Beim ESC-Kongress in München wurden die neuen gemeinsamen Hypertonie-Guidelines der European Society of Hypertension (ESH) und der European Society of Cardiology (ESC) im Detail präsentiert. Die Volltextversion ist seither online (escardio.org/Guidelines) erhältlich. Die im Herbst 2017 veröffentlichte US-Guideline hatte ja viel diskutierte und kritisierte Senkungen der Schwelle zur Diagnose Hypertonie (ab 130/80 mmHg Office-Blutdruck) und Senkungen der Therapieziele (< 130/80 mm Hg für die meisten Patientengruppen) propagiert, somit waren viele sehr gespannt auf die europäischen Empfehlungen. Erwartungsgemäß fielen die Änderungen geringer als bei den US-Empfehlungen aus. Aufgrund der Studienlage ist aber auch in Europa eine Tendenz zu niedrigeren Blutdruckzielwerten erkennbar.
Grundlage ist weiterhin der Office-Blutdruck. Optimaler Blutdruck ist nach wie vor mit < 120/< 80 mmHg definiert, normaler Blutdruck mit 120–129/80–84 mmHg, hochnormaler Blutdruck mit 130–139/85–89 mmHg. Die Schwelle zum Bluthochdruck bleibt 140/90 mmHg (Office-Blutdruck). Dies entspricht im 24-Stunden-Blutdruckmonitoring einem 24-Stunden-Durchschnitt von 130/80 mmHg, einem Tagesdurchschnitt von 135/85 mmHg und einem nächtlichen Durchschnitt von 120/70 mmHg, weiters einem Durchschnitt in der Blutdruckselbstmessung von 135/85 mmHg.
Obwohl die Einteilung in Blutdruck-Kategorien entsprechend dem Office-Blutdruck erfolgen soll, gibt es eine breite Palette an Indikationen für 24-Stunden-Blutdruckmonitoring und Blutdruckselbstmessung:
Bei Hypertonie bestehen häufig weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren. Die Einschätzung des kardiovaskulären Risikos wird mit den ESC-Präventionsguidelines harmonisiert und sollte mit dem SCORE-System erfolgen (Abb.). Zu der Liste der kardiovaskulären Risikofaktoren (z. B. Alter, Cholesterin, Rauchen etc.) wurden erhöhte Harnsäure, früher Beginn der Menopause, psychosoziale Faktoren und Ruhe-Herzfrequenz > 80/min addiert.
Das mittels SCORE ermittelte Risiko wird bei Vorliegen asymptomatischer hypertoniemediierter Organschäden (hypertension-mediated organ damage; HMOD) modifiziert. Diese sollten daher aktiv gesucht werden.
Hypertonievermittelte Organschäden (HMOD)
Als basale Screeningtests werden EKG, Harnteststreifen, Kreatinin und Fundoskopie (bei Grad-2- und -3-Hypertonie) empfohlen. Als weiterführende Untersuchungen werden Echo, Carotis-vertebralis-Duplex, abdominaler Ultraschall (Niere, abdominelle Aorta, Nebennieren, Nierenarterie), PWV, ABI, kognitive Tests (bei Symptomen) und CT/MRI des Gehirns (bei Symptomen) empfohlen.
Zu den etablierten kardiovaskulären Erkrankungen zählen neben den bekannten, wie zerebrovaskuläre Erkrankungen (Insult, intrazerebrale Blutung, TIA), koronare Herzerkrankung (Myokardinfarkt, Angina, Revaskularisierung) und periphere arterielle Verschlusserkrankung nun auch atheromatöse Plaques (Bildgebung), Herzinsuffizienz und Vorhofflimmern.
Generell wird dem globalen kardiovaskulären Risiko vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt. Daraus folgt z. B., dass bei Patienten mit mäßiggradig oder stark erhöhtem kardiovaskulärem Risiko die Indikation für eine Statintherapie sowie für eine Thrombozytenaggregationshemmung geprüft werden muss.
Als Basismaßnahme sind Lebensstilmaßnahmen (s. u.) immer empfehlenswert bzw. erforderlich.
Indikation für medikamentöse antihypertensive Therapie:
Indikation für medikamentöse antihypertensive Therapie im Alter:
Zur Erinnerung: In den Guidelines 2013 wurde < 140/90 mmHg unabhängig vom kardiovaskulären Risiko empfohlen bzw. 150–140/90 mmHg für Ältere.
Die neuen Empfehlungen, zusammengefasst in der Tabelle, resultieren aus der Abwägung folgender Studienergebnisse bzw. Meta-Analysen:
Die neue Empfehlung 2018 lautet:
SBP-Ziele bei besonderen Patientengruppen:
Eine medikamentöse Blutdrucksenkung unter 120/70 mmHg wird nicht empfohlen.
Zielwerte für Out-of-Office-Messungen sind weiterhin nicht evidenzbasiert verfügbar, eine randomisierte Outcome-Studie, basierend auf Out-of-Office-Blutdruckmessungen, ist erst im Laufen (MASTER-Studie). Ein Office-BD-Zielwert von 130 mmHg SBP dürfte etwa einem 24-Stunden-Durchschnitt von 125 mmHg und einem Durchschnitt in der Selbstmessung von < 130 mmHg entsprechen.
Lebensstilmaßnahmen können das Auftreten einer Hypertonie sowie die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie bei Grad-1-Hypertonie verhindern oder verzögern. Sie können die Effektivität einer medikamentösen Therapie steigern, sollten bzw. dürfen eine solche – wenn nötig – aber nicht verzögern.
Folgende Lebensstilmaßnahmen werden empfohlen:
Weniger als 50 % der behandelten Hypertoniker erreichen die Therapieziele. Unter einem Stufenschema bleiben viele Patienten bei der Monotherapie stehen („therapeutic inertia“). Initiale Kombinationstherapie führt zu rascher, effektiver, gut verträglicher Blutdruckkontrolle. Die Kombination mehrerer Wirkstoffe in einer Tablette („single-pill combination“) führt zu besserer Adhärenz.
Die neuen europäischen Hypertonie-Empfehlungen sind gut ausgewogen und durch Belassen der Definition für Hypertonie ab 140/90 mmHg etwas weniger „aggressiv“ (oder „konsequent“, je nach Standpunkt) als die US-amerikanischen. Da beide letztlich auf derselben Studienlage beruhen, ist eine Tendenz zu niedrigeren Zielwerten in beiden Empfehlungen erkennbar.
In Österreich haben wir schon lange eine Tradition in der Out-of-Office-Blutdruckmessung. In den neuen ESH/ESC-Guidelines wird nun erstmals die Möglichkeit der Diagnosestellung „Hypertonie“ mittels Out-of-Office-Blutdruckmessung (24-Stunden-Messung, Selbstmessung) anerkannt, dies ist aus unserer Sicht ein Schritt in die richtige Richtung.