Polyzythaemia vera (PV), essenzielle Thrombozythämie (ET) und primäre Myelofibrose (PMF) bilden die Gruppe der Philadelphia-negativen myeloproliferativen Neoplasien (MPN). Diese zeichnen sich durch die Vermehrung einer oder mehrerer, relativ ausreifender Zelllinien aus. Durch genetische Instabilität kommt es zur Anhäufung von Mutationen. Davon am häufigsten betroffen ist die JAK2-Tyrosinkinase, die die Wirkung wichtiger hämatopoetischer Wachstumsfaktoren vermittelt. Über eine konstitutionelle Aktivierung dieser Kinase kommt es zu einem wesentlichen Proliferationsvorteil der betroffenen Zellen.
Klinisches Bild: Die PV zeichnet sich primär durch eine Hämatokriterhöhung aus. Begleitend treten oft Leuko- und Thrombozytosen auf. Bei der ET ist die Thrombozytose dominant, eine milde Leukozytose kann jedoch vorkommen. Die PMF imponiert im frühen, präfibrotischen Stadium mit gesteigerter Megakaryo- und/oder Granulopoese. Ein großer Teil der MPN-Patienten ist bei Diagnose asymptomatisch. Die wichtigsten Erstmanifestationen sind arterielle und venöse Thromboembolien. Letztere treten häufig an atypischen Lokalisationen (Splanchnikusgebiet, Budd-Chiari-Syndrom) auf. Klinisch bestehen vor allem in Frühstadien viele Gemeinsamkeiten wie konstitutionelle Symptome (Fatigue, Juckreiz, Nachtschweiß, Fieber, Gewichtsverlust), Splenomegalie und Mikrozirkulationsstörungen. Besonders typisch ist die Erythromelalgie, eine auffällige und oft sehr schmerzhafte Rötung von Handoder Fußflächen.
Diagnose: Im Rahmen der WHO-Klassifikation 2008 wurden revidierte Richtlinien zur Diagnose der MPN veröffentlicht (Tefferi und Vardiman, Leukemia 2008, 22:14). Das Vorliegen der am häufigsten vorkommenden JAK2V617F-Mutation gehört seither zu den diagnostischen Hauptkriterien aller drei MPN. Daneben basiert die Diagnose von ET und PMF wesentlich auf der Knochenmarkhistologie. Supprimierte Erythropoetinspiegel und autonomes Stammzellwachstum sind essenziell für die Diagnose einer PV. Die PMF ist eine progrediente Erkrankung, aus der sich immer eine terminale Fibrose entwickelt. Nicht zuletzt deshalb ist die PMF jene myeloproliferative Neoplasie mit dem weitaus kürzesten Survival. Die Lebenserwartung von ET-Patienten ist nahezu normal. Diagnostisch kann die Unterscheidung zwischen ET und früher, präfibrotischer PMF aufgrund zahlreicher Überlappungen in Blutbild und Klinik schwierig sein, sie ist jedoch angesichts der unterschiedlichen Prognose besonders relevant. Nicht zuletzt deshalb wurde in den WHO-Richtlinien 2008 der Histopathologie mehr Bedeutung verliehen. Eine leukämische Transformation kann bei allen drei MPN vorkommen und ist mit einer dramatischen Verschlechterung der Prognose verbunden.
Risikogruppen: Arterielle und venöse Thromboembolien sind die wesentlichsten Mortalitätsfaktoren bei PV und ET. Die Risikostratifizierung zielt deshalb auf eine Verringerung des individuellen Thromboembolierisikos ab. Alter über 60 Jahre und eine positive Anamnese gelten als besonders ungünstig. Bei Anwesenheit zumindest eines dieser beiden Faktoren spricht man von Hochrisikopatienten. Patienten unter 60 Jahren ohne stattgehabte vaskuläre Ereignisse gehören zum Niedrigrisikokollektiv. Sollten diese Patienten andere kardiovaskuläre Risikofaktoren aufweisen (Diabetes, Hypertonie, Nikotinabusus, Hyperlipidämie, Thrombophilie), werden sie einer intermediären Risikogruppe zugerechnet. Manche Autoren ziehen auch die Thrombozytenzahlen zur Abschätzung des Thromboembolierisikos heran. Relativ neue, noch nicht in großen Patientenkohorten evaluierte Risikofaktoren sind erhöhte Leukozytenzahlen und ein positiver JAK2V617F-Status.
