Gastroenterologische Manifestationen der autonomen Neuropathie

Subklinische Anzeichen einer autonomen Neuropathie lassen sich bei Patienten mit Typ-2-Diabetes meist schon innerhalb eines Jahres, bei Patienten mit Typ-1-Diabetes innerhalb von 2 Jahren nach Diagnosestellung nachweisen. Klinische Symptome treten in der Regel aber oft erst nach vielen Jahren auf.

 

Die Häufigkeit gastrointestinaler Probleme bei Diabetikern beschrieben Feldman & Schiller (Ann Intern Med 1983) in einem allerdings selektionierten Patientengut mit bis zu 75 %. In einer neueren Studie in einem unselektionierten Krankengut gaben ca. 40 % der befragten Diabetes patienten zumindest ein gastrointestinales Symptom an (Bytzer et al., Arch Intern Med 2001). Eine gestörte Magenentleerung ist nach Camilleri (NEJM 2007) bei ca. 50 % der Patienten mit langjähriger Diabeteserkrankung messbar. Dies hat oft aber keine klinischen Auswirkungen. Beschwerden finden sich bei rund 10 % der Betroffenen. Auch ist die Progredienz einer symptomatischen gastrointestinalen Neuropathie in den meisten Fällen gering (Jones et al., Am J Med 2002). Trotzdem gibt es einzelne Patienten mit schwerer Symptomatik, häufig in Asso ziation mit anderen Spätkomplikationen und schlechter Blutzuckereinstellung. Die diabetische autonome Neuropathie (DAN) kann sich prinzipiell im gesamten Gastrointes – tinaltrakt manifestieren und zum Teil sehr unterschiedliche Symptome auslösen (> Tab. 1). Im Folgenden soll vor allem auf Gastroparese und Diarrhö im Zusammenhang mit einer DAN eingegangen werden.

 

 

Autonome Regulation gastrointestinaler Funktionen

Im Magen hat der Nervus vagus entscheidenden Anteil an der Regulation der Aufnahme, der Zerkleinerung und des Weitertransports der Nahrung. Daneben werden die gastrointestinalen Funktionen vor allem durch das enterische Nervensystem beeinflusst, das die Darmmotilität, den enteralen Stoffaustausch (Sekretion, Absorption), den Blutfluss und das lokale Immunsystem kontrolliert. Als weiteres zentrales Steuerungselement bestimmen die interstitiellen Zellen von Cajal (ICC) über zyklische Depolarisationen die maximale Kontraktionsfrequenz des Verdauungstraktes (Costa et al., Neurogastroenterol Motil 2005).
Die gastrointestinalen Funktionen werden darüber hinaus durch Hormone kontrolliert. Das bei Nahrungskontakt aus dem Duodenum freigesetzte Cholecystokinin (CCK) stimuliert die Pankreas- und Gallesekretion und hemmt die Magenentleerung. Dieser Regelkreis wird als „duodenale Bremse“ bezeichnet und ist dafür verantwortlich, dass der Mageninhalt in kleinen Portionen entleert wird und die erforderlichen Verdauungssekrete bereitgestellt werden (Fried et al., Gastroenterology 1991). Im Ileum erfüllen die Inkretinhormone Glucagonlike Peptide (GLP) 1 und Peptid YY (PYY) eine ähnliche Funktion, indem die Insulin sekretion stimuliert und die Darmmotilität verlangsamt wird. Im physiologischen Zustand ist diese „Ileumbremse“ daran beteiligt, dass die durch die Nahrungsaufnahme angeregten Verdauungsfunktionen wieder auf den Nüchternzustand zurückgeschaltet werden. Im Fall einer Malabsorption könnte die Verzögerung des Transits auch verbesserte Resorptionsbedingungen schaffen (Read et al., Gastroenterology 1984; Keller et al., Am J Physiol 1997). Gastrointestinalen Motilitätsstörungen bei Diabetes liegen einerseits Störungen des autonomen und des enterischen Nervensystems und der ICC-Schrittmacherfunktion zu grunde, andererseits aber auch eine Dysfunktion der hormonellen Regulation und der glatten Muskulatur. Hinzu kommt, dass bei Diabetikern die Hyperglykämie die Magenentleerung verzögert (Fraser et al., Diabetologia 1990; Schvarcz et al., Gastroenterology 1997) und sonstige gastrointestinale Funktionen hemmt (Lam et al., Pancreas 1999). Experimentelle Studien weisen außerdem auf eine Assoziation von Gastroparese und dem Verlust von ICC hin, vermutlich als Folge von oxidativem Stress bei chronischer Hyperglykämie (He et al., Gas troenterology 2001; Choi et al., Gastroenterology 2008).

Diagnose von Magenentleerungsstörungen

Wenngleich die DAN als wichtigster Pathomechanismus gastrointestinaler Störungen bei Diabetespatienten gelten kann, wird die Diagnose durch die oft multifaktorielle Entstehung erschwert, wobei sich die relative Bedeutung der einzelnen Pathomechanismen meist nicht exakt klären lässt. Auch lässt sich, wie eine rezente Studie an Patienten mit (diabetischer und nicht-diabetischer) autonomer Neuropathie illustriert, von der klinischen Symptomatik nicht verlässlich auf eine verzögerte oder beschleunigte Magenentleerung schließen (> Abb.). Darüber hinaus sollte bei Diabetespatienten mit gastrointestinalen Beschwerden immer auch eine Abgrenzung organischer Erkrankungen wie z. B. zur Zöliakie (bei Typ-1-Diabetikern mit Diarrhö) bzw. zum Kolonkarzinom (bei Typ-2-Diabetes mit schmerzhafter Obstipation) erfolgen.

 


Als Referenzverfahren für die Bestimmung der Magenentleerung gilt, vor allem in den USA, die Szintigraphie (Abell et al., Am J Gas troenterol 2008). 13C-Atemtests sind kli – nisch ebenfalls gut etabliert und werden unter anderem von der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten als Diagnose-Tool empfohlen (Keller et al., Z Gastroenterol 2005). Gegen den Einsatz der Sonographie spricht primär die Untersucherabhängigkeit der Mess ergebnisse, gegen die Magnetresonanztomographie (MRT) die im Vergleich hohen Kosten.

Therapie der Gastroparese

Neben der Optimierung der Diabeteseinstellung kann die Therapie der Gastroparese auf diätetische sowie auf medikamentöse Maßnahmen zurückgreifen. Zur Ernährung bei Patienten mit gestörter Magenfunktion gibt es keine gezielten Untersuchungen. Üblicherweise werden pragmatisch mehrere kleine Mahlzeiten mit niedrigem Ballaststoff- und Fettgehalt sowie kalorienreiche Getränke (auch als Zusatz) verabreicht. Bei Versagen dieser Maßnahmen wird die Ernährung mittels Jejunalsonde bzw. Jejunos tomie versucht, bevor an eine teilweise oder vollständige parenterale Ernährung gedacht wird (Gentilcore et al., Curr Diabetes Rep 2003).

Prokinetika: Für die medikamentöse Therapie der Gastroparese sind zum einen Domperidon (4 x 20 mg) und zum anderen Metoclopramid (4 x 10 mg) zugelassen. Beide sind über die Antagonisierung von Dopamin-D2-Rezeptoren symptomatisch wirksam. Metoclopramid kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden und extrapyramidale Nebenwirkungen auslösen (bei bis zu 15 % der Behandelten treten nach > 3 Monaten potenziell irreversible tardive Dyskinesien auf). Ein weiteres Problem ist der Wirkverlust bei Dauertherapie.

Erythromycin wirkt über die Aktivierung von Motilin rezeptoren als potentes Prokinetikum, besitzt in dieser Indikation allerdings keine Zulassung. Erythromycin kann i. v. (akut 200 mg, vor der Mahlzeit 50–100 mg) oder peroral (3 x 250 mg) verabreicht werden, wobei bei i. v. Gabe eine bessere Wirksamkeit gegeben ist. Im Gegensatz dazu verursachen antibiotisch wirksame Dosierungen eine chaotische Motilität. Problematisch ist auch hier die Tachyphylaxie, außerdem die antibiotische Wirkung und die Abschwächung der prokinetischen Wirkung durch Hyperglykämie. Außerdem kann es aufgrund der Verminderung der Magenakkomodation zur Verschlechterung der dyspeptischen Symptome kommen.

Mitemcinal besitzt eine starke prokinetische Wirkung und erreicht eine signifikante Besserung von Gastroparese-Symptomen bei Diabetikern (McCallum et al., Aliment Pharmacol Ther 2007). Die sonstigen bisher bekannten Motilide (KC 11458, ABT-229) haben keine überzeugende therapeutische Wirkung gezeigt (Russo, Aliment Pharmacol Ther 2004; Talley, Gut 2001).

Als neues Prokinetikum steht Prucaloprid zur Verfügung. Dieses Präparat ist neuerdings zur Therapie der Obstipation bei Frauen zugelassen, sofern diese nicht ausreichend auf Laxantien anspricht oder Laxantien nicht vertragen werden. Es wirkt ähnlich wie das vor Jahren vom Markt genommene Cisaprid als 5-HT4-Rezeptor-Agonist. Diese Rezeptoren finden sich im Bereich des gesamten Gas – trointestinaltrakts. Deshalb ist anzunehmen, bislang aber nicht durch systematische Studien belegt, dass Prucaloprid auch bei Gastroparese wirksam sein dürfte.

Die therapeutischen Optionen bei refraktärer Gastroparese sind begrenzt: Die intrapylorische Injektion von Botulinumtoxin ist nach neueren placebokontrollierten Studien nicht wirksam. Chirurgische Eingriffe sind nach unkontrollierten Studien mit kleinen Fallzahlen bei mäßigem symptomatischem Effekt mit z. T. erheblichen Komplikationen verbunden (Jones et al., Am J Gastroenterol 2003). Magenschrittmacher– Systeme (Enterra®) verbessern die Symptomatik, den Ernährungszustand und die Blutzuckerkontrolle, haben aber einen allenfalls geringen Effekt auf die Magenent leerung (O’Grady, World J Surg 2009). Neue Studien haben gezeigt, dass der Effekt auch bei vo – rübergehendem Abschalten des Schrittmachers anhalten kann (McCallum et al., Clin Gastroenterol 2010a). Langzeitstudien zeigen darüber hinaus positive Effekte der Schrittmachertherapie über bis zu 10 Jahre (McCallum et al., Clin Gastroenterol 2010b).

Diagnose und Therapie der diabetischen Diarrhö

Die pathogenetische Basis der diabetischen Diarrhö ist noch komplexer als jene der Gastroparese: Neben neuropathisch bedingten Motilitäts- und/oder Sekretionsstörungen kommen unter anderem bakterielle Fehlbesiedelung (als Folge der gestörten Motilität und/oder einer Abwehrschwäche), exokrine Pankreasinsuffizienz, gestörte Gallesekretion sowie Zöliakie (als assoziierte Erkrankung) ursächlich infrage, darüber hinaus diabetesspezifische Medikamente (Zuckeraustauschstoffe, Acarbose, Metformin). Entsprechend erfordert die Abklärung eine umfassende Differenzialdiagnostik (> Tab. 2).

 


Die Therapie der DAN-bedingten Diarrhö gestaltet sich häufig schwierig. Mögliche Optionen sind Quellmittel (Floh samenschalen), die bei stärkerer Ausprägung aber häufig nicht ausreichend wirksam sind, weiters Antidiarrhoika zur Herabsetzung der Motilität (Loperamid, Opiumtropfen) und/oder der Sekretion (Opiumtropfen, Racecadotril). Bei Nichtansprechen kann eine Therapie mit Clonidin oder Octreoid erwogen werden, bei schwerer exokriner Pankreas insuffizienz die Gabe von Pankreasenzymen.

ZUSAMMENFASSUNG: Bei bis zu 50 % aller Diabetespatienten finden sich subklinische gastrointestinale Funktionsstörungen, bei ca. 10 % klinisch manifeste Beschwerden mit relevanter Einschränkung der Lebensqualität. Die diabetische autonome Neuropathie (DAN) ist der wichtigste, aber nicht der einzige Einflussfaktor im Rahmen einer komplexen Pathogenese, wobei sich die exakte Bedeutung der einzelnen Pathomechanismen im konkreten Fall meist nicht klären lässt.
An die Möglichkeit einer gastrointestinalen DAN sollte bei jedem Diabetespatienten gedacht und entsprechend routinemäßig nach gastrointestinalen Beschwerden gefragt werden. Bei progredienten, belastenden, anhaltenden und/oder mit Warnsymptomen assoziierten Beschwerden sollten unter Zuhilfenahme von Bildgebung und Labortests die relevanten Differenzialdiagnosen (z. B. Kolonkarzinom, Zöliakie) ausgeschlossen und die Symptomatik durch gezielte Funktionsdiagnostik spezifiziert werden.