Ernährung in der Palliativmedizin – Alle onkologischen Patienten auf Mangelernährung screenen

Bei Vorliegen einer Tumorerkrankung wird Malnutrition mit einer schlechteren Tolerabilität antineoplastischer Maßnahmen und einem kürzeren Überleben in Verbindung gebracht. Fortgeschrittene Tumorerkrankungen gehen andererseits oft mit Kachexie einher, in diesem Fall scheint aggressive Ernährungstherapie von sehr eingeschränktem Nutzen zu sein.


Was ist Mangelernährung?

Die Kriterien für die Diagnosestellung einer Mangelernährung sind Gewichtsverlust von mehr als 10 % innerhalb der letzten 6 Monate bzw. mehr als 5 % innerhalb eines Monats oder ein Body-Mass-Index (BMI) von unter 18,5. Diese Parameter können schnell und einfach bei der Aufnahme von Patienten erhoben werden. Gerade der Gewichtsverlauf ist schnell und einfach zu erfragen, er ist zudem sensitiver und spezifischer als der BMI, welcher durch verschiedene Umstände (Aszites, Ödeme etc.) verfälscht sein kann. Im Verlauf sind zusätzlich das Führen eines Tellerprotokolls sowie die Beachtung etwaiger gastrointestinaler Symptome, welche eine regelmäßige und ausreichende Nahrungsaufnahme unmöglich machen, zu empfehlen. Durch zusätzliche Ernährungsberatung und Supplementierung der oralen Ernährung kann die tägliche Kalorienzufuhr häufig verdoppelt werden.

Was ist Kachexie?

Tumorkachexie (kakos hexis, griech.: schlechter Zustand) ist einer der Hauptgründe für Gewichtsverlust bei Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung. Eine Reihe von nicht-malignen Erkrankungen geht ebenfalls mit Kachexie einher, beispielhaft sind chronische Infektionen, AIDS, chronische Herzinsuffizienz, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung und chronische Niereninsuffizienz zu nennen. Kennzeichnend ist eine katabole Stoffwechsellage des Körpers mit erhöhtem Grundumsatz. Die Schlüsselelemente von Kachexie sind ein kataboler Stimulus (Tumor, Inflammation etc.), Appetitverlust, herabgesetzte Muskelmasse und -funktion, Lipolyse und schließlich Insulinresistenz. Hierbei wird deutlich, dass Appetitverlust eine Komponente von Kachexie, nicht aber alleiniger Grund des Gewichtsverlustes ist. Ernährung alleine kann den Circulus vitiosus einer fortgeschrittenen Kachexie nicht durchbrechen. Die Begriffe „konsumierende Erkrankung“ und „all the body can eat is itself“ beschreiben dieses Zustandsbild sehr gut. Erhöhtes CRP und reduziertes Albumin sind Indikatoren dieser systemischen inflammatorischen Reaktion und stellen einen unabhängigen Prognosefaktor dar (Glasgow Index). Hemmung von Lipolyse durch genetische Ausschaltung von in Fettzellen befindlicher Triglyzerid-Lipase oder hormonsensitiver Lipase kann – zumindest im Maus-Modell – Tumorkachexie verhindern (Höfler G., Science 2011).

Kachexieklassifikation

Kürzlich wurde konsensuell Tumorkachexie definiert und klassifiziert (Fearon K., Lancet Oncol 2011). Tumorkachexie wurde als kontinuierlicher Prozess beschrieben, der allerdings in drei relevante Stadien unterteilt werden kann: frühe Kachexie, Kachexie und (therapie-)refraktäre Kachexie. In der Phase der frühen Kachexie können klinische und metabolische Variablen auf einen ungewollten Gewichtsverlust hinweisen, jedoch ist das Risiko, letztlich das Vollbild einer Kachexie zu entwickeln, variabel und von einer Vielzahl klinischer Parameter abhängig. Im Gegensatz dazu versteht man unter refraktärer Kachexie eine Phase des aktiven Katabolismus als Resultat einer weit fortgeschrittenen und rasch progressiven Tumorerkrankung. In dieser Phase ist der Nutzen artifizieller Ernährung fraglich, Risken und etwaige unerwünschte Wirkungen überwiegen einen potenziellen Nutzen. Tumorkachexie sollte nicht mit Gewichtsverlust anderer Genese, wie z. B. Hungern, Dehydration oder Muskelatrophie verwechselt werden.

Welche Bedeutung hat Kachexie?

Kachexie hat mannigfaltige Auswirkungen und ist ein unabhängiger Risikofaktor für kürzeres Überleben. Ca. 30 % der Patienten versterben an tumorbedingter Kachexie und Erschöpfung. Weiters findet sich bei kachektischen Patienten eine schlechtere Verträglichkeit antineoplastischer Therapie und erhöhte chemotherapieassoziierte Toxizität. Schließlich leiden Patienten mit Kachexie an der Veränderung des Körperbildes, Kachexie ist mit herabgesetzter Lebensqualität vergesellschaftet. Kachexie kann auch bei adipösen Patienten vorliegen, die Kombination von Sarkopenie und Adipositas ist mit besonders schlechter Funktionalität und kürzerem Überleben vergesellschaftet.

Wie wird Kachexie behandelt?

