Laut epidemiologischen Analysen hat sich in den USA zwischen 1980 und 2000 die Mortalität durch koronare Herzkrankheit (KHK) halbiert. Vergleichbares war auch in Europa zu beobachten. Die amerikanischen Ergebnisse führten dazu, dass anhand einer umfangreichen Analyse, welche Daten aus unzähligen kontrollierten Studien, Registern, Krankenhausaufnahmen und epidemiologischen Studien zusammenführte, nach den Ursachen für diesen Mortalitätsrückgang geforscht wurde. Als wichtigster Faktor für die Mortalitätsreduktion konnte hierbei der durchschnittliche Rückgang der Cholesterinwerte der US-Amerikaner von 216 mg/dl auf 209 mg/dl identifiziert werden. Einen vergleichbar deutlichen, wenn auch etwas geringeren Effekt hatte die Blutdruckreduktion. Alle anderen medizinischen Maßnahmen hatten jeweils für sich genommen viel geringere Anteile an der Reduktion der KHK-Mortalität.1
Die neueste Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration (CTT), welche die individuellen Daten von 170.000 Patientinnen und Patienten einschloss, kam zu dem Ergebnis, dass eine Reduktion des LDL-Cholesterins um ca. 40 mg/dl zu einer 22%igen Reduktion des relativen Risikos, innerhalb eines Jahres ein vaskulären Ereignis zu erleiden, führt. Dieser Effekt war von jeglichen Kofaktoren unabhängig (z. B. Hypertonie, Ausgangs- LDL-Cholesterin, Geschlecht, Alter, andere Risikofaktoren, Primärprävention, Sekundärprävention etc.) und somit für alle Patientinnen und Patienten vergleichbar.2 Aus diesen Ergebnissen kann man schließen, dass für Personen mit hohem Risiko für vaskuläre Erkrankungen durch LDL-Cholesterin-Senkung eine viel größere absolute Risikoreduktion erzielt werden kann als für Personen mit niedrigem Ausgangsrisiko. Aufgrund dieser Tatsache gibt es für unterschiedliche Risikogruppen unterschiedliche Empfehlungen zu den LDL-Cholesterin-Zielwerten.
Im Juni und August 2011 wurde nun erstmals die Europäischen Leitlinien zum Management von Dyslipidämie beim Kongress der Europäischen Atherosklerose-Gesellschaft (EAS) und der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) präsentiert.
Das größte Augenmerk wird in diesem umfassenden Manuskript zur Lipidtherapie auf LDL-Cholesterin gelegt, da es hierfür mit Abstand die größte Evidenz gibt. Essenziell für die Festlegung eines Zielwertes für LDL-Cholesterin ist die Erhebung des kardiovaskulären Risikos einer Patientin oder eines Patienten:
• Gibt es bereits eine dokumentierte kardiovaskuläre Erkrankung oder liegen ein Typ- 2-Diabetes, ein Typ-1-Diabetes mit Mikroalbuminurie oder eine Niereninsuffizienz vor, ist die Beurteilung einfach, weil dann automatisch die Kategorie „sehr hohes Risiko“ gilt.
• Ist ein einzelner Risikofaktor besonders ausgeprägt (z. B. familiäre Hypercholes – terinämie, ausgeprägte Hypertonie), handelt es sich um „hohes Risiko“.
• Etwas aufwändiger ist die Klassifizierung, wenn solche Erkrankungen nicht vorliegen, da dann jede Risikokategorie von „niedrig“ bis „sehr hoch“ in Frage kommt. In diesem Fall wird das kardiovaskuläre Risiko anhand der Tabellen zur „Systemic Coronary Risk Estimation“ (SCORE) geschätzt. Mittels dieser Tabellen kann die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten 10 Jahren an einer KHK zu versterben, erhoben werden. Dazu werden der systolische Blutdruck, die Gesamtcholesterinkonzentration, das Alter und Informationen über das Rauchen benötigt. In den kürzlich erneuerten Tabellen gehen nun zusätzlich Informationen über das HDL-Cholesterin in die Bewertung mit ein, da niedriges HDL-Cholesterin wesentlich zum Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse beiträgt (siehe www.eas-society.org; Guidelines).
