Obwohl die Therapie onkologischer Erkrankungen in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte erzielt hat und Patienten dank innovativer Ansätze in Diagnostik und Therapie von mehr Lebenszeit und Lebensqualität profitieren können, ziehen diese Fortschritte auch Herausforderungen nach sich. Denn nach Beendigung einer erfolgreichen Primärtherapie darf die Betreuung des Patienten nicht enden und soll eine (multi-)professionelle psychische und physische Rehabilitation erfolgen. Besonders der Reintegration in den Beruf wird eine immer relevantere Rolle zugeschrieben. Es stellt sich die Frage, was es braucht und wessen es bedarf, um den Herausforderungen des Wiedereinstiegs nach einer Tumorerkrankung zu begegnen. Antworten auf diese Frage lieferten Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe, Vorstand des Zentrums für Onkologie und Hämatologie, 1. Medizinische Abteilung, Wilhelminenspital, und Prim. Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger, Medizinische Universität Wien, Präsident der Österreichischen Akademie für onkologische Rehabilitation und Psychoonkologie, Lebens.Med Zentrum Bad Erlach, im Rahmen einer von der Karl Landsteiner Gesellschaft organisierten Veranstaltung.
Prim. Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger
Medizinische Universität Wien, Präsident der Österreichischen Akademie für onkologische Rehabilitation und Psychoonkologie Lebens.Med Zentrum Bad Erlach
„Ist das Überleben gesichert (Heilung oder Chronifizierung der Tumorerkrankung), kommt die onkologische Rehabilitation ins Spiel.“
In seinem Impulsvortrag beleuchtete Prim. Hilbe die Chancen und Herausforderungen, die mit einer personalisierten onkologischen Therapie einhergehen. „Verglichen mit den Neunzigerjahren ist es ein Privileg, in der heutigen Zeit Onkologe sein zu dürfen, werden wir doch mit unglaublichen Dimensionen an neuen Therapiemöglichkeiten konfrontiert. Zudem haben wir gelernt, Nebenwirkungen besser zu managen“, betonte Hilbe.
Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe
Vorstand des Zentrums für Onkologie und Hämatologie,
1. Medizinische Abteilung, Wilhelminenspital, Wien
“Wirksame Therapien, die zu einer Chronifizierung der Erkrankung führen, bedingen immer auch das Langzeitmanagement, um den Patienten wieder vollständig in sein soziales Umfeld integrieren zu können.“
Erfolge in der Onkologie: Nicht nur ist in den letzten 25 Jahren die Sterblichkeit um circa 25 % zurückgegangen, sondern stieg auch die relative 5-Jahres-Überlebensrate von 55,9 % im Jahr 1995 auf über 60 % im Jahr 2012. Bei einigen Entitäten gelingt es mittlerweile sogar, außerordentlich hohe kumulative relative 5-Jahres-Überlebensraten zu erzielen (z. B. bei Schilddrüse, Hoden, Prostata > 90 %, bei Brust, Haut > 80 %; Zeitraum: 2008–20121). Im europäischen Vergleich des 5-Jahres-Überlebens liegt Österreich im Spitzenfeld. Auch die Zahl an Neuerkrankungen – sowohl bei Frauen als auch bei Männern – ist seit 1995 um 12,6 % rückläufig. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass die Bevölkerung zunehmend altert. So wird laut dem Experten die Anzahl an Personen über 65 Jahre – also jene Altersgruppe, in der Krebserkrankungen gehäuft auftreten – jährlich um 2,5 % zunehmen. Schätzungen der Fachgesellschaft zufolge wird sich bis 2050 die Prävalenz von Tumorerkrankungen in etwa verdoppeln. Es gilt, sich den daraus resultierenden Herausforderungen in der Versorgungsstruktur zu stellen.