Eine wichtige Rolle im Kachexiemanagement kommt der antineoplastischen Therapie zu, da dem Tumor als „catabolic driver“ die ursächliche Rolle der Kachexie zukommt. Der Einsatz von antiinflammatorischen Substanzen, Hormonen, Cannabinoiden sowie Insulin ist nicht endgültig geklärt. In jedem Fall ist es wichtig, sekundäre Kachexieursachen zu beachten. Hierunter versteht man Umstände, die die regelmäßige Nahrungsaufnahme zusätzlich erschweren und somit Kachexie verstärken können (Mukositis, Infekte, Chemotherapie-assoziierte Nausea, Obstipation, Schmerz und Delir etc.). Ebenso wichtig ist der frühe Einsatz physikalischer Therapie, um dem Muskelabbau Einhalt zu gebieten. Verlorenes Muskelgewebe kann bei kachektischen Patienten schwer wiedergewonnen werden. Ernährungstherapie spielt in frühen Phasen der Kachexie eine Rolle, die Bedeutung von Ernährungstherapie im Kachexiemanagement nimmt mit fortgeschrittener Tumorerkrankung ab.

Möglichkeiten und Zeitpunkt der Ernährungstherapie

Optionen stellen die orale Ernährung, eventuell durch Supplemente unterstützt, die enterale Ernährung mittels PEG-Sonde sowie die parenterale Ernährung dar.
Kriterien für die Einleitung einer Ernährungstherapie sind eingeschränkte Kalorienzufuhr (< 60 % des errechneten Tagesbedarfs über 10 Tage, z. B. durch gastrointestinale Dysfunktion, Mucositis etc.) bei einer erwarteten Überlebenszeit von mehr als drei Monaten. Ernährungstherapie hat keinen tumorstimulierenden Effekt. Die Indikation zur oralen Ernährungsunterstützung, vor allem im Sinne einer Diätberatung, sollte großzügig gestellt werden. Es konnte gezeigt werden, dass Patienten unter laufender Strahlentherapie durch Diätberatung alleine, verglichen mit Ernährungsunterstützung durch Supplemente, hinsichtlich einer Stabilisierung der Lebensqualität und auch der strahlentherapieassoziierten unerwünschten Wirkungen über längere Zeit profitieren (Rovasco P., Head Neck 2005, JCO 2005) .
Eine 2012 publizierte Metaanalyse (Baldwin J., Natl Cancer Inst), die den Stellenwert oraler Supplemente bei Patienten mit weit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen untersuchte, zeigte zwar eine Verbesserung des Ernährungszustandes und einiger Domänen der Lebensqualität, aber keinen Einfluss auf die Überlebenszeit. Der Stellenwert artifizieller Ernährung mittels prophylaktischer gastrointestinaler Sonde ist vor allem bei Patienten mit HNO-Tumoren von Interesse. Hier gibt es allerdings keine randomisierten Studien. Die Autoren eines 2011 publizierten systematischen Reviews (Locher J., JPEN 2011) konnten sich aufgrund der unklaren Datenlage zu keiner klaren Entscheidung durchringen, Vor- und Nachteile einer solchen müssen individuell mit den Betroffenen abgewogen werden. Auch die Rolle parenteraler Ernährung (PE) wurde in einer bereits 1990 publizierten Metaanalyse (McGeer A.J., Nutrition) untersucht. Hier zeigte sich, dass PE bei dieser Patientenpopulation mit kürzerem Überleben, schlechterem Tumoransprechen und erhöhter Komplikationsrate vergesellschaftet ist. PE sollte deshalb gegen Lebensende hin keinesfalls routinemäßig verabreicht werden. Dieser geringe Stellenwert wird auch in gültigen Leitlinien (ESPEN, ASPEN, DGE) deutlich. Allerdings sind die in dieser Metaanalyse untersuchten Arbeiten schon älter, rezenter publizierte Arbeiten weisen auf einen möglichen Nutzen hinsichtlich der Verbesserung der physikalischen Funktion, des Gewichts und der Lebensqualität hin. Diese Verbesserungen wurden eher bei Patienten mit gutem Performance-Status und einer Lebenserwartung von zumindest Monaten beobachtet, PE ist demnach sicher eher die Ausnahme denn die Regel.


ZUSAMMENFASSUNG: Ernährungstherapie hat bei onkologischen Patienten vor allem in frühen Stadien einen hohen Stellenwert, alle Patienten sollten im Hinblick auf Mangelernährung gescreent werden. Diätberatung ist auch in fortgeschrittenen Tumorstadien sinnvoll, die Indikation sollte großzügig gestellt werden. Die ESPEN-Guidelines empfehlen orale Supplemente, wenn die Kalorienzufuhr länger als 7–10 Tage nicht auf herkömmliche Art und Weise gedeckt werden kann. PE wird nur dann empfohlen, wenn eine adäquate Kalorienzufuhr auf oralem Weg unmöglich ist und die Mangelernährung lebensbedrohender scheint als die Tumorerkrankung selbst. Mit fortschreitender Erkrankung und zunehmender Kachexie nimmt der Stellenwert artifizieller Ernährung ab, hier kommt physikalischer Therapie, um dem Muskelabbau Einhalt zu gebieten, eine größere Rolle zu. Wichtig ist in jedem Fall, die eingeschränkte Evidenz artifizieller Ernährung am Lebensende mit dem Patienten offen anzusprechen, um etwaige irreale Ängste (Verhungern etc.) ausräumen zu können.