Es gibt nicht nur Hinweise darauf, dass Frauen und Männer unterschiedlich auf eine medikamentöse Therapie ansprechen können, sondern dass weibliches Geschlecht auch ein Risikofaktor für unerwünschte Arzneimittelwirkungen ist. Insgesamt dürfte das Risiko bei Frauen 1,5- bis 1,7-fach höher sein als bei Männern. Tatsächlich weisen viele Beobachtungen darauf hin, dass in Bezug auf Bioverfügbarkeit, Verteilung, Metabolisierung und Elimination von Arzneistoffen zum Teil beträchtliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Neben Unterschieden in den genannten pharmakokinetischen Einflussfaktoren gibt es auch Hinweise auf pharmakodynamisch bedingte Unterschiede in der Arzneimittelwirkung zwischen Frauen und Männern.
Geschlechtsspezifische Unterschiede in Ausmaß und Geschwindigkeit der Resorption im Gastrointestinaltrakt können die Bioverfügbarkeit peroral verabreichter Arzneimittel beeinflussen. Bioverfügbarkeit ist ein pharmakokinetischer Parameter, der den Anteil einer verabreichten Pharmakonmenge beschreibt, der tatsächlich für systemische, also den ganzen Körper betreffende Wirkungen, verfügbar ist. Es ist bekannt, dass bei Frauen der basale pH-Wert des Magensaftes um 0,5 Einheiten höher liegt als bei Männern und östrogenabhängig die Magenentleerung verlangsamt ist. Bei Frauen können daher im Vergleich zu Männern Bioverfügbarkeit und Wirkungseintritt eines peroral verabreichten Arzneimittels unterschiedlich sein. Auch hinsichtlich der Aktivität gastrointestinaler Enzyme wurden geschlechtsspezifische Unterschiede nachgewiesen. Eine geringere Aktivität der Alkoholdehydrogenase im Magen trägt bei Frauen zu einem verzögerten Abbau von Ethylalkohol bei.
Unterschiede bei der Dosierung beachten: Eine nicht unbedeutende Rolle können auch Unterschiede in den Verteilungsprozessen spielen. Frauen haben im Vergleich zu Männern durchschnittlich ein geringeres Körpergewicht, höheren Körperfettanteil, kleineres Plasmavolumen und eine stärkere Organdurchblutung. Werden diese Unterschiede bei der Dosierung von Arzneimitteln nicht berücksichtigt, besteht bei Frauen ein erhöhtes Risiko einer überstarken Arzneimittelwirkung, insbesondere bei einer Therapie mit wasserlöslichen Arzneistoffen. Die meisten Arzneistoffe werden im Blutplasma in mehr oder weniger hohem Ausmaß reversibel an Proteine gebunden. Offenbar besteht auch ein geschlechtsspezifischer Unterschied im Ausmaß der Plasmaproteinbindung. So ist etwa die Konzentration an saurem α1-Glykoprotein im Blutplasma bei Frauen geringer als bei Männern, sodass mit verminderter Proteinbindung basischer Arzneistoffe gerechnet werden muss.
Aktivität von CYP3A4 bei Frauen höher: Unterschiedliche Wirkungen von Arzneistoffen bei Frauen und Männern können auch auf komplexen Unterschieden in der Aktivität metabolisierender Enzyme beruhen. Die Biotransformation von Arzneistoffen findet vor allem in der Leber statt und läuft häufig in zwei Phasen ab. Phase-I-Reaktionen sind Funktionalisierungsreaktionen wie Oxidation, Reduktion oder Hydrolyse. Sie führen funktionelle Gruppen in das Molekül ein oder legen entsprechende Gruppen frei. Die Phase-II-Reaktionen sind Konjugationsreaktionen wie Glukuronidierung, Sulfatierung, Methylierung, Acetylierung sowie die Konjugation mit Aminosäuren oder Glutathion; sie werden durch Transferasen katalysiert. Insgesamt werden durch diese chemischen Veränderungen aus fettlöslichen Arzneistoffen gut wasserlösliche Metaboliten, die schneller über Niere und Galle ausgeschieden werden können. Darüber hinaus stellt der Arzneistoffmetabolismus ein Inaktivierungssystem dar, da viele Metaboliten entweder unwirksam sind oder deutlich abgeschwächt wirken.
