Gendermedizin in der Diabetologie

Geschichtlich waren die Medizin – damit auch die Diabetologie – und das Verständnis von Gesundheit und Krankheit stark androzentrisch geprägt. Frauen konnten in Österreich erst seit 1900 Medizin studieren. Zuvor waren lediglich Hebammen akzeptiert, die in der Entwicklung der Geburtshilfe und Gynäkologie einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Studien wurden lange Zeit vor allem an Männern durchgeführt, da Frauen einfach als eine kleine Variante des Mannes gesehen wurden.1 Alleine bei Schwangerschaft und Geburt konnte diese Reduktion der Frau auf einen „kleinen Mann“ nicht erfolgen.
Diabetes ist seit Jahrhunderten bekannt, und seine Behandlung machte besonders ab dem 20. Jahrhundert enorme Fortschritte. In den 1920er-Jahren wurde erstmals Insulin zur Behandlung eingesetzt, in den 1960er-Jahren der Zusammenhang von Übergewicht und Diabetes hergestellt, in den 1970ern die ersten (wenngleich noch schwergewichtigen) Insulinpumpen entwickelt, 1976 die Verwendung des HbA1c als Marker vorgeschlagen, in den 1980er-Jahren kamen die ersten Glukosemessgeräte für den Heimgebrauch auf den Markt, und die modernen Insulin-Pens sind seit den 1990er-Jahren erhältlich.2 Heute haben wir eine Fülle von Medikamenten zur Verfügung und neue Devices für Glukose-Monitoring, die eine Präzisionstherapie zunehmend ermöglichen.

Vom Mittelalter ins Jetzt

Auch im Mittelalter gab es bereits die Erkenntnis, dass das Geschlecht für die körperliche und seelische Gesundheit eine Rolle spielt. Paracelsus sprach von zweierlei Medizin für Männer und Frauen, Hildegard von Bingen beschrieb die Melancholie bei Männern und Frauen unterschiedlich. Die Gendermedizin im heutigen Kontext hat sich aber im Gegensatz zur Diabetologie, welche ihren Ursprung immer schon in der Medizin hatte, aus der Frauenbewegung der 1960er-Jahre und der ihr folgenden Frauen- und Männergesundheitsforschung entwickelt.3, 4 Dieser stark gesellschaftliche Ursprung zeigt sich auch in vielen der folgenden Frauen- und Männergesundheitsberichten.5–7 Marianne J. Legato hat in den 1990er Jahren die Gendermedizin als Wissenschaft definiert, die untersucht, wie sich das biologische Geschlecht (Sex) von Männern und Frauen unterscheidet und die Manifestation, die Mechanismen und die Behandlung von Erkrankungen aufgrund des psychosozialen Geschlechtes (Gender) variieren.8 Bereits im Jahr 2001 wurde am Karolinska Institut das erste Zentrum für Gendermedizin gegründet. Nur kurze Zeit später, im Jahr 2007, folgte die Gründung der International Society of Gender Medicine.9 Zeitgleich wurde auch die Österreichische Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin ins Leben gerufen. Heute wird Gendermedizin als wichtiger Teil der Human- und damit auch der Präzisionsmedizin gesehen, welcher durch ein biopsychosoziales Modell von Gesundheit und Krankheit Sex und Gender berücksichtigt.9

Gender und Diabetes: Pathogenese, Diagnostik, Outcomes

Interessanterweise hat sich die Gendermedizin auch in der Diabetologie großteils aus der Frauenforschung entwickelt, aufgrund des hohen Schwangerschaftsrisikos von Frauen mit Hyperglykämie unabhängig vom Diabetestyp. Besonders der Schwangerschaftsdiabetes, der in der Forschung als ein gutes frauenspezifisches Modell des Typ-2-Diabetes erkannt wurde, hat hier das Interesse der Gendermedizin erweckt und zur Frage geführt: Unterscheiden sich die Diabetesentwicklung, die Diagnose und die Outcomes bei Männern und Frauen?
Das kann mittlerweile klar mit Ja beantwortet werden. Das ständige Wechselspiel von biologischem und psychosozialem Geschlecht ist bei Typ-2-Diabetes besonders gut zu erkennen, welcher neben der genetischen Prädisposition eine klare Korrelation zum Lifestyle hat und eine mit dem Alter ansteigende Inzidenz zeigt.10 Das Zusammenspiel der Sexualhormone spielt eine wichtige Rolle für das Risiko für Diabetes und seine Komplikationen. Männer haben weltweit betrachtet etwas häufiger Diabetes, werden in jüngerem Alter diagnostiziert und bei niedrigerem Gewicht als Frauen.11 Die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Typ-2-Diabetes beginnen allerdings schon im Diabetes-Vorstadium. Männer zeigen sehr viel häufiger als Frauen isoliert als Diabetes-Vorstadium eine erhöhte Nüchternglukose.12 Frauen hingegen zeigen häufiger als Männer eine gestörte Glukosetoleranz in Diabetes-Vorstadien. Besonders die Diagnose der gestörten Glukosetoleranz erfordert jedoch einen oralen Glukosetoleranztest, was wiederum zur Folge hat, dass Prädiabetes bei Frauen häufiger unerkannt bleibt.

Aber auch der Typ-1-Diabetes ist als Autoimmunerkrankung für die Gendermedizin sehr spannend, da im Immunsystem wichtige geschlechtsspezifische Unterschiede beschrieben sind. Auffällig ist auch die besonders bei Frauen schlechtere Prognose und der größere Verlust an Lebensjahren bei einer Erstmanifestation vor dem 10. Lebensjahr.

