Die Patientin Frau Dagmar N. (DN) ist 61 Jahre alt, verheiratet und leidet seit 10 Jahren an Typ-2-Diabetes mellitus und seit 20 Jahren an einem gut eingestellten Hypertonus. Frau DN ist krankhaft übergewichtig (BMI 41), da sie sich wenig bewegt und größte Schwierigkeiten hat, Gewicht zu verlieren. Eine Kniegelenkarthrose bds. ist bekannt sowie bds. Fußödeme. Gelegentlich nimmt sie wegen Knie- und Fußschmerzen Paracetamol und relativ regelmäßig Diclofenac ein. Derzeitige Beschwerden sind Schmerzen in beiden Füßen, eine Gangstörung und eine subdepressive Stimmungslage. Frau DN kann sich kaum noch aufraffen aufzustehen, ihre tägliche Hausarbeit zu verrichten und wird immer mehr von der Hilfe der Familie abhängig. Es gibt ein pflegebedürftiges Familienmitglied zu Hause, dass von der Patientin mitbetreut werden muss.
Erstvorstellung in der Notaufnahme: Frau DN klagt über unerträgliche Schmerzen in den Beinen und vergewissert sich, ob ihr hier rasch geholfen werden kann. Es wird ihr versichert, dass man sich intensiv um sie kümmern wird, man jedoch Zeit benötigen wird, da nicht immer sofort die alleinige Ursache ihrer Beschwerden gefunden werden kann. Im Wissen vieler möglicher Ursachen ihrer Schmerzen wird die Anamnese erhoben und auf ihre Befürchtungen und Stimmung eingegangen. Auf der visuellen Analogskala (VAS) wird ein Schmerzwert von 7 angegeben. Es folgt eine gezielte neurologische Untersuchung, die besonders mögliche Alarmzeichen „red flag“ als Ursache ihrer Fuß- und Beinschmerzen berücksichtigt, wie z. B. Konus-Kauda-Syndrom, Durchblutungsstörungen, Infektionen, Tumor, Trauma, akute Arthritis etc. Dabei ist es wichtig zu unterscheiden, was akut abgeklärt werden muss und was auf später verschoben werden kann.
Untersuchungen: Der neurologische Untersuchungsbefund ergibt einen unauffälligen Hirnnervenstatus, ausgefallene Reflexe, keine pathologischen Reflexe, keine motorischen Ausfälle, eine distal symmetrische Sensibilitätsstörung und keine Blasen- und Mastdarmstörung. Es wird eine Reihe von Blutuntersuchungen durchgeführt (Entzündungszeichen, Blutbild, Diff.-Blutbild, HbA1c, E-Lyte etc.), die als einzigen pathologischen Wert einen HbA1c-Wert von 8,9 ergeben. Da es bis auf die Sensibilitätsstörung der Füße keine neurologischen Ausfälle gibt, wird auf eine Bildgebung (CT oder MRT der LWS) verzichtet. Es wird eine symptomatische i. v. Therapie mit NSAR eingeleitet und zur Akuttherapie der starken Schmerzen fraktioniert i. v. Dipidolor® bis zu einem VAS-Wert von 4 gegeben.
Mit der Verdachtsdiagnose eines Schmerzsyndroms bei diabetischer Neuropathie wird die Patientin in gelindertem Zustand zur weiteren hausärztlichen Betreuung entlassen.
Der Hausarzt überweist die Patientin an die neurologische Schmerzambulanz, da für ihn die heftigen Schmerzen der Patientin nicht alleine durch eine diabetische Neuropathie erklärbar sind.
Neurologische Schmerzambulanz: Die neurologische Schmerzambulanz erhebt nochmals die genaue Anamnese und Schmerzanamnese anhand des zweiseitigen Schmerzfragebogens Dolor-Schmerzanamnese1 und geht gezielt auch auf die psychischen Probleme von Frau DN mit Hilfe von Depressionsfragebögen ein.2 Da ein neuropathischer Schmerz im Rahmen der diabetischen Neuropathie vermutet wird, wird der DN4-Fragebogen3 zur Beurteilung neuropathischer Schmerzen eingesetzt, der die Verdachtsdiagnose sichern soll. Alternativ könnten auch folgende Fragebögen eingesetzt werden: Leeds Assessment of Neuropathic Symptoms and Signs Scale (LANSS), PainDetect und Neuropathic Pain Scale (NPS). Dabei ist es wichtig, dem Patienten mit einfachen Worten die Mechanismen und Ursachen neuropathischer Schmerzen zu erklären, die zu Taubheitsgefühl und Schmerzen im gleichen Gebiet führen können.
