Dies umso mehr, als rezente Analysen zeigen konnten, dass alte Menschen mit
multiplen chronischen Erkrankungen insgesamt eine schlechtere Prognose quoad vitam aufweisen, wenn sie nach EBM-Kriterien behandelt werden. Die Einhaltung von EBM-Leitlinien zählt aber heute zum internationalen Qualitätsstandard an internistischen Fachabteilungen. Die moderne Geriatrie bewegt sich damit in einer Grauzone zwischen High-Tech- Medizin und einem diagnostischen/therapeutischen Nihilismus.
In Österreich wie auch in allen anderen westlichen Industrieländern ist das Bild der älter
werdenden Generation mit negativen Vorzeichen behaftet. Chronische Erkrankungen und Behinderungen, eine schwache soziale Position und unzureichende finanzielle Ressourcen prägen das Klischee vom „alternden Menschen“. Hinzu kommen häufig akute Erkrankungen, welche zur Aufnahme der Betroffenen in den akut-stationären Bereich führen. Dieses Versorgungssystem scheint derzeit nur sehr schleppend auf die quantitativen und qualitativen Bedürfnisse des hochaltrigen PatientInnensegments
vorbereitet zu sein. Die Frage, wie unsere Gesellschaft mit den zukünftigen Herausforderungen umgehen wird, hat somit nicht nur individuelle und ethische, sondern
auch eine volkswirtschaftliche Dimension.
Historisch gesehen hat sich der Zugang zu internistischen Erkrankungen in den letzten
Jahrzehnten deutlich gewandelt. Ausgehend von einem linearen, singulär diagnosezentrierten Zugang, also dem Erkennen eines Risikofaktors
als Marker für Frühveränderungen bis hin zum fortgeschrittenen Krankheitsbild, arbeiten
wir heute in der Betreuung internistischer Erkrankungen in konzentrischen Diagnoseund
Therapiekonzepten. Das bedeutet, der klinische Phänotyp einer Erkrankung wird mehreren Risikofaktoren zugeordnet. Die Diagnostik und die Therapie folgen dem Spektrum der bisher bekannten Einzelursachen für eine bestimmte Erkrankung. In der Regel liegen auch entsprechende Studiendaten für singuläre Endpunkte bezogen auf die Morbidität und die Mortalität vor. Diese Daten werden unter optimierten Studienbedingungen an PatientInnen erhoben.
Ältere multimorbide PatientInnen finden in diesem konzentrischen Denkansatz keine Berücksichtigung. Bei geriatrischen PatientInnen aber führt der synergistische Effekt und da Zusammenwirken von einzelnen, als Risikofaktoren für eine Erkrankung erkannten Veränderungen über das Auftreten der in Studien evaluierten Endpunkte Morbidität und Mortalität hinaus zu einem Verlust von funktionellen Reserven. Eine spezifische, auf Risikofaktoren gerichtete Intervention beeinflusst nicht nur die sekundäre Morbidität und Mortalität der Betroffenen, sondern auch die soziale Re-Integration der PatientInnen. Diese negativen Rahmenbedingungen fördern das „Frailty-Syndrom“, das in allen Stadien gekennzeichnet wird von „geriatrischen Syndromen“. Dazu zählen u. a. die Inkontinenz, Stürze per se, Druckulzera, der Verlust eines aktiven Zugangs zum täglichen Leben und verschiedene psychokognitive Veränderungen. Wird dem Gesamtkonzept
in der Akut-, aber auch in der Langzeitbetreuung geriatrischer PatientInnen nicht Rechnung getragen, entwickelt sich eine progrediente Abhängigkeit der Betroffenen in
pflegerischer Hinsicht, die zu einer progredienten Zuweisung in den Langzeitpflegebereich
führt und letztendlich sekundär eine deutlich höhere Morbiditäts- und Mortalitätsrate zur
Folge hat.
Fazit ist, dass die medizinische Betreuung und die Pflege multimorbider PatientInnen
auf die individuellen Bedürfnisse der PatientInnen, deren persönlichen Ziele und Werte
und ihre funktionellen Ressourcen abgestimmt sein muss. Die Betreuung muss evidenzbasiert sein, und wenn diese (noch) nicht umgesetzt ist, sollte sie einem anerkannten Konsensus im Sinne eines „Expert Panels“ folgen. Die individuellen
Bedürfnisse der Patienten sind in diesen Entscheidungsprozess einzubringen.
Ein Gütesiegel der Geriatrie ist die Arbeit im multidisziplinären und multiprofessionellen
Teams. Die Teamarbeit erfordert eine gute Koordination und die gleichen Informationen
für alle Mitglieder. Die Betreuung muss die Ressourcen und das Umfeld der zu betreuenden Person berücksichtigen. Der alte Mensch muss als aktiver Partner in sein eigenes Betreuungsprojekt integriert werden.