Die Funktionalisierungsreaktionen werden vor allem durch das Cytochrom-P450-System (CYP) vermittelt, eine große Familie von Enzymen, wobei beim Menschen die Enzyme der CYP3A-Familie die wichtigste Rolle spielen. Unter ihnen ist CYP3A4 das in der Leber am stärksten exprimierte Isoenzym. CYP3A4 weist eine sehr breite Substratspezifität auf und ist an der Metabolisierung von mehr als 50 % aller therapeutisch eingesetzten Arzneistoffe beteiligt. Man hat nachgewiesen, dass die Aktivität von CYP3A4 im Erwachsenenalter bei Frauen um durchschnittlich 20–50 % höher ist als bei Männern, wobei die Unterschiede mit zunehmendem Alter deutlicher werden. Auch während einer Schwangerschaft ist die Aktivität von CYP3A4 erhöht. Vereinzelt gibt es Hinweise darauf, dass auch die Aktivität von CYP2B6 bei Frauen höher ist als bei Männern, wenngleich die Unterschiede weniger deutlich sind und die individuelle Schwankungsbreite der Aktivität dieses Enzyms sehr hoch ist. Umgekehrt scheint die Aktivität von CYP2E1, eventuell auch von CYP1A2 und CYP2D6, bei Frauen geringer zu sein als bei Männern. Hinsichtlich der Aktivität von CYP2C9 und CYP2C19 scheinen keine signifikanten Geschlechtsunterschiede zu bestehen. Neben den geschlechtsspezifischen sind auch interethnische Unterschiede in der Enzymaktivität bekannt. Beispielsweise verfügen Asiatinnen im Vergleich zu Kaukasierinnen über eine signifikant geringere Aktivität an CYP3A4. Geschlechtsspezifische Aktivitätsunterschiede wurden auch im Rahmen von Konjugationsreaktionen nachgewiesen. Die Aktivität glukuronidierender Enzyme etwa scheint bei Frauen geringer zu sein als bei Männern.
Unterschiede im Transportsystem: Geschlechtsspezifische Unterschiede sind auch auf Ebene der Transportproteine bekannt. P-Glykoprotein, ein für den aktiven Transport von Arzneistoffen aus der Zelle wichtiges Transportprotein, scheint bei Frauen zumindest in Leberzellen in geringerem Maße exprimiert zu sein als bei Männern. Der verminderte Transport von Arzneistoffen aus der Leberzelle kann zu einem höheren Maß an intrazellulärer Metabolisierung führen, etwa über CYP3A4. Bei Frauen dürfte eine geringere Aktivität des Transportsystems für organische Kationen in der Niere zumindest mitbeteiligt sein an der verminderten renalen Ausscheidungsleistung für manche Arzneistoffe wie etwa das Antiparkinsonmittel Amantadin. Bei der Elimination von Arzneistoffen über die Niere ist zu beachten, dass, unter Einbeziehung von Unterschieden im Körpergewicht, die glomeruläre Filtrationsrate bei Frauen etwa 10 % niedriger ist als bei Männern.
Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass geschlechtsspezifische Wirkunterschiede bei Arzneimitteln zumindest zum Teil auch pharmakodynamisch bedingt sein können. Es ist bekannt, dass der analgetische Effekt von Opioidanalgetika bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern und Frauen ein 60 % höheres Risiko haben, unter Opioiden unerwünschte Wirkungen wie Übelkeit und Erbrechen zu entwickeln. Am Wirkunterschied von Opioiden zwischen Frauen und Männern dürften Unterschiede in der Affinität und Dichte der Opioidrezeptoren sowie der Signalübertragungswege zumindest mitbeteiligt sein. In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, dass die Schmerzempfindung offenbar hormonell beeinflusst ist, und Frauen insgesamt anders auf Schmerz reagieren als Männer. Pharmakodynamisch bedingt ist wahrscheinlich auch das erhöhte Risiko von Frauen für arzneimittelinduzierte Torsades-de-pointes-Arrhythmien, die nach Einnahme von Arzneistoffen auftreten können, die im EKG die QT-Dauer verlängern wie einige Antiarrhythmika (Ibutilid, Sotalol, Amiodaron), Antibiotika (Erythromycin), Antipsychotika (Thioridazin) und andere. Da weibliches Geschlecht für ein längeres frequenzkorrigiertes QTc-Intervall prädisponiert, reagieren Frauen empfindlicher auf Arzneimittel, die eine QT-Verlängerung bewirken. Zwei Drittel aller arzneimittelinduzierten Torsades-de-pointes- Arrhythmien tritt bei Frauen auf. Für die geschlechtsspezifischen Unterschiede im QTc-Intervall dürften eher Androgene als Östrogene verantwortlich sein, da es bei Männern während und nach der Pubertät zu einer Verkürzung des QTc-Intervalls kommt.