Früherkennung und Outcomeverbesserung: Einen der Eckpfeiler der modernen Krebsmedizin stellt zweifelsfrei die Früherkennung dar. Vorsorgeuntersuchungen können dabei helfen, Tumoren in möglichst frühen Stadien zu erkennen und den Betroffenen so mehr Lebenszeit und -qualität zu verschaffen. Empfohlene (und erfolgreiche) Vorsorgeprogramme sind etwa das Mammakarzinom-Screening und die Melanomvorsorge. Bei entsprechender Vorsorge kann eine vollständige Heilung erzielt werden, wobei die lokale Therapie als Goldstandard anzusehen ist. Viel häufiger als von Heilung spricht man bei fortgeschrittener Erkrankung aber von Langzeitremission. So gelingt es heutzutage zum Beispiel, bei der chronisch myeloischen Leukämie durch eine einfache orale Therapie bei den meisten Patienten eine Remission bis zum Lebensende aufrechtzuerhalten.
Die Zukunft hat bereits begonnen: Während früher – in Ermangelung von Therapiemöglichkeiten – das Überleben als vorrangiges Behandlungsziel galt, steht mittlerweile dank des stark erweiterten Behandlungsarmamentariums die Lebensqualität des Patienten im Vordergrund. „Wirksame Therapien, die zu einer Chronifizierung der Erkrankung führen, bedingen immer auch das Langzeitmanagement, um den Patienten wieder vollständig in sein soziales Umfeld integrieren zu können“, so Prim. Hilbe. Immer größere Bedeutung ist – neben den zielgerichteten Therapien – definitiv der immunologischen Betrachtung des Tumors zuzuschreiben. Denn der enorme Fortschritt in der Krebsmedizin ist nicht zuletzt auf die Implementierung von immuntherapeutischen Medikamenten in die Behandlung von Tumorpatienten zurückzuführen. So hat sich auch die Immuntherapie neben den klassischen Therapien als weiterer Eckpfeiler in der Behandlung von Krebs etabliert.
Herausforderungen meistern: „Die Dynamik in der Entwicklung neuer Behandlungsstrategien scheint schier grenzenlos“, resümierte Hilbe. Daher wird das „Liniendenken“ (First Line, Second Line …) immer mehr in den Hintergrund gedrängt, und Erhaltungs- und/oder Impulstherapien werden zunehmend wichtiger werden. „Die dramatische Zunahme von Wissen stellt uns Onkologen vor enorme Herausforderungen, denn es gilt nicht nur, das generierte Wissen aufzubereiten, sondern auch an unsere Patienten weiterzuvermitteln.“ Dass Patienten von einem Wissenstransfer profitieren, ist laut dem Vortragenden belegt und kann mittels adäquater Technik/Technologie, Leitlinien, standardisierten Vorgehensweisen (SOPs), Aufbau von Teams und Netzwerken sowie Expertenwissen gewährleistet werden.
„Vom Überleben zum Leben zurückführen“, so lautet laut Prim. Gaiger die Aufgabe der Rehabilitation und der Psychoonkologie als Teil eines onkologischen Gesamtkonzeptes. „Ist das Überleben gesichert (Heilung oder Chronifizierung der Tumorerkrankung), stellen sich für die Betroffenen (Patienten, Angehörige…) neue Aufgaben – das Leben mit oder nach einer Tumorerkrankung –, und hier kommt die onkologische Rehabilitation ins Spiel“, erläuterte Gaiger. Es handelt sich hierbei um ein hochwirksames Verfahren, welches evidenzbasiert zu einer signifikanten Verbesserung von Funktionsstörungen (Ängstlichkeit, Depressivität, Disstress, posttraumatische Belastungsstörung, Müdigkeit) und der Lebensqualität führt. Rehabilitation, als Teil eines onkologischen Gesamtkonzeptes, steht allen Österreicherinnen und Österreichern zur Verfügung und wird (mit Ausnahme des gesetzlich definierten Selbstbehaltes) von den Sozialversicherungen bezahlt.
