Auch ist der Gedanke verführerisch, Betroffene über ihre Symptome und damit über ihre Krankheit(en) zu definieren, sodass mögliche gesunde Anteile in den Hintergrund der Wahrnehmung rücken. Aus systemischer Sicht sollte darauf geachtet werde, nicht Teil des Patientensystems zu werden und mögliche Identifikationen und Solidarisierungen zu vermeiden – nach dem Grundsatz: hilfreiche Nähe und heilsame Distanz, sodass der Blick für die gesamten Systemanteile offen bleibt. Ein aktives Zugehen auf Angehörige und sonstige Bezugspersonen scheint notwendig, da diese selten von sich aus um Unterstützung bitten, was häufig mit oft schon länger andauernden Betreuungsprozessen und einem damit einhergehenden “auf sich selbst vergessen” in Verbindung stehen dürfte.
Depressive Symptome kommen bei Palliativpatienten ca. 2-4-mal häufiger vor als in der Normalpopulation. Nach Kübler-Ross kann dies auch als notwendiger Adaptionsmechanismus an schwierige Situationen verstanden werden, wenngleich hier ein genaues diagnostisches und differenzialdiagnostisches Vorgehen (Anpassungsstörung im Sinne einer nicht-pathologischen psychischen Anpassungsleistung [F43.2x], [antizipatorische] Trauer, depressive Episode) zwecks adäquater Therapieplanung notwendig ist.
In einer Umfrage von Müller M. et al. (2010) wurde ein nicht erfüllter Anspruch der Palliativmedizin von professionellen Helfern als am belastendsten angegeben, wobei hier psychosoziale Punkte am häufigsten genannt wurden. Dies weist darauf hin, dass hier eine hohe Erwartungshaltung an Palliative Care zu bestehen scheint, was durchaus mit einer eigenen, vielleicht auch “idealisierten” Erwartung an ein besonders friedliches Sterben in Verbindung stehen kann. Die Autorinnen empfehlen daher in ihrer Studie, dass palliativmedizinische Teams die eigenen Ansprüche an die eigene Praxis thematisieren und gegebenenfalls relativieren sollten (Müller M. et al., 2010). Teams reagieren demnach auf hohe Belastungen am häufigsten mit “Überredseligkeit”, gefolgt von “Reizbarkeit” sowie “erhöhten Spannungen zwischen den Berufsgruppen”. Individuelle Belastungssymptome bei “so viel Tod” können sein: Abwehrstrategie in Form kühl-professioneller Zugewandtheit, Schuldgefühle wegen emotionaler Distanz, Verbrüderung und Verschwesterung mit Patienten (alles für sie tun), Ideologisierung der Hospiz- und Palliativarbeit, Liebäugeln mit Euthanasiegedanken, Spiritualisierung der Erlebnisse, extremes Sich-Versichern der eigenen Lebendigkeit, Ohnmacht und Überforderung, schwärzester Humor und Verlassen des Arbeitsplatzes (Müller M., 2007).
Positive Einflussgrößen: All die Schwierigkeiten, welche die Arbeit mit Sterbenden beinhalten kann, können positive Einflussgrößen mildern bzw. aufwiegen – wie eine neue Lebensphilosophie, wo Tod und Sterben Platz haben, das Ermöglichen von Sterben in Würde, der Anstoß zur Selbstreflexion und ein damit einhergehendes bewussteres und tieferes Leben sowie die persönliche Bereicherung von intensiven Begegnungen in Grenzsituationen, allerdings unter bestimmten Rahmenbedingungen wie ausreichenden zeitlichen und personelle Ressourcen, Interdisziplinarität im Sinne einer gelebten gegen – seitigen persönlichen und fachlichen Wertschätzung sowie die Möglichkeit der fachlichen und persönlichen Weiterbildung wie z.B. in Form von Lehrgängen und Supervision, um nur einige zu nennen.
Nach einem Vortrag im Rahmen des 3. Österreichischen interdisziplinären Palliativkongresses, 8.-10. Dezember 2011, Klagenfurt