Die Untersuchung und Fragebögen ergeben einen hohen Depressionsscore und der DN4-Fragebogen ist mit 7 positiven Fragen von 10 für ein neuropathisches Schmerzsyndrom richtungweisend. Die Laboruntersuchungen werden noch mit einer Borrelienserologie und quantitativen Immunglobulinbestimmung ergänzt, sind jedoch negativ. Eine PAVK im Rahmen des Diabetes mellitus wird weiterführend abgeklärt, erbringt jedoch keinen pathologischen Befund.
Frau DN bekommt ein Schmerztagebuch, mit in dem sie 3 x täglich die Schmerzintensität 0 (kein Schmerz) bis 10 (maximal vorstellbarer Schmerz) über einen Zeitraum von 6 Wochen eintragen soll. Dort soll sie auch die „erfreulichen“ und „unerfreulichen“ Ereignisse des Tages eintragen, damit man einen Einfluss ihrer Stimmung auf die Schmerzintensität erfassen kann. Ein Kontrolltermin ist in 3 Wochen vorgesehen. Über den Hausarzt werden eine intensive Diabetesschulung und ein Gewichtsreduktionsprogramm eingeleitet.
Frau DN kommt nach 3 Wochen zum Kontrolltermin in die Schmerzambulanz. Das Schmerztagebuch zeigt unveränderte Schmerzwerte und die Patientin ist verzweifelt bzgl. des fehlenden Therapieerfolgs.
Sie ist nach wie vor davon überzeugt, das Gehen und Bewegung ihre Schmerzen und ihren Zustand eher verschlechtern als verbessern und bleibt trotz allen Bemühungen ihres Hausarztes passiv. Die Ursache ihrer Gangunsicherheit und des zunehmenden Schwindels ist ihr nicht bewusst und sie ist überzeugt, dass die Schmerzen noch zunehmen werden und sie rollstuhlpflichtig werden wird. Ihre Familie ist zunehmend besorgt um ihren schlechter werdenden Gesundheitszustand. Es wird immer klarer, dass Frau DN nicht „nur“ eine schmerzhafte diabetische Polyneuropathie hat, sondern auch ein ausgeprägtes psychosoziales Problem. Sie hat wesentliche „yellow flags“ (psychosoziale Prädiktoren für eine chronisches Schmerzsyndrom), die über die medikamentöse Therapie hinaus mit psychotherapeutischen und physiotherapeutischen Maßnahmen angegangen werden müssen. Zusätzlich wird eine Beratung der Familie über den Sozialdienst erfolgen und eine stationäre Behandlung der Patientin in einer für chronische Schmerzen spezialisierten psychosomatischen Klinik beantragt.
In der Zwischenzeit wurde Duloxetin (Cymbalta®) auf 120 mg/die erhöht, was zu einer Linderung der Positivsymptome und einer Verbesserung der Stimmungslage der Patientin führt, jedoch nicht in einem für die Patientin ausreichenden Maß, so dass wegen hauptsächlich abends und nachts bestehenden Brennschmerzen ein Therapieversuch mit 100 mg Tramadol ret. zum Abend begonnen wird. Wegen Übelkeit und Verschlechterung der Schwindelsymptomatik, trotz Gabe von Paspertin 30 gtt oder Cetirizin 10 mg 20 min vor der Tramadol-Gabe wird der Therapieversuch von der Patientin abgebrochen. Es folgt ein Therapieversuch mit Gabapentin (bis 1.800 mg) mit mäßigem Erfolg, der nach 6 Wochen auf Pregabalin 2 x 150 mg umgestellt wird, da die Patientin nicht 3 x tgl. die großen Kapseln schlucken will.
Unter der Kombination von Duloxetin 120 mg und Pregabalin 2 x 150 mg sind die neuropathischen Beschwerden gelindert, aber der Schwindel und die Gangunsicherheit unverändert. Das Schlafverhalten hat sich gebessert, aber die Beinödeme haben zugenommen, sodass die Patientin wegen dieser Nebenwirkung die Medikation absetzen will. In Gesprächen mit ihrem Hausarzt sowie mit der Schmerzambulanz kann die Patientin vorerst davon abgehalten werden. Die Diabetesschulung führt zu einer Verbesserung des HbA1c-Wertes und zu einer geringen Gewichtsreduktion. Beides wird auch positiv von der Patientin gesehen, aber sie erwartet sich nun auch eine rasche Besserung ihrer durch die DPNP bedingten Beschwerden.
Die 4 Warnsignale: