Akute Koronarsyndrome bei Migranten: Fakten und Fragen

An der 2. medizinischen Abteilung der Rudolfstiftung in Wien war bei den Akut-Koronarangiographien eine Häufung von jungen Patienten mit Migrationshintergrund aufgefallen. Dies war Anlass für eine retrospektive Analyse der demographischen und klinischen Daten aller im Jahr 2010 akut koronarangiographierten Patienten.1 Insgesamt wurden 157 Patienten akut angiographiert, 51 dieser Patienten (33 %) waren Migranten (> Tab. 1). Aus den Entlassungsbriefen wurden Alter, Geschlecht, Befund der Koronarangiographie, Hypertonie, Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie, Nikotinabusus und ethnische Herkunft erhoben und Vergleiche zwischen Patienten mit österreichischer und nichtösterreichischer Herkunft angestellt. Aus dem Bevölkerungsregister wurden Informationen über die Wiener Bevölkerung entnommen.

 

 

Risikofaktoren und Koronarangiographie-Befunde: Es zeigte sich, dass akut koronarangiographierte Migranten jünger waren als entsprechende Patienten mit österreichischer Herkunft (53 versus 64 Jahre, p = 0,0000). Bei der Häufigkeit von Risikofaktoren und bei den koronarangiographischen Befunden bestanden keine Unterschiede zwischen Migranten und Österreichern. Bei Patienten < 60 Jahren war Nikotinabusus unter den Österreichern häufiger, bei den Patienten > 60 Jahren eine Dreigefäßeerkrankung unter den Migranten häufiger (> Tab. 2 und 3).

 

 

 

Ethnische Herkunft: 32 Migranten stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien, 12 aus der Türkei, 7 aus dem arabischen Raum, 5 aus Nordosteuropa, 4 aus Zentraleuropa und einer aus Guinea-Bissau. Laut Bevölkerungsregister lebten 2008 in Wien 1.674.909 Menschen, 323.415 davon Migranten. Unter den akut angiographierten Patienten war der Anteil von Migranten höher als in der Gesamtbevölkerung (33 versus 19 %, p < 0,0001). Überrepräsentiert unter den akut angiographierten Patienten waren Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien (14 versus 7 %, p = 0,0032), aus der Türkei (8 versus 3 %, p = 0,0007) und aus dem arabischen Raum (5 versus 1 %, p = 0,0004) (> Abb. 1 und 2).

 

 


Diese Ergebnisse zeigen, dass Migranten in Wien, die akut koronarangiographiert werden, jünger sind als Patienten, die aus Österreich stammen. Sie unterscheiden sich aber kaum in Hinblick auf die klassischen Risikofaktoren. Eine kürzlich publizierte Case-Control-Studie aus dem Wiener AKH kam zu ähnlichen Ergebnissen: Patienten, die in der Region von Ex-Jugoslawien geboren waren und in Österreich leben, haben ein siebenfach höheres Risiko, im Alter < 40 Jahren einen Myokardinfarkt zu erleiden als eine zufällig ausgewählte Kontrollgruppe hospitalisierter Patienten.2 Auch diese Studie ergab, dass das erhöhte Risiko unabhängig war von traditionellen kardiovaskulären Risikofaktoren. Dieses Phänomen weist auf ein höheres kardiovaskuläres, möglicherweise auch genetisches Risiko von Migranten hin. Möglicherweise spielen Traumatisierungen durch Kriegserlebnisse bei der Entwicklung der koronaren Herzkrankheit eine Rolle.3
Die Ergebnisse dieser Studien werfen neue Fragen auf, die mit einer prospektiven Untersuchung beantwortet werden sollen: Gibt es Unterschiede in Bezug auf Bildung, Lebensgeschichte, soziökonomischen Status, Familien- und Berufs-Situation zwischen Migranten und Österreichern mit akuten Koronarsyndromen? Gibt es Unterschiede in der Qualität und Effektivität der Sekundärprophylaxe zwischen Migranten und Österreichern mit akuten Koronarsyndromen? Für Vorschläge und Anregungen bei der Planung dieser prospektiven Studie sind wir dankbar!

 

1 Ucar-Altenberger H. et al., ÖKG-Jahrestagung 2011

2 Wiesbauer F. et al., Eur J Epidemiol 2009; 24:691–6

3 Heim I. et al., Croat Med J 2005; 46:970–6