Therapieoptionen: Die Aderlasstherapie zur Kontrolle des Hämatokrits ist das wichtigste therapeutische Standbein bei der PV. Niedrig dosiertes Aspirin (100 mg pro Tag) wird für alle Patienten empfohlen, solange keine Kontraindikationen (Blutungsanamnese, Bronchialasthma oder ein erworbenes Von-Willebrand- Syndrom bei exzessiv erhöhten Thrombozytenzahlen) vorliegen. Bei hohem Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis (s. o.) wird zusätzlich eine zytoreduktive Therapie empfohlen. Der klinische Standard ist hierbei das breit myelosuppressiv wirksame Hydroxyurea. Als zugelassene Alternative bei ausgeprägter Thrombozytose bietet sich Anagrelid an.
ET-Patienten mit niedrigem kardiovaskulären Risiko erhalten keinerlei Therapie. Hochrisikopatienten werden in Analogie zur PV sowohl mittels Aspirin (cave: Kontraindikationen) und Zytoreduktion behandelt. Neue Daten belegen, dass Anagrelid bei nach den WHO-Kriterien 2008 diagnostizierter ET gleich wirksam ist wie Hydroxyurea. Eine langjährige Anwendung von Hydroxyurea wurde wiederholt mit einem vermehrten Auftreten leukämischer Transformationen in Verbindung gebracht. Anagrelid empfiehlt sich nicht zuletzt deshalb besonders für den Einsatz bei jungen Patienten. ET- und PV-Patienten mit intermediärem kardiovaskulären Risiko erhalten lediglich eine Therapie mit niedrig dosiertem Aspirin.
Risikogruppen: Bei der PMF sind portale Hypertension und Panzytopenie aufgrund fortschreitender Markfibrose die wichtigsten Todesursachen. Thromboembolien treten nur in der präfibrotischen Phase auf. Die Risikostratifizierung zielt deshalb auf die Prognose ab. Hier hat sich kürzlich der IPSS-Score etabliert, der PMF-Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose anhand von Alter, Ausmaß von Anämie und Leukozytose und Vorhandensein zirkulierender Blasten oder konstitutioneller Symptome in vier Risikogruppen (niedrig, intermedär-1 und -2, hoch) einteilt (Cervantes et al., Blood 2009, 113:2895). Das mediane Überleben der Niedrigrisikopatienten ist mit 135 Monaten 5- mal länger als das der Hochrisikopatienten.
Therapieoptionen: Die einzige potenziell kurative Therapieoption der PMF ist die allogene Stammzelltransplantation. In Abwesenheit verbindlicher Richtlinien ist sie aufgrund der hohen transplantationsassoziierten Mortalität (bis zu 30 % im ersten Jahr) relativ jungen, fitten Patienten mit zumindest Intermediär- 2-Risiko vorbehalten. Die anderen Therapieoptionen der PMF beschränken sich im Wesentlichen auf den Ausgleich von bestehenden Zytopenien und die Behandlung von Splenomegalie und konstitutionellen Symptomen. Zum Einsatz kommen neben Androgenen, Kortison, Erythropoetinen auch neuere Substanzen wie Thalidomid oder Lenalidomid. Splenektomie und Milzbestrahlung sind weitere Optionen. Zur Kontrolle der anfangs oft exzessiven Myeloproliferation werden in Analogie zu ET und PV Hydroxyurea und/oder Anagrelid verwendet. Bei jungen Patienten etabliert sich pegyliertes Interferon α zunehmend als Standardtherapie. Neben einer guten Kontrolle der Myeloproliferation und Verbesserung konstitutioneller Beschwerden wird oftmals auch ein molekulares Ansprechen mit Abnahme oder vollständiger Elimination der JAK2V617F-Mutationslast erreicht.
JAK2-Inhibitoren: Zu den neu eingeführten JAK2-Inhibitoren liegen zunehmend klinische Studiendaten vor, die neben einer Reduktion der Splenomegalie eine wesentliche Besserung der konstitutionellen Symptome belegen. Die Wirksamkeit ist unabhängig vom JAK2-Mutationsstatus. Bezüglich des hämatologischen und molekularen Ansprechens konnten sie jedoch bislang nicht überzeugen.
PV, ET und PMF sind unheilbare Erkrankungen mit stark unterschiedlichem Survival. Nach Diagnosestellung sollte mittels Risikostratifizierung die individuelle Therapiebedürftigkeit ermittelt werden. Das primäre Behandlungsziel bei PV und ET ist die Reduktion des kardiovaskulären Risikos. PMF-Patienten werden in erster Linie bezüglich der Notwendigkeit einer allogenen Stammzelltransplantation evaluiert.