Leber und Gastrointestinaltrakt als Opfer und Täter bei COVID-19

Im Interview mit UNIVERSUM INNERE MEDIZIN spricht Univ.-Prof. Dr. Michael Trauner, Leiter der Klinischen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie mit Intensivstation 13H1, Universitätsklinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien, angesichts der aktuellen COVID-19-Pandemie über das für ihn spannendste Thema in Bezug auf die Gastroenterologie: die Opfer-Täter-Situation. Es stellt sich heraus, dass die Gastroenterologie und Hepatologie eine der zentralen Disziplinen darstellt, wenn es darum geht, sich den Herausforderungen der COVID-19-Pandemie zu stellen und diese zu bewältigen.

Der Gastrointestinaltrakt wird infiziert:

Während man anfangs noch der Meinung war, dass eine COVID-19-Erkrankung für Gastroenterologen vorwiegend mit den hygienischen Herausforderungen einer Endoskopie einhergeht (Aerosolbildung, Mitarbeiterschutz), stellt sich mittlerweile heraus, dass auch im Gastrointestinaltrakt potenzielle Zielgewebe für SARS-CoV-2 zu finden sind. Die Erklärung hierfür liegt im SARS-CoV-Rezeptor ACE2 (Angiotensin konvertierendes Enzym 2), welcher von SARS-CoV-2 zum Eintritt in die Wirtszelle genutzt wird. ACE2 wird nicht nur in den Epithelzellen der Atemwege exprimiert, sondern auch in Zellen diverser Organe – so auch in den Enterozyten und Gallenwegen. Hieraus ist abzuleiten, weshalb die Magen-Darm-Symptomatik (Durchfall, Übelkeit, Erbrechen) bei einer COVID-19-Erkrankung durchaus eine große Rolle spielt. Interessant ist laut dem Experten die Beobachtung aus der klinischen Praxis, dass COVID-19-Patienten mit gastrointestinalen Symptomen in bis zu 30 % keine respiratorischen Symptome zeigten. Diese Erkenntnis führte letztlich dazu, dass auch bei der Triage und bei den diversen Gesundheitshotlines Patienten mit Fieber und gastrointestinalen Symptomen als potenzielle SARS-CoV-2-Infizierte berücksichtigt wurden. Fakt ist also, dass der Gastrointestinaltrakt, vor allem der Dünndarm, bei einer COVID-19-Erkrankung infiziert wird und SARS-CoV-2-Viren über den Stuhl ausgeschieden werden können. Was das für die Übertragungswege (z. B. durch Schmierinfektionen) bedeutet, ist noch nicht ganz klar, hier dürfte das Erbrechen wahrscheinlich eine größere Rolle spielen.

TMPRSS2:

Die im Atemtrakt vermehrt vorhandene und an Zelloberflächen exprimierte transmembrane Serinprotease 2 (TMPRSS2) begünstigt den Zelleintritt von SARS-CoV-2-Viren. TMPRSS2 ist vor allem in der Bauchspeicheldrüse sehr hoch exprimiert. Ein in Japan zugelassener TMPRSS2-Inhibitor (Camostat), der zur Behandlung einer chronischen Pankreatitis eingesetzt wird, wird aktuell in einer Studie als Behandlungsmöglichkeit für COVID-19 evaluiert. Auch Pankreatitiden wurden als GI-Manifestation von COVID-19 beschrieben und können Symptome wie Bauchschmerzen zum Teil erklären. Man erhofft sich, dass dieser Protease-Inhibitor die Eindringwahrscheinlichkeit von SARS-CoV-2 deutlich verringern könnte.

Erhöhte Leberwerte:

Bei 30–70 % der Patienten mit einer SARS-CoV-2-Infektion ist eine Erhöhung der Leberwerte zu beobachten. Die Ursachen hierfür können jedoch vielfältig sein. Leberwerterhöhungen können sowohl in Zusammenhang mit der Virusinfektion selbst stehen, andererseits werden bei der Behandlung von COVID-19 Medikamente (Virustatika, Zytokinantagonisten) eingesetzt, die im Rahmen eines DILI zu erhöhten Leberwerten führen können, da diese potenziell hepatotoxisch sind. Derzeit liegen noch keine evidenzbasierten Daten vor, dass eine direkte Infektion der Leber durch SARS-CoV-2 gegeben ist. Der Nachweis von SARS-CoV aus der Leber scheint jedoch bereits gelungen zu sein. Eine spannende Frage, die sich hierbei ergibt, ist, ob eine Infektion der Leber in die Galle und von dort auf den Darmtrakt übergreifen kann. Offen ist auch die Frage, ob erhöhte Leberwerte eine Begleitreaktion im Rahmen einer Entzündung (Zytokinsturm) sind oder ob es eine Begleithepatitis durch die SARS-CoV-Infektion ist. Ein weiteres Phänomen, welches bei COVID-19-Patienten zu beobachten ist, ist die hypoxische Hepatitis im Rahmen eines ARDS. Bei einer Hypoxie treten ebenfalls erhöhte Leberwerte auf. In diesem Zusammenhang stellt sich die interessante Frage, ob die Leber nicht nur „Opfer“ ist, sondern auch zum „Täter“ wird. Es verdichten sich die Hinweise, dass eine Leberbeteiligung bei COVID-19 prognostisch ungünstig ist (schwere Verläufe für die COVID-19-Erkrankung und für das akute Atemnotsyndrom [ARDS]). So ist beispielsweise aus der Sepsisforschung bekannt, dass die Leber, sofern beteiligt, bei einem Zytokinsturm relativ schnell zu einer wichtigen Drehscheibe wird. Dies äußerst sich als Ausdruck einer ausgeprägten negativen Akute-Phase-Reaktion in einem verminderten Albumin im Serum (welches bei ARDS auch in die Lunge verloren geht), möglicherweise könnte ein Ungleichgewicht der in der Leber gebildeten Gerinnungsfaktoren zu einer Hyperkoagulabilität beitragen. Die erhöhte Thromboseneigung ist ein Faktor, der bei einer COVID-19-Erkrankung nicht außer Acht gelassen werden darf. Die Gefahr geht nicht nur von Embolien aus, sondern sehr wahrscheinlich auch von Thrombosen, die sich aufgrund einer Kapillarschädigung in der Endstrombahn (vor allem in der Lunge) bilden und die sich dann in die größeren Gefäße ausweiten. Berichtet wurde bereits über Koronarthrombosen und Thrombosen im Lungenkreislauf – möglicherweise spielen auch in der Leber und im Darm wie in anderen Organsystemen Thromboseneigungen eine Rolle. Befinden sich COVID-19-Patienten in Heimquarantäne und weisen Fieber und Durchfall auf, ist bei Immobilität neben einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr auch an eine Thromboseprophylaxe zu denken.

Risikogruppen:

Patienten mit vorbestehenden Leber- und Magen-Darm-Erkrankungen (CED, chronisch entzündliche Darmerkrankungen), immunologischen Gallenwegserkrankungen wie PBC (primär biliäre Cholangitis) und PSC (primär sklerosierende Cholangitis) sowie Autoimmunhepatitis sind oftmals immunsupprimiert und zählen somit zur Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer SARS-CoV-Infektion. Das Gleiche gilt für Patienten nach Lebertransplantation. Überraschenderweise können immunsuppressive Medikamente aber auch protektiv gegen die heftige Immunreaktion/ den Zytokinsturm wirken. Auch Patienten mit Fettleber dürften aufgrund der metabolischen Komorbidität (Übergewicht, Diabetes mellitus, Hypertonie) zu dieser Risikopopulation gehören. Patienten mit dekompensierter Leberzirrhose, also Child-Pugh Stadium B oder C, oder mit hepatozellulärem Karzinom gehören ebenfalls zu diesen Risikopersonen. Eine große Herausforderung ist es, einerseits die Patienten durch Reduktion der Kontakte (Arztbesuch, Krankenhaus) zu schützen, andererseits aber auch die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten.

The new normal:

Prof. Trauner berichtet, dass der Betrieb auf der Ambulanz derzeit auf halber Kapazität läuft, hier ist die Warteraum- und Zutrittskapazität ins Krankenhaus unter den neuen Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen ein wesentlicher limitierender Faktor. Die Hälfte der Patienten wird derzeit telefonisch bzw. telemedizinisch betreut, die Stationen sind bereits wieder voll mit Non-COVID-19-Patienten ausgelastet. Die Ärzte sind derzeit noch in zwei sich abwechselnde Teams eingeteilt, um zu gewährleisten, dass ein Team nicht exponiert und potenziell jederzeit mobilisierbar ist. Diese Kohorten werden jedoch, sobald sicher ist, dass es im Rahmen der Lockerungen der Maßnahmen zu keiner zweiten Infektionswelle kommt, wieder aufgelöst. Termine wurden nicht nur proaktiv abgesagt, sondern die Patienten aktiv telefonisch kontaktiert und beraten. Mittels dieser telefonischen/telemedizinischen Betreuung (vom Homeoffice aus) konnte kurz- bis mittelfristig vieles gelöst werden. Die von der Bundesregierung verordneten Maßnahmen und die Reduktion der Patientenfrequenz im Spital sieht der Experte als eine sehr wichtige Maßnahme und spricht sogar davon, dass dies eines der Erfolgsrezepte war, die Pandemie in Österreich einzudämmen. „Indem vermieden wurde, dass die Spitäler zur unerwünschten Drehscheibe der SARS-CoV-2-Infektion werden, konnte eine Katastrophe, wie wir sie in Italien, Frankreich und Spanien mitverfolgt haben, vermieden werden“, weiß Trauner zu berichten. Es konnte viel Erfahrung gesammelt werden, wie mit der Erkrankung künftig umgegangen werden sollte. Laut Trauner wird dieses Vorgehen vermutlich wie beispielsweise bei multiresistenten Keimen sein (Einzelfälle isolieren).
Auch wenn die Erkrankung ansonsten nur wenig mit der Influenza gemeinsam hat, lassen sich auch hier die Erfahrungen in der Gestaltung von Stationsbereichen während der Grippewelle heranziehen.