Diese Forderungen haben selbstverständlich auch Dimensionen für die alternde Gesellschaft innerhalb Europas. Demgemäß wurden 2007 von der EU-Kommission in Brüssel klare Forderungen an die Mitgliedstaaten formuliert. Diese sollen der Förderung der Gesundheit in einem alternden Europa dienen. Es besteht auf EU-Ebene ein klares Bekenntnis zur Förderung der aktiven Weiterentwicklung der geriatrischen Medizin, zur Unterstützung der Forschungsförderung im Fachbereich inklusive Langzeituntersuchungen und zur Etablierung differenzierter, nachhaltiger und dynamischer Gesundheitssysteme einschließlich aller Technologien in diesem Bereich. Es besteht auf EU-Ebene ein klares Credo zu einer verstärkten Aus- und Weiterbildung im Sektor Geriatrie. Damit birgt die Geriatrie mit ihrem Entwicklungspotenzial eine multidimensionale Dynamik, braucht aber auch einen entsprechenden Platz in der Welt der akademischen Medizin. Ausgehend von einer hochgradigen Spezialisierung im Fachbereich der Inneren Medizin stellt die Geriatrie auf Grund der strukturellen Gegebenheiten heute den Link zur „allgemeinen Inneren Medizin“ dar. Darüber hinaus bestehen auf Grund der multidimensionalen Behandlungspfade im Bereich der Geriatrie starke Bande zu anderen medizinischen Fachbereichen, wie der Neurologie, der Psychiatrie, der physikalischen Medizin und Rehabilitation, aber auch der Chirurgie und deren Subspezialitäten. Diese Kooperationen wenden sich aber auch an die Pflege und die Sozialmedizin, an die Pharmakologie, an die Zahnmedizin und andere im geriatrischen Bereich tätigen medizinischen Disziplinen.
Dies eröffnet nicht nur im Bereich der klinischen Versorgung von PatientInnen, sondern auch im Bereich der Forschung neue Dimensionen. Geriatrische PatientInnen werden medizinisch leider noch zu oft in evidenzbasierten klinischen Leitlinien spärlich bedacht. Eine mögliche Antwort aus akademischer Sicht ist die vermehrte Etablierung der „Comparative Effectiveness Research“ (CER) in der geriatrischen Forschung. Das Ziel ist dabei die Verbesserung der Qualität, der Effektivität und der Effizienz der individuellen Betreuung von PatientInnen sowie die Unterstützung von Professionisten des Gesundheitssystems zu einer strukturierten Entscheidungsfindung. CER zielt auf jene PatientInnenpopulationen ab, welche das Gesundheitssystem derzeit am meisten frequentieren: multimorbide PatientInnen mit zusätzlichen physischen, aber auch kognitiven oder anderen Verhaltensauffälligkeiten. Dazu zählen neben der Demenz auch das Endstadium einer Niereninsuffizienz oder eine fortgeschrittene chronische Herzinsuffizienz. Rezente Daten aus den USA belegen, dass dieses spezielle PatientInnenkollektiv für über 80 % der Kosten im Gesundheitssystem verantwortlich zeichnet. Gerade für jene Kombinationen an Symptomenkomplexen gibt es aber nur eine äußerst spärliche wissenschaftliche Datengrundlage. Interventionen werden also unmittelbar zwischen Populationen mit unterschiedlichen Symptomen und Krankheitskombinationen verglichen. Um in diesem Setting verlässliche Aussagen zu erzielen, müssen selbstverständlich, auf Grund der Heterogenität der Gruppen große Subgruppen in die longitudinalen Analysen involviert werden. Diese Subgruppen sollten möglichst die PatientInnen des klinischen Alltags reflektieren. Ein möglicher Nutzen, aber auch das Risiko und negative Effektive müssen lückenlos dokumentiert werden. Dadurch werden Informationen über die gesundheits- und pflegetechnischen Entscheidungen für Subgruppen von PatientInnen gewonnen. Zudem werden Vergleiche zwischen einer Leitlinien-gesteuerten Behandlung und dem innovativ-holistischen Zugang möglich. Forschungsfelder für dieses Setup im Fachbereich Geriatrie ist die Evaluierung von Risikofaktoren für die Entstehung komplexer Erkrankungen. Weiters können pathophysiologische Zusammenhänge zwischen Multimorbidität, Alterung und Funktionalität und Informationen zu Erholung nach dem Stress im Alter in Verbindung mit dem Langzeit-Outcome alter PatientInnen evaluiert werden. Präventionsstrategien auf einer Sekundär- und Tertiärebene, spezifische Behandlungskonzepte für geriatrische PatientInnen, aber auch System- und Versorgungsforschung im Zuge der demografischen Herausforderungen sind Zielbereich von CER.
Zu guter Letzt besteht im Fachbereich Geriatrie ein starker Auftrag im Bereich der Aus- und Weiterbildung. Auf Grund der raschen Wissensentwicklung im Fachbereich Humanmedizin erscheint es heute unabdingbar, auf der Basis des Modells eines „lebenslangen Lernens“ bereits im Bereich der universitären prägraduellen Ausbildung passende Erwachsenenbildungskonzepte zu entwickeln. Die Grundlage dafür stellt auch für den Fachbereich Geriatrie die „Best Medical Education“ (BEME) dar. Dies bedeutet die Ausbildung junger Kolleginnen und Kollegen auf Basis der täglichen klinischen Praxis und Arbeit, die auf den Grundpfeilern einer evidenzbasierten Medizin ruhen. Damit schließt sich im Fachbereich Geriatrie der Kreis zwischen moderner personalisierter Patientenbetreuung, der Forschung und der Lehre.
AUSBLICK: Die Frage bleibt, wie wir im nächsten Millennium den anstehenden Herausforderungen begegnen werden. Welche Versorgungsstrukturen werden die Führungsrolle in westlichen Industrieländern zur nachhaltigen Versorgung der Bevölkerung übernehmen können? Werden Abteilungen für Innere Medizin auch im Bereich der Versorgung hochbetagter, multimorbider PatientInnen ihre akademische Vorreiterrolle behalten? Mit der Etablierung von Professuren für Geriatrie an medizinischen Universitäten scheint ein erster Schritt in diese Richtung getan. In jedem Falle sollte die Innere Medizin die vorbestehende Herausforderung annehmen und die große Chance auf nachhaltige Entwicklung in der PatientInnenversorgung, in der Forschung und in der Lehre annehmen.