Die Risikoklassifizierung und das korrespondierende LDL-Cholesterin-Ziel sind in der > Tab. zusammengefasst. Auffallend ist hierbei, dass die Zielwerte im Vergleich zu bisherigen Empfehlungen teilweise herabgesetzt wurden. So gilt nach diesen Leitlinien für Typ-2-DiabetikerInnen über 40 Jahre mit nur einem zusätzlichen kardiovaskulären Risikofaktor (z. B. Hypertonie) oder Patientinnen und Patienten mit einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) < 60 ml/min ein LDL-Choles – terin-Ziel von < 70 mg/dl. Grund hierfür ist, dass beide Erkrankungen mit einem deutlich erhöhten kardiovaskulären Risiko verknüpft sind. Somit kann hier mit der LDL-Reduktion im Vergleich zu Personen mit niedrigerem Risiko eine deutlich größere absolute Risikoreduktion erzielt werden.
Besteht „hohes“ oder „sehr hohes Risiko“, ist bei einem LDL-Cholesterin über dem Zielwerte der sofortige Beginn mit einer Cholesterinsenkenden Medikation empfohlen. Besteht moderates oder niedriges Risiko, sollen zunächst Lebensstilmaßnahmen versucht werden und erst nach Nichterreichen des Zielwertes eine medikamentöse Therapie begonnen werden. Besteht ein „niedriges Risiko“ und liegen die LDL-Cholesterin-Konzentrationen unter 190 mg/dl, kann auf medikamentöse Maßnahmen verzichtet werden.
Ein immer wieder unterschätztes Krankheits – bild stellt die familiäre Hypercholesterinämie (FH) dar. Bestehen LDL-Cholesterinwerte > 200 mg/dl, die Anamnese eines kardiovaskulären Ereignisses vor dem 60. Lebensjahr oder einer Familienanamnese für frühzeitige kardiovaskuläre Ereignisse (Männer: < 50 Ja h – re; Frauen: < 60 Jahre), muss unbedingt das Vorliegen einer FH in Betracht gezogen werden. Bestehen Xanthome (z. B. Augenlider, Unterarme), ist die Wahrscheinlichkeit für eine familiäre Lipidstoffwechselstörung sehr hoch. FH wird autosomal dominant vererbt und die Prävalenz der heterozygoten Form (LDL-Cholesterin ca. 190–400 mg/dl) liegt zwischen 1:300 und 1:500. Die sehr schwer verlaufende homozygote Form (LDL-Cholesterin ca. 500 bis 1.000 mg/dl) tritt nur bei ca. 1 von 1 Million Personen auf, führt aber unbehandelt meist schon im Kindesalter zu einem schweren kardiovaskulären Ereignis. Auch bei Personen mit der heterozygoten Form von FH ist das kardiovaskuläre Risiko dramatisch erhöht. Unbehandelt ist das relative Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis im Alter zwischen 20 und 39 Jahren bei Männern 48-fach und bei Frauen 125-fach erhöht; 50 % der Männer sowie 15 % der Frauen versterben vor dem 60. Lebensjahr. Durch rechtzeitige Cholesterin- senkende Therapie kann dieses Risiko nahezu auf Werte von nicht von FH betroffenen Personen reduziert werden.
Wird ein Fall von FH diagnostiziert, empfehlen die Leitlinien in jedem Fall ein Familienscreening durchzuführen, da durchschnittlich 50 % der Verwandten ebenfalls an FH leiden. Wurde eine FH bestätigt oder besteht der Verdacht, sollten die betreffenden PatientInnen an eine spezialisierte Abteilung oder Ambulanz überwiesen werden. Das LDL-Cholesterin-Ziel liegt bei FH-PatientInnen ohne weitere Risikofaktoren oder bestehende atherosklerotische Erkrankung bei < 100 mg/dl bzw. bei einer mindestens 50%igen LDL-Cholesterin-Reduktion. Besteht bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung oder liegen zusätzliche Risikofaktoren vor, soll ein Ziel von < 70 mg/dl angestrebt werden.
Lebensstilmaßnahmen (Diät, Gewichtsreduk – tion, Bewegung) sollen in jedem Fall begleitend zu medikamentöser Therapie eingesetzt wer – den. Zu diesem Thema gibt es ausreichend Evidenz und es können zwischen maximal 10 und 20 % Cholesterinreduktion erzielt werden. Besonders effektiv in Bezug auf die Cholesterinsenkung sind die Reduktion von gesättigten Fettsäuren, Transfetten und Cholesterin in der Nahrung sowie eine ballaststoffreiche Ernährung. Ausführliche Informationen zu den Effekten von Lebensstilmaßnahmen sind in den publizierten Leitlinien zu finden (www.eassociety. org; Guidelines).
