Das akute Nierenversagen (ANV) ist durch eine abrupte Verschlechterung der Nierenfunktion charakterisiert und geht mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität einher. Die jährliche Inzidenz wird in Abhängigkeit von der Definition in britischen Studien mit etwa 500 Fällen pro Million Einwohner angegeben (Khan I. H. et al. 1997). Die Verwendung
einer Vielzahl unterschiedlicher Definitionen in der Vergangenheit erschwerte exakte
epidemiologische Aussagen ebenso wie die Interpretation und die Vergleichbarkeit von Interventionsstudien. Um eine einheitliche und allgemeingültige Definition zu implementieren, wurden daher von der Acute Dialysis Quality Initiative (ADQI) die RIFLEKriterien entwickelt (Bellomo R. et al., 2004) und diese vom Acute Kidney Injury Network (AKIN) 2007 modifiziert (Mehta R. L. et al., 2007).
Ein akutes Nierenversagen (ANV) besteht dem – nach bei:
Aktuell wird auch von der KDIGO-Arbeitsgruppe (Kidney Disease: Improving Global Outcomes) an einer neuen Klassifikation gearbeitet, die sich eng an die RIFLE- und AKIN-Kriterien anlehnen wird. Dabei sollen zusätzlich Definitionen zur Differenzierung zwischen “Acute Kidney Disease” (ACD) und “Chronic Kidney Disease” (CKD) eingeführt werden:
Der Anstieg des Serumkreatinins und der Rückgang der Harnproduktion bilden also weiterhin die Eckpfeiler aller aktuellen Definitionen des akuten Nierenversagens. Die Fokussierung auf den Kreatininwert ist jedoch mit einer Reihe von Einschränkungen behaftet, die eine Diagnosestellung in der klinischen Praxis deutlich erschweren:
Die oben erwähnten Schwächen des Kreatininwerts in der Diagnostik des ANV haben in jüngster Zeit zu einer intensiven Erforschung von Biomarkern geführt, die im Idealfall sowohl eine Früherkennung als auch eine prognostische Aussage ermöglichen sollten.
Der derzeit am häufigsten untersuchte Biomarker ist das Neutrophil Gelatinase-associated Lipocalin (NGAL). Dabei handelt es sich um ein 25-kD-Glykoprotein, das in Form eines Dimers von neutrophilen Granulozyen, als Monomer von renalen Tubulusepithelien im distalen Nephron gebildet wird. Zusätzlich produzieren praktisch alle Epithelzellen des Körpers NGAL. In einer Vielzahl von klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass ein Anstieg von Harn- und Plasma-NGAL bereits frühzeitig eine akute tubuläre (ischämische) Nierenschädigung anzeigt und einen prädiktiven Wert für die
Entwicklung eines akuten Nierenversagens besitzt (Haase M. et al., 2009). Harn-NGAL und Plasma-NGAL scheinen dabei nahezu dieselbe Aussagekraft zu besitzen.
Wert für Früherkennung, Prognose: Bei Patienten einer Notfallaufnahme konnte die Einmal-Bestimmung von NGAL aus dem Harn die Entwicklung eines ANV am Aufnahmetag vorhersagen und so Patienten mit einem erhöhten renalen Risiko
frühzeitig identifizieren (Nickolas T. L. et al., 2008). In einer Untersuchung an Kindern, die im Anschluss an eine Herzoperation ein ANV entwickelten, zeigte sich bereits 4 Stunden nach dem Operationsende ein maximaler NGAL-Anstieg im Harn, während das Serumkreatinin bei diesen Patienten erst mit einer Zeitverzögerung von 1-3 Tagen anstieg (Mishra J. et al., 2005). In einer Vielzahl von Studien konnte durch einen Anstieg von NGAL innerhalb weniger Stunden nach einem operativen Eingriff oder nach Aufnahme auf einer Intensivstation ein ANV vorhergesagt werden. Bei kardiologischen Intensivpatienten ergab selbst der isolierte Anstieg von NGAL ohne konsekutiven Kreatininanstieg ein schlechteres Outcome als bei jenen Patienten, bei denen NGAL und Kreatinin stabil blieben. Die Autoren der Studie interpretierten diesen Zustand als “subklinisches Nierenversagen”, bei dem die Empfindlichkeit von Kreatinin nicht ausreicht, um eine subtile, prognostisch jedoch bedeutsame Nierenschädigung zu erfassen. (Haase M. et al., 2011).
Wert für Differenzialdiagnose: Bei bereits manifestem akuten Nierenversagen scheint NGAL zudem ein differenzialdiagnostisches Potenzial zur Unterscheidung zwischen prärenalem und intrinsischem Nierenversagen zu besitzen, da nur bei letzterem ein signifikanter Anstieg von NGAL zu beobachten ist (Singer E. et al., 2011).
Mit zunehmender Studienzahl zeigt es sich, dass auch bei diesem Biomarker gewisse Einschränkungen zu berücksichtigen und noch einige Fragen ungeklärt sind. NGAL scheint bei Patienten mit Sepsis als Frühmarker für eine Nierenschädigung ungeeignet, da hier die gesteigerte Produktion von NGAL in Granulozyten eine Interpretation erschwert (Wheeler D. S. et al., 2008). Aus demselben Grund kann es auch bei Harnwegsinfektionen zu einer Fehlinterpretation von erhöhten NGAL-Werten kommen (Decavele A. S. et
al., 2011). Ebenso scheint sich eine vorbestehende chronische Niereninsuffizienz ungünstig auf die zeitliche Performance des Markers auszuwirken (McIlroy et al., 2010). In einer rezenten Arbeit wurde gezeigt, dass NGAL bei einer Baseline-eGFR < 60 ml/min erst zeitlich verzögert (nach mehr als 12 h) eine ausreichende Vorhersagekraft für die Entwicklung eines ANV ergab (Endre Z. H. et al., 2011). Auch die Einmal-Bestimmung von NGAL zur Abschätzung des renalen Risikos ist nicht unumstritten, da keine “Normwerte”
bekannt sind, NGAL in der Bevölkerung nicht normal verteilt ist und eine hohe interindividuelle Schwankungsbreite aufweist.
Als Einschränkung für alle derzeit untersuchten Biomarker gilt, dass ihre Vorhersagekraft hauptsächlich an Serumkreatinin gemessen wird, das aufgrund der oben erwähnten Limitationen keinen optimalen Vergleichsparameter darstellt, und es nach wie vor keinen “Goldstandard” in der Diagnose des ANV gibt.
Insgesamt scheint sich der Biomarker vor allem bei Patienten mit nur wenigen Komorbiditäten und einem klar definierten renalen Insult zu bewähren, was vor allem die guten Daten bei Kindern belegen.
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