Ein Tumor lässt sich meist mit bildgebenden Verfahren sichtbar machen, die Gedanken und Gefühle eines Krebspatienten hingegen nicht. Wie sich diese im Verlauf der Erkrankung verändern, können Außenstehende nicht immer unmittelbar erkennen oder nachempfinden. Die Diagnose einer „bösartigen“ Erkrankung bedeutet für die Betroffenen eine existenzielle Krise. Betroffen sind aber nicht nur die Menschen, die wir Patienten nennen, sondern auch ihre Partner, Kinder, Eltern und wir – Ärzte, Pflegende, Psychologen und Psychotherapeuten“, betonte Gaiger.
Das Besondere dieser Krisensituation ist die gleichzeitige Änderung körperlicher (Krankheit und ihre Symptome, Nebenwirkungen der Therapie, Anämie, Neuropathien, „chemobrain“ …), seelischer (Ängstlichkeit, Depressivität, Einsamkeit, Suizidalität, Einschränkungen der Sexualität …) und sozialer (Armut, Bildungsmangel, sozialer Abstieg …) Bereiche unseres Daseins und das häufige Auftreten posttraumatischer Belastungsreaktionen.
Das soziale Gewicht einer Krebserkrankung: Psychische Faktoren wie Armut und Bildung (sozioökonomischer Status) wirken sich nachweislich auf den Krankheitsverlauf aus. Betrachtet man beispielsweise die kumulative Sterblichkeit von Männern und Frauen in Europa im Alter von 65 Jahren, zeigt sich, dass Frauen mit hoher Bildung im Vergleich zu Männern mit geringer Bildung eine um 12 % geringere Sterblichkeit aufweisen.2 Zudem zeigt sich laut Gaiger, dass je niedriger das Familieneinkommen ist, desto höher ist das Risiko für eine Depression und desto höher auch das Disstresslevel. Studien haben belegt, dass Personen mit höheren Belastungen (wie etwa Disstress, Armut und Bildungsmangel) deutlich von einer psychosozialen Intervention profitieren können. Allerdings befinden sich Patienten mit höherem Einkommen häufiger in psychologischer Betreuung als Patienten mit niedrigerem Einkommen. „All diesen Patienten ist eines gemeinsam: der Schicksalsschlag einer Tumorerkrankung.
Wir wissen heute durch zahlreiche Studien, dass das Überleben und die Lebensqualität nach Tumorerkrankungen nicht nur von etablierten biologischen Faktoren, sondern auch von der sportlichen Aktivität, sozioökonomischen (Bildung und Einkommen) und psychischen Faktoren beeinflusst wird. Trotzdem werden diesen Faktoren in der Behandlung und der Kommunikation im Klinikalltag zu wenig Aufmerksamkeit beigemessen. Die onkologische Rehabilitation bietet, in Zusammenarbeit mit der Pensionsversicherungsanstalt, Betroffenen hierbei eine strukturierte Unterstützung“, verdeutlichte der Experte.
Der Effekt von Sport: Zahlreiche Studien zeigen, dass bei Brust- und Darmkrebs eine Bewegungstherapie (Sport) zu einer signifikanten Senkung der karzinomspezifischen und der Gesamtmortalität führen kann. Besondere Bedeutung kommt der Prehabilitation zu. Hierbei wird vor einem operativen Eingriff oder intensiven Chemotherapien oder Stammzelltransplantationen mittels individuell angepasstem Training die körperliche Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Patienten erhöht, um den Therapieerfolg und insbesondere die Nebenwirkungen und Folgen der Behandlung zu verbessern. Sport führt bei „cancer survivors“ zu einer Verbesserung von therapie- oder krankheitsassoziierten Nebenwirkungen (beispielsweise Fatigue). „In dem Maße, in dem wir Tumorerkrankungen immer besser behandeln können, werden auch neue Assistenzsysteme wie Telemedizin und E-Health bei der Unterstützung von Menschen mit chronischen Erkrankungen eine Rolle spielen.“ Diese werden bereits im Rahmen einer durch Prof. Gaiger geleiteten Studie (EU-Projekt ESMART) gegenwärtig an der Medizinischen Universität Wien und am AKH Wien getestet.