Bei „hohem“ und „sehr hohem“ Risiko soll zum Erreichen des LDL-Cholesterin-Ziels unmittelbar mit medikamentöser Therapie parallel zu Lebensstilmaßnahmen begonnen werden. Die Medikamente der 1. Wahl stellen hierbei Statine dar (Evidenz I A). Eine Monotherapie mit einem hochpotenten Statin kann bis zu 55 % LDL-Reduktion erzielen. Wird mit einem Statin nicht das Auslangen gefunden oder besteht eine Statin-Unverträglichkeit, empfehlen die Leitlinien die Therapie mit Colesevelam (18–25 % LDL-Cholesterin-Reduktion), Ezetimib (15–22 % LDL-Cholesterin-Reduktion) oder Nikotinsäure (15–18 % LDL-Cholesterin-Reduktion). Alle Medikamente können auch kombiniert werden und haben additive Effekte auf das LDL-Cholesterin.
Patientinnen und Patienten mit Hypertriglyzeridämie haben ein signifikant erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Nichtdes – totrotz gibt es sehr wenig Evidenz zu den Effekten von Triglyzerid-senkender Therapie auf dieses Risiko. Aus diesem Grund wird auch bei Hypertriglyzeridämie neben der in diesem Fall besonders wirksamen Ernährungsumstellung primär eine Statintherapie empfohlen. Damit kann entsprechend der derzeitigen Datenlage eine deutliche absolute Risikoreduktion erzielt werden. Erst sekundär sollen Fibrate, Nikotinsäure oder Omega-3- Fettsäure-Präparate verwendet werden. Eine medikamentöse Therapie wird bei Triglyzerid- Werten > 200 mg/dl trotz Lebensstilmaßnahmen empfohlen, wenn gleichzeitig ein hohes kardiovaskulären Risiko besteht. Bei sehr hohen Triglyzerid-Konzentrationen besteht ein erhöhtes Risiko für Pankreatitis, welches insbesondere bei Werten > 880 mg/dl deutlich ansteigt. Bei Werten > 880 mg/dl wird auf jeden Fall eine Triglyzerid-senkende Therapie empfohlen. Aber auch schon bei Konzentrationen zwischen 440 mg/dl und 880 mg/dl kann Pankreatitis auftreten und hier ist eine individuelle Therapieentscheidung zu treffen. Zur medikamentösen Therapie eignen sich Fibrate, Nikotinsäure und Omega- 3-Fettsäure-Präparate. Im Falle einer bereits bestehenden Pankreatitis soll initial neben diätetischen Maßnahmen mit einer Kombination aus Fibraten und einem Omega- 3-Fettsäure-Präparat oder Nikotinsäure behandelt werden. Bei Diabetikern soll mittels Insulin eine gute Blutzuckereinstellung angestrebt werden, was ebenso zu einer deutlichen Reduktion der Triglyzeridwerte beiträgt.
Niedriges HDL-Cholesterin ist ein wichtiger kardiovaskulärer Risikofaktor. Maßnahmen zur Hebung des HDL-Cholesterins inkludieren neben Lebensstiländerungen die Behandlung mit Nikotinsäure oder Fibraten. Allerdings gibt es zurzeit sehr wenig Evidenz zu positiven Effekten dieser Therapien auf die kardiovaskuläre Risikoreduktion zusätzlich zur Statintherapie, weshalb in den Leitlinien keine generelle Empfehlung für eine HDL-Cholesterin-steigernde Therapie abgegeben wird. Dazu müssen noch die Ergebnisse laufender Studien, wie der HPS-THRIVE-Studie (Nikotinsäure/Laropiprant + Statin), und Outcome-Studien zu CETP-Inhibitoren (Dalcetrapib und Anacetrapib), welche eine deutliche HDL-Cholesterin-Steigerung bewirken, abgewartet werden.
Transaminasen (GPT) sollen vor Beginn einer Therapie mit Statinen und 8 Wochen danach bzw. 8 Wochen nach einer Dosisänderung bestimmt werden. Bei GPT-Konzentrationen ab dem 3-Fachen der oberen Grenze des Referenzbereichs (ULN) soll die Statintherapie abgesetzt und eine GPT-Kontrolle nach 4–6 Wochen veranlasst werden. Wenn die GPT wieder auf Normalwerte zurückgegangen ist, kann ein erneuter Versuch mit einem Statin unternommen werden. Diese Empfehlungen basieren allerdings nicht auf einer wissenschaftlichen Grundlage und sind Vorsichtsmaßnahmen. Rezente systematische Reviews und Studien zeigten, dass Statine kein erhöhtes Risiko für Leberschäden mit sich bringen.
Die Kreatinphosphokinase (CK) soll vor Beginn einer Statintherapie bestimmt werden. Bei Werten von mehr als dem 5-Fachen des ULN muss vorerst von einem Therapiebeginn abgesehen werden. In diesem Fall wird eine Kontrolle und eine Therapieinitiierung bei Rückgang der CK-Konzentration empfohlen. Eine regelmäßige CK-Kontrolle bei symptomfreien Patientinnen und Patienten unter Statintherapie trägt nicht zur Detektion eines Risikos für Rhabdomyolyse bei und wird deshalb nicht empfohlen. Treten Myalgien auf, ist eine CK-Bestimmung notwendig. Wurden die CK-Konzentrationen bestimmt, empfehlen die Leitlinien bei Konzentrationen bis zum 5- Fachen des ULN eine Fortsetzung der Therapie, sofern keine Symptome bestehen bzw. die Beschwerden erträglich sind. Bei Konzentrationen über dem 5-Fachen des ULN soll die Statintherapie abgesetzt werden und die CK alle 2 Wochen kontrolliert werden. Bei Rückgang kann ein erneuter Therapieversuch gestartet werden.
ZUSAMMENFASSUNG: Besonders bei Personen mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko trägt eine LDL-Cholesterin-Senkung außerordentlich zur Risikoreduktion bei. Die 2011 erstmals erschienen Leitlinien zum Management der Dyslipidämie geben Empfehlungen zu LDLCholesterin Zielwerten und wie diese am besten erreicht werden sollen. Bei sehr hohem Risiko wird ein Ziel von < 70 mg/dl, bei hohem Risiko von < 100 mg/dl und bei moderatem Risiko ein Ziel von < 115 mg/dl empfohlen. Besteht ein niedriges kardiovaskuläres Risiko (erhoben anhand der SCORETabellen), kommt erst bei LDL-Konzentrationen > 190 mg/dl eine Therapie zum Einsatz.
Initial soll neben Lebensstilintervention mit einem Statin begonnen werden und bei Nichterreichen der Zielwerte bzw. Statinunverträglichkeit werden alternative Präparate empfohlen (Ezetimib, Nikotinsäure, Colesevelam). Bei Triglyzeridkonzentrationen > 200 mg/dl und hohem Risiko wird nach fehlender Normalisierung der Triglyzeridwerte durch Lebensstilmaßnahmen die Therapie mit einem Statin empfohlen, um das kardiovaskuläre Risiko zu senken. Erst in weitere Folge kommen Fibrate, Nikotinsäure oder Omega-3-Fettsäuren zum Einsatz. Bei sehr hohen Triglyzeridwerten mit hohem Pankreatitisrisiko wird neben Lebensstilmodifikation eine Therapie mit Fibraten, Nikotinsäure oder Omega-3-Fettsäuren zur Triglyzeridreduktion empfohlen. Bezüglich der medikamentösen HDL-Cholesterin-Hebung zusätzlich zur Statintherapie gibt es zurzeit noch zu wenig Evidenz, um diese generell empfehlen zu können.
Die Vollversion der Leitlinien steht unter www.eas-society.org unter „Guidelines“ kos – tenfrei zur Verfügung.
FACT-BOX
• Anhand der Lipidleitlinien wird das kardiovaskuläre Risiko als „sehr hoch“ (LDL-Cholesterin-Ziel < 70 mg/dl), „hoch“ (Ziel < 100 mg/dl), „moderat“ (Ziel < 115 mg/dl) und „niedrig definiert.
• Im Vergleich zu bisherigen Empfehlungen sind die LDL-Cholesterin-Ziele bei vaskulären Erkrankungen, Diabetes und Niereninsuffizienz herabgesetzt worden.
• Bei Patientinnen und Patienten mit hohem Ausgangsrisiko kann durch LDL-Cholesterin-Reduktion eine besonders große absolute Risikoreduktion erzielt werden.
• Wenn möglich, soll ein Statin zur LDL-Cholesterin-Senkung eingesetzt werden.
1 Ford E.S. et al.: Explaining the decrease in U.S. deaths from coronary disease, 1980–2000. New Engl J Med 2007; 356:2388-2398
2 Baigent C. et al.: Efficacy and safety of more intensive lowering of LDL cholesterol: a meta-analysis of data from 170,000 participants in 26 randomised trials. Lancet 2010; 376:1670-1681