vor kurzem wurden Bufadienolide als erste kleinmolekulare IL-6-Antagonisten identifiziert. In einem Mausmodell für Pankreatitisschmerz sind Bufadienolide analgetisch wirksam.4 Studien an Neuropathie- oder Entzündungsschmerzmodellen laufen derzeit.
Neue Forschungsansätze
Obwohl unser Wissen über die Mechanismen der Schmerzchronifizierung stetig zunimmt, gelingt es in der Klinik bisher nicht, chronische Schmerzen pharmakologisch hinreichend zu behandeln. Spannend bleibt die Frage nach den biologischen Mechanismen und plastischen Veränderungen der zentralnervösen Schmerzmatrix, die entscheidend für die pathologisch veränderte Verarbeitung von Schmerzereignissen und psychosozialen Einflüssen im Gehirn sind. Möglicherweise spielen dabei bestimmte Immunmodulatoren ebenfalls eine wichtige Rolle. Erfolgversprechend sind neue Forschungsansätze, die sich mit den Mechanismen des Löschens von Gedächtnisinhalten beschäftigen. Antiinflammatorische Zytokine werden in diesem Zusammenhang untersucht, aber auch die Expressionsmuster bestimmter GABA-Rezeptorsubtypen, die z. B. auf Rückenmarkebene modulierend auf die synaptische Transmission nozizeptiver Information wirken.5 Subtypspezifische GABA-Rezeptor- Agonisten sind möglicherweise als nicht-narkotisch wirksame Analgetika einsetzbar. Diese neuen Ansätze lassen erwarten, dass es in Zukunft möglich sein wird, chronische Schmerzen in der Klinik erfolgreich zu löschen, auch wenn dies derzeit noch nicht gelingt.
1 Maihöfner C., Nickel F.T., Seifert F.: Der Schmerz 2010; 24:137-145
2 Sandkühler J., Mol Pain 2007; 3:9
3 Cattaneo A., Curr Opin Mol Ther 2010; 12:94-106
4 Vardanyan M. et al., Pain 2010; 151:257-265
5 Zeilhofer H.U. et al., J Mol Med 2009; 87:465-469