Gestationsdiabetes: Ein Glukosetoleranztest, wenn auch mit modifizierten, für die Schwangerschaft spezifischen Grenzwerten, ist auch sehr wichtig für die Diagnose des Gestationsdiabetes. Früher blieb Gestationsdiabetes oft unerkannt, obwohl dieser ein erhöhtes Risiko für Mutter und Kind darstellt. In Österreich gab es auch kein generelles Screening für Gestationsdiabetes. Zudem verwendeten unterschiedliche Krankenanstalten unterschiedliche diagnostische Kriterien. Auch eine evidenzbasierte Strategie zur Behandlung des Gestationsdiabetes fehlte.10 Bereits bei den ersten veröffentlichten Leitlinien der Österreichischen Diabetes Gesellschaft im Jahr 2004 wurde jedoch die Durchführung eines oralen Glukosetoleranz-Tests bei allen Frauen in der 24.–28. Schwangerschaftswoche – unabhängig vom Risiko – empfohlen.13 Dessen ungeachtet dauerte es noch bis zum Jahr 2010, bis der orale Glukosetoleranztest zur Abklärung eines möglichen Schwangerschaftsdiabetes in den Mutter-Kind-Pass aufgenommen wurde.

Epigenetische Effekte und fetale Programmierung beeinflussen auch stark das Risiko für Diabesity, zum Teil auch mit geschlechtsabhängigen Unterschieden. So hatten Männer ein höheres Diabetesrisiko, wenn im Geburtsjahr eine Hungersnot herrschte.14

Psychosoziale Aspekte: Neben den biologischen Gegebenheiten und Umweltfaktoren spielen auch psychosoziale Faktoren eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und dem Verlauf von Diabetes mellitus. Frauen mit niedrigem Sozialstatus und schlechter Ausbildung haben beispielsweise ein höheres Diabetes-Risiko. Diabetikerinnen empfinden überdies ihre Lebensqualität, besonders die psychische Lebensqualität, deutlich schlechter als Diabetiker.12

Aufnahme in österreichische Praxisempfehlungen

Im Jahr 2009 widmeten sich erstmals auch die Leitlinien der Österreichischen Diabetes Gesellschaft mit einem eigenen Kapitel geschlechtsspezifischen Aspekten für die klinische Praxis bei Prädiabetes und Diabetes mellitus.15 Im Mai kommen die aktualisierten Empfehlungen heraus, und das Kapitel zu geschlechtsspezifischen Aspekten ist wieder angewachsen. Trotz der Fülle an neuen Daten besteht immer noch ein großer Aufholbedarf in der Wissenschaft, sowohl in der Grundlagenforschung als auch translational in klinischen Studien und besonders in der Medikamentenforschung.

Resümee

Gendermedizin dient der optimierten Prä­vention und medizinischen Versorgung von Männern und Frauen, was gerade bei NCDs wie Diabetes gesellschaftlich und gesundheitspolitisch notwendig ist. Wir sind auf gutem Weg, aber es liegt noch eine lange Strecke vor uns!

 

1 Ruiz MT et al., J Epidemiol Community Health 1997; 51(2): 106-9, DOI: 10.1136/jech.51.2.106
2 Polonsky KS, N Engl J Med 2012; 367(14):1332–40, DOI: 10.1056/NEJMra1110560.
3 Legato MJ (Ed.), Principles of Gender-Specific Medicine. 2. Ed. London: Elsevier Inc.; 2009
4 Miller V, Rice M, Schiebinger L, J Womens Health (Larchmt) 2013; 22:194–202
5 Habl C, Birner A, Hlava A, Winkler P, 1. Österreichischer Männergesundheitsbericht. Wien: Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz; 2004
6 Thümmler K, Britton A, Kirch W, Data and Information on Women’s Health in the European Union. Dresden: Technische Universität Dresden; 2009
7 Verein für prophylaktische Gesundheitsarbeit et al., Österreichischer Frauengesundheitsbericht 2010/2011. Wien: Bundesministerium für Gesundheit; 2011.
8 Harpaz BJ, Diagnosing Gender Differences in Health. Los Angeles Times [Internet]. 2 March 1997 [cited 2 March 1997]; Available from: http://articles.latimes.com/1997-03-02/news/mn-33984_1_gender-differences.
9 Thomas A, Kautzky-Willer A, Gender Medizin. In: Drink B, Nagelschmidt I, editors. Gender Glossar / Gender Glossary. Leipzig: Universität Leipzig; 2015. p. 7 Absätze. Available from: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-221273.
10 Kautzky-Willer A, Gender Medicine in Austria. In: Legato MJ, Glezerman M, editors. The International Society for Gender Medicine: History and Highlights. 1st Ed. London, San Diego, Cambridge, Oxford: Academic Press; 2017; p. 23–32
11 Harreiter J, Kautzky-Willer A, Front Endocrinol (Lausanne) 2018; 9: 220. DOI: 10.3389/fendo.2018.00220
12 Kautzky-Willer A, Genderaspekte. In: Griebler R, Geißler W, Winkler P, editors. Zivilisationskrankheit Diabetes: Ausprägungen – Lösungsansätze – Herausforderungen Österreichischer Diabetesbericht 2013. Wien: Bundesministerium für Gesundheit 2013; p. 64–5
13 Kautzky-Willer A et al., Acta Med Austriaca 2004; 31(5):182-4
14 Thurner S et al., Proc Natl Acad Sci USA 2013; 110(12):4703-7, DOI: 10.1073/pnas.1215626110
15 Kautzky-Willer A et al., Wien Klin Wochenschr 2009; 121(Suppl 5):S73–S6, DOI: 10.1007/s00